Thursday, April 14, 2011

EuGH-Generalanwalt: Internetsperren unzulässiger Eingriff in Informationsfreiheit

In der beim EuGH anhängigen Rechtssache C-70/10 Scarlet Extended hat Generalanwalt Cruz Villalón heute die Schlussanträge erstattet (siehe auch die Presseaussendung; die Schlussanträge sind derzeit nur in französischer Sprache zugänglich). Hintergrund der Vorlagefragen des Brüsseler Appellationsgerichtshof ist ein Rechtsstreit zwischen der belgischen Urheberrechtsgesellschaft SABAM. Dabei wurde festgestellt, dass durch Kunden von Scarlet Extended Urheberrechtsverletzungen begangen worden waren; in der Folge wurde der ISP dazu verurteilt, unter Androhung eines Zwangsgelds innerhalb einer Frist von sechs Monaten diese Urheberrechtsverletzungen abzustellen, indem er es seinen Kunden unmöglich macht, in irgendeiner Form u. a. mit Hilfe eines Peer-to-Peer-Programms Dateien zu senden oder zu empfangen, die ein Musikwerk aus dem Repertoire von Sabam enthalten. Das Berufungsgericht legte (u.a.) folgende Vorlagefrage vor:
"Können die Mitgliedstaaten aufgrund der RL 2001/29 und 2004/48 in Verbindung mit den RL 95/46, 2000/31 und 2002/58, ausgelegt im Lichte der Art. 8 und 10 der EMRK, dem nationalen Richter erlauben, in einem Verfahren zur Hauptsache allein aufgrund der Vorschrift: 'Sie [die nationalen Gerichte] können ebenfalls eine Unterlassungsanordnung gegen Vermittler erlassen, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Rechte genutzt werden' gegen einen Anbieter von Internetzugangsdiensten die Anordnung zu erlassen, auf eigene Kosten ohne zeitliche Beschränkung für sämtliche Kunden generell und präventiv ein Filtersystem für alle eingehenden und ausgehenden elektronischen Nachrichten, die mittels seiner Dienste insbesondere unter Verwendung von Peer-to-Peer-Programmen durchgeleitet werden, einzurichten, um in seinem Netz den Austausch von Dateien zu identifizieren, die ein Werk der Musik, ein Filmwerk oder audiovisuelles Werk enthalten, an denen der Kläger Rechte zu haben behauptet, und dann die Übertragung dieser Werke entweder auf der Ebene des Abrufs oder bei der Übermittlung zu sperren?"
Generalanwalt Cruz Villalón, der sich vor kurzem auch in seinen Schlussanträgen in der (Asyl-)Sache Samba Diouf eingehend mit Rechtsschutzfragen im Lichte der Grundrechtecharta (und der EMRK) auseinandergesetzt hat, legt dar, dass die Anordnung die Form einer allgemeinen Verpflichtung hat, die im Lauf der Zeit dauerhaft auf alle Anbieter von Internetzugangsdiensten erstreckt werden kann, und die dauerhaft eine unbestimmte Zahl von juristischen und natürlichen Personen betrifft, ohne ihr vertragliches Verhältnis zum ISP oder ihren Wohnsitzstaat zu berücksichtigen. Die Maßnahme würde außerdem allgemein und präventiv angewandt, d. h. ohne vorherige Feststellung einer tatsächlichen Verletzung oder der Gefahr einer unmittelbaren Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums. Durch die Maßnahme wird dem ISP eine Erfolgsverpflichtung in Bezug auf den Schutz der von Sabam vertretenen Urheberrechte auferlegt. Da dem ISP auch die Kosten der Einrichtung des Filter- und Sperrsystems auferlegt werden, wird so die rechtliche und wirtschaftliche Verantwortlichkeit für den Kampf gegen das illegale Herunterladen von raubkopierten Werken im Internet mit Hilfe des einzurichtenden Systems weitgehend auf die Anbieter von Internetzugangsdiensten übertragen.

