Tuesday, January 11, 2011

Gegenwind zur Meinungsfreiheit? EGMR zu politischer Pressekonferenz über Strafanzeige

Der EGMR hatte sich in seinem heute verkündeten Urteil im Fall Barata Monteiro da Costa Nogueira und Patrício Pereira gegen Portugal (Application no. 4035/08) mit einer im politischen Geschehen auch in Österreich nicht ganz unbekannten Situation auseinanderzusetzen: einer Pressekonferenz, in der über eine gegen einen politischen Gegner eingebrachte Strafanzeige berichtet wird - wobei sich die Strafanzeige letztlich als unbegründet herausstellt. Der Gerichtshof zeigte sich gespalten, mit der knappen Mehrheit von 4:3 kam er zum Ergebnis, dass in der Verