In Fall Reinboth und andere geht es sozusagen um eine Meta-Frage: ist eine Verurteilung wegen Verletzung der Privatsphäre durch einen Bericht über einen Prozess wegen Verletzung der Privatsphäre ein unzulässiger Eingriff in die freie Meinungsäußerung? Die Frage wird relativ einfach, wenn man die Zusatzinformation hat, dass die wegen Verletzung der Privatsphäre erfolgte Verurteilung in jenem Prozess, über den berichtet wurde, bereits - im EGMR-Urteil Saaristo - als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt wurde.
Etwas weniger abstrakt: Wegen der Veröffentlichung privater Umstände (im Wesentlichen über eine Beziehung zwischen der Kommunikationsverantwortlichen [O.T.] eines Kandidaten für das Präsidentenamt mit eben diesem Kandidaten) wurde ein Strafverfahren gegen Journalisten der Zeitung Ilta-Sanomat geführt, in dem diese auch verurteilt wurden (was schließlich vom Obersten Gerichtshof Finnlands bestätigt wurde). Über den erstinstanzlichen Prozess - zwei Jahre nach Veröffentlichung des Artikels in Ilta-Sanomat - berichtete Frau Reinboth in der Tageszeitung Helsingin Sanomat und verfasste einige Tage später dazu - diesmal ohne namentliche Nennung der Betroffenen - eine Kolumne mit mit rechtspolitischen Überlegungen zu Fragen der Verletzung der Privatsphäre. Über Antrag von O.T. wurde in der Folge ein Strafverfahren gegen Reinboth und den Chefredakteur der Helsingin Sanomat eingeleitet. Das Gericht kam zum Ergebnis, dass es angesichts der seit dem Vorfall verstrichenen Zeit keinen Grund gegeben habe, den Namen von O.T. zu veröffentlichen, und verurteilte Reinboth und ihren Chefredakteur zu Geldstrafen von € 740 bzw. € 1.140. Die Entscheidung wurde in allen Instanzen bestätigt.
Vor dem Hintergrund des erwähnten Urteils Saaristo, in dem der EGMR die Verurteilung der Journalisten der Ilta-Sanomat (sozusagen im Ausgangsfall des nun entschiedenen Rechtsstreits) als Eingriff in Art 10 EMRK beurteilt hat, ist es wenig überraschend, dass auch die Verurteilung der nunmehr beschwerdeführenden JournalistInnen der Helsingin Sanomat (einstimmig) als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt wurde. Der EGMR hielt fest, dass der Artikel die Tatsachen objektiv berichtete und die enthaltene Information bereits aufgrund der früheren Publikation in der Ilta-Sanomat bekannt war; der einzige Unterschied bestand im Zeitpunkt der Veröffentlichung. Der EGMR fand es diesbezüglich von Bedeutung, dass der Bericht auf ein Gerichtsverfahren gestützt und das Urteil öffentlich war; auch kamen durch den Bericht keine bis dahin noch nicht bekannten vertraulichen Informationen ans Licht. Die Verurteilung erwies sich daher nicht als "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" und unverhältnismäßig.
Eine juristisch spannendere Frage wurde auf der vorangehenden Prüfungsstufe angesprochen: war der Eingriff überhaupt duch Gesetz vorgesehen? Hier stand zwar außer Streit, dass es im Strafgesetzbuch eine (allgemeine) gesetzliche Grundlage gab, die Beschwerdeführer machten aber geltend, dass die gerichtlichen Entscheidungen nicht vorhersehbar gewesen seien. Der EGMR verwies dazu zunächst auf seine Sunday Times-Rechtsprechung; demnach muss der Einzelne, falls nötig mit entsprechender Beratung, die Konsequenzen seiner Handlungen in einem nach den Umständen angemessenen Grad vorhersehen können. Im konkreten Fall habe es zum Veröffentlichungszeitpunkt fünf oberstgerichtliche Entscheidungen zur Auslegung der relevanten Strafnorm gegeben, die verschiedene Aspekte des Privatlebens betrafen; die Möglichkeit einer Sanktion für einen Eingriff in die Privatsphäre aufgrund der gegenständlichen Veröffentlichung sei daher "nicht unvorhersehbar" gewesen. Hätten die JournalistInnen Zweifel über die Zulässigkeit der gehabt, hätten sie Rat einholen oder die namentliche Nennung von O.T. unterlassen können. Daran anschließend folgt ein meines Erachtens doch überraschender Satz, in dem eher en passant eine Art erhöhter Sorgfaltspflicht für Journalisten aufgrund eigener berufsethischer Kodizes bzw der Praxis einer Selbstregulierungseinrichtung anklingt:
"Moreover, the applicants, who were professional journalists, could not claim to be ignorant of the content of the said provision since the Guidelines for Journalists and the practice of the Council for Mass Media, although not binding, provided even more strict rules than the Penal Code provision in question."Ob aber aus dem Umstand, dass Selbstregulierungs-Leitlinien und Veröffentlichungen der Selbstregulierungseinrichtung strengere Richtlinien für den Umgang mit der Privasphäre vorsehen, wirklich erschließbar ist, dass Journalisten Kenntnis der gesetzlichen Strafnorm (in der ihr durch die Spruchpraxis des Obersten Gerichtshofs gegebenen inhaltlichen Ausprägung) haben müssen, scheint mir durchaus fraglich.
Andererseits: die Sorge vor allzu hohen Berufsstandards für Journalisten wäre wenigstens ein nachvollziehbarer Grund dafür, dass der österreichische Presserat sich als Grundlage für seine Entscheidungen weiterhin mit einer "Ansammlung von mehr oder weniger pathetisch formulierten Gemeinplätzen ohne regulierende Kraft" (copyright Walter Berka), aka Ehrenkodex für die Österreichische Presse, begnügt.
PS: eine weitere Verurteilung in einer Art 10 EMRK-Sache gabe es heute für die Türkei im Fall Mentes (No. 2); hier ging es um die Verurteilung einer kurdischen Aktivistin, die anlässlich einer Demonstration gehindert worden war, eine Presseerklärung zu verlesen.
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