Generalanwalt Cruz Villalón sieht darin sowohl eine Einschränkung des Rechts auf Beachtung des Kommunikationsgeheimnisses und des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, als auch der Informationsfreiheit, die jeweils durch die Grundrechtecharta geschützt werden. Eine Beschränkung der Ausübung der in der Grundrechtecharta garantierten Rechte und Freiheiten muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, die zugänglich, klar und vorhersehbar ist. Das sei jedenfalls im Ausgangsfall nicht gegeben. Die Verpflichtung ist "nämlich zum einen sehr ungewöhnlich und zum anderen 'neu' und sogar unerwartet." [RNr. 105: "Ainsi que nous l’avons vu ci-dessus, dans la perspective de Scarlet et des FAI, l’obligation de mettre en place, à leurs seuls frais, un système de filtrage et de blocage tel que celui en cause est si caractérisée voire singulière, d’une part, et «nouvelle» voire inattendue, d’autre part, qu’elle ne saurait être admise qu’à la condition d’être prévue de façon expresse, préalable, claire et précise, dans une «loi» au sens de la charte."*] Außerdem sind weder das Filtersystem, das systematisch und umfassend, dauerhaft und beständig gelten soll, noch der Sperrmechanismus, der einsetzen kann, ohne dass die Möglichkeit vorgesehen ist, dass die betroffenen Personen dies anfechten oder sich dem widersetzen, mit hinreichenden Garantien ausgestattet.

Bemerkenswert sind aus meiner Sicht insbesondere die Ausführungen zur Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit nach Art 11 der Grundrechtecharta (RNr. 84 bis 86). Cruz Villalón betont unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR (Mouvement Raelien Suisse [Update 13.7.2011: die Angelegenheit wurde mittlerweile an die Große Kammer verwiesen], Akdas, Willem), dass Art 11 "evidemment" auf das Internet anwendbar ist und Internetseiten wegen ihrer Zugänglichkeit und ihrer Fähigkeit, Informationen in großem Umfang zu bewahren und zu verteilen, in großem Ausmaß den Zugang der Öffentlichkeit zu Nachrichten verbessern und ganz allgemein Kommunikation und Information erleichtern können (Hinweis auf EGMR, Times Newspapers 1 und 2). Wie auch immer das Filter- und Sperrsystem ausgestaltet sein mag, es könne jedenfalls wenig Zweifel daran geben, dass es einen Eingriff in die Informationsfreiheit darstellt. So weit man dies beurteilen könne, so der Generalanwalt, scheine kein System von Internetfiltern und Internetsperren in einer den Anforderungen der Art. 11 und 52 Abs 1 der Grundrechtecharta gerecht werdenden Weise garantieren zu können, dass ausschließlich spezifisch unzulässige Inhalte blockiert werden ("Pour autant que l’on puisse en juger, aucun système de filtrage et de blocage ne semble en mesure de garantir, d’une manière qui soit compatible avec les exigences des articles 11 et 52, paragraphe 1, de la charte, le blocage des seuls échanges spécifiquement identifiables comme illicites."**)

PS: Das Thema "kino.to & Co - Die urheberrechtliche Verantwortlichkeit von Access-Providern" kann man übrigens bei einer Veranstaltung des Rechtsforums Infolaw an der Wirtschaftuniversität Wien am 5. Mai 2011 um 18:30 u.a. mit Andreas Manak, Anwalt des "Vereins für Anti-Piraterie der Film- und Videobranche diskutieren.

*)  Update 23.11.2011: in der mittlerweile verfügbaren deutschen Sprachfassung heißt es: "Wie wir gesehen haben, ist aus dem Blickwinkel von Scarlet und der Provider die Verpflichtung, auf eigene Kosten ein Filter- und Sperrsystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende einzurichten, zum einen so eigen-, ja einzigartig, zum anderen 'neu', ja unerwartet, dass sie nur zulässig sein kann, wenn sie im Voraus ausdrücklich, klar und genau in einem 'Gesetz' im Sinne der Charta vorgesehen gewesen ist."
**) deutsch nunmehr: "Soweit ersichtlich, ist offenbar kein Filter- und Sperrsystem imstande, auf eine den Anforderungen von Art. 11 und Art. 52 Abs. 1 der Charta entsprechende Weise zu gewährleisten, dass nur diejenigen Datenaustauschvorgänge gesperrt werden, bei denen konkret festgestellt werden kann, dass sie unzulässig sind."

No comments :