- Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verkündete in der vergangenen Woche drei Urteile in Verfahren, in denen die Beschwerdeführer eine Verletzung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK geltend gemacht hatten - und in keinem der drei Fälle kam es zu einer Verurteilung der betroffenen Mitgliedstaaten (Portugal, Deutschland, Schweiz). Zum Fall Barata Monteiro da Costa Nogueira und Patrício Pereira gegen Portugal (Application no. 4035/08) habe ich schon gesondert berichtet (hier); die beiden weiteren Fälle habe ich bislang nur in meiner Übersicht erwähnt (und auf Twitter, falls mir dort jemand folgen will: @hplehofer):
- Im Fall Hoffer und Annen gegen Deutschland (Appl. nos. 397/07, 2322/07) ging es um die Verurteilung militanter Abtreibungsgegner, die vor einer (Abtreibungs-)Klinik Folder verteilt hatten, in denen ein namentlich genannter Arzt als "Tötungsspezialist" für ungeborene Kinder bezeichnet und die Vorname von Abtreibungen mit dem Holocaust verglichen wurde ("damals: Holocaust heute: Babycaust"). Der EGMR berücksichtigte ausdrücklich, dass die Auswirkungen einer Meinungsäußerung auf die Persönlichkeitsrechte anderer nicht vom historischen und sozialen Kontext der Äußerung getrennt werden können und dass die Bezugnahme auf den Holocaust im spezifischen Kontext der deutschen Vergangenheit zu sehen ist. Durch die Verurteilung zu einre geringen Geldstrafe waren die Abtreibungsgegner daher nicht in ihren Rechten nach Art 10 EMRK verletzt (wegen langer Verfahrensdauer vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht wurde aber eine Verletzung des Art 6 EMRK festgestellt).
- Während das Urteil im Fall Hoffer und Annen einmstimig erging, wurde im Urteil Mouvement Raelien Suisse gegen Schweiz (Appl. no. 16354/06) eine 5:2 Entscheidung getroffen. Die "Raelische Bewegung" hatte sich gegen das Verbot ihrer Plakatkampagne im öffentlichen Raum beschwert; die Plakate waren für sich eher harmlos bis skurril (es wurde eine Botschaft von Außerirdischen angekündigt und die URL der Website angegeben; außerdem gab es unter anderem Gesichter von Außerirdischen und eine fliegende Untertasse zu sehen). Die Plakataktion war allerdings deshalb untersagt worden, weil die Website der Bewegung "Geniokratie" (eine politische Ordnung auf der Grundlage eines Intelligenzquotienten) und Klonen fördern wollte und (nach einer gerichtlichen Entscheidung) "theoretisch" auch Pädophilie und Inzest befürwortete; schließlich bot eine Website, die von der angegebenen Seite aus verlinkt wurde, bestimmte Dienstleistungen im Bereich des Klonens und der Eugenik an, was diskriminierend und in der Schweiz gesetzwidrig war. Der EGMR fand keine Verletzung des Art 10 EMRK. In ihrer abweichenden Meinung hielten Kammerpräsident Rozakis und Richterin Vajić fest, dass es in unseren Tagen angesichts der Bedeutung solcher Kommunikationsformen wie des Internet schwer zu verstehen scheint, dass eine legale Vereinigung nicht den öffentlichen Raum nützen kann, um auf ihre ebensowenig verbotene Website hinzuweisen. Update 13.7.2011: der Fall wurde auf Antrag der Beschwerdeführerin mit Beschluss vom 20.6.2011 an die Große Kammer verwiesen.
- Das deutsche Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Durchsuchung von Geschäftsräumen eines Rundfunksenders und Sicherstellung seiner Redaktionsunterlagen eine "übermäßige Beeinträchtigung der Rundfunkfreiheit" ist: Pressemitteilung vom 5.1.2011, Beschluss 1 BvR 1739/04, Beschluss 1 BvR 2020/04 (jeweils vom 10.12.2010) (siehe dazu auch eine Zusammenfassung von Martin W. Huff)
- Schon etwas älter, aber noch nicht so lang im Volltext verfügbar: das deutsche Bundesverwaltungsgericht zur Rundfunkgebühr für internetfähige PC: 20.10.2010, 6 C 12.09
- Wieder ein paar lesenswerte Beiträge in Sachen Netzneutralität: Joss Wright (Guardian), John Naughton (Guardian), Rob Frieden, New, Old and Forgotten Frames in the Network Neutrality Debate und ebenfalls von Frieden ein Summary der FCC order
- Maurice E. Stucke / Allen P. Grunes, Why More Antitrust Immunity for the Media Is a Bad Idea
- Eine interessante Entscheidung hat die belgische Regulierungsbehörde zur Öffnung des Kabelmarkts getroffen (noch in Konsultation: CSA-Pressemitteilung; Konsultation; (Informationen dazu in engliischer Sprache hier bei T-Regs)
- Bis 4.1.2011 hat es gedauert, bis der Beschluss der Kommission vom 20. Juli 2010 über die staatliche Beihilfe C 38/09 (ex NN 58/09), deren Gewährung Spanien zugunsten der spanischen Rundfunk- und Fernsehanstalt „Corporación de Radio y Televisión Española“ (RTVE) plant im Amtsblatt veröfentlicht wurde; dass nach diesem Beschluss die Beihilfenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Spanien mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, heißt noch nicht, dass die Kommission auch die Mittelaufbringung durch eine Abgabe auf Kommunikationsnetzbetreiber akzeptiert (das Vertragsverletzungsverfahren - siehe dazu hier - ist noch anhängig), Update 31.01.2011: Eine Klage gegen den Beschluss der Kommission ist beim EuG anhängig: T-533/10 DTS/Kommission; update 17.05.2011: eine weitere Klage dagegen: T-151/11);
- Mitteilung der Kommission — Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit
- ENISA, die Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit, war beim letzten Review des Telekom-Rechtsrahmens schon von Auflösung bedroht und sollte mit der damals geplanten "Superagency" der EU in Sachen Telekomregulierung zusammengeführt werden. Daraus ist nichts geworden, denn einerseits sollte es schließlich doch keine Superagency werden, sondern ein eher zahnloses Gremium, und andererseits wollte sich Griechenland die Agentur mit ihrem Sitz auf dem sonnigen Kreta nicht wegnehmen lassen (und da die neuen Mitgliedstaaten auch neue EU-Einrichtungen brauchten, dürfen die Telekom-Regulierer sich nun im ebenfalls schönen, aber doch deutlich kälteren Riga treffen). Dass ENISA aufgelöst werden sollte, hat die Agentur aber offenbar angespornt, auch ein wenig öffentlichkeitswirksamere Publikationen herauszubringen: Shop safely online ist eine Broschüre für Konsumenten und Händler, die online ein- bzw verkaufen wollen; der Bericht data breach notifications in the EU ist eine knappe, aber durchaus brauchbare Zusammenstellung vor dem Hintergrund der bis 25. Mai 2011 anstehenden Umsetzung der neuen Richtlinienvorschriften zu diesem Thema.
Sunday, January 16, 2011
Vermischte Lesehinweise (24): EGMR, BVerfG, ENISA etc.
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