Der vom EGMR mit Urteil vom 12. April 2011 entschiedene Fall Conceição Letria gegen Portugal (Appl. no. 4049/08) nimmt seinen Ausgang bei einem tragischen Ereignis: Beim Einsturz einer Brücke bei Castelo de Paiva in Portugal kommen am 6. März 2001 59 Menschen ums Leben. Bei der Erforschung der Ursachen für den Einsturz prüft eine parlamentarische Kommission auch die - möglicherweise illegale - Sandgewinnung durch mehrere Gesellschaften in der Nähe der Brücke. Befragt zu Genehmigungen für diese Sandgewinnung gibt der Präfekt der Region und frühere Bürgermeister von Castelo de Paiva an, sich nicht an solche erinnern zu können. In der Folge werden ihm von einigen Abgeordneten jedoch von ihm unterschriebene Dokumente vorgehalten, die - wie es der EGMR vorsichtig ausdrückt - widerprüchlich zu den Aussagen vor der Untersuchungskommission erscheinen könnten.
Der bekannte Journalist Joaquim Letria veröffentlicht daraufhin in der Tageszeitung 24 Horas einen Artikel mit der Überschrift "Risiko und aldrabão"; das Wort aldrabão hat laut EGMR keine Entsprechung im Französischen (der Urteilssprache), es bezeichnet aber jemanden, der lügt oder Dinge erfindet, um seinen Gesprächspartner zu täuschen, und kann am ehesten als "bonimenteur" (Marktschreier) übersetzt werden. Im Artikel wird der Präfekt ausdrücklich als aldrabão bezeichnet; am Ende des Artikels heißt es (grob übersetezt): "Wie leicht ist es in diesem Land, das Parlament anzulügen, mit welcher Dreistigkeit kann man das Land täuschen."
Der so angegriffene Präfekt stellte Strafantrag und der Journalist wurde wegen schwerer Verleumdung zu einer Geldstrafe von 310 Tagessätzen (4.650 €) sowie zum Schadenersatz (6.500 €) verurteilt.
Vor dem - vom verurteilten Journalisten angerufenen - EGMR war nicht strittig, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung vorlag, dass dieser Eingriff eine gesetzliche Grundlage hatte und ein legitimes Ziel - den Schutz des guten Rufs anderer - verfolgte. Unter Hinweis insbesondere auf das Grundsatzurteil Oberschlick gegen Österreich (Nr. 2), dem der vorliegende Fall ähnlich sei, hält der EGMR wiederum fest, dass die Grenzen zulässiger Kritik an einem Politiker in dessen öffentlicher Funktion weiter sind als bei einer Privatperson. Der Begriff aldrabão ist, so der EGMR, als Werturteil zu beurteilen, das auf Zeitungsberichten beruhte, in denen Widersprüche in den Aussagen des Präfekten aufgezeigt worden waren. Auch wenn die Kritik schwerwiegend war, musste sie der Präfekt im Interesse einer Debatte von Fragen des öffentlichen Interesses hinnehmen. Schließlich sei auch die verhängte Strafe unangemessen. Der EGMR stellte daher einstimmig eine Verletzung des Art 10 EMRK durch Portugal fest.
Und so lernt man bei der Lektüre von EGMR-Urteilen immer wieder neue Wörter kennen, durch die sich irgendwo in Europa jemand beleidigt fühlt: Nicht-Deutschsprachige erfuhren im zitierten Fall Oberschlick Nr. 2 ("Ich werde Jörg Haider erstens keinen Nazi nennen, sondern zweitens einen Trottel"), dass das österreichische "Trottel" als (englisch) "idiot" oder (französisch) "imbecile" zu übersetzen und manchmal von Politikern hinzunehmen ist, im Fall Katrami habe ich das schöne griechische Wort "karagiozis" kennen gelernt, und nun weiß ich auch, was man zu portugiesischen Politikern jedenfalls nur dann sagen sollte, wenn man ihnen gewisse Widersprüche vorhalten kann: aldrabão.
Thursday, April 14, 2011
EGMR: Politiker, der sich in Widersprüche verstrickt, kann als Marktschreier bezeichnet werden
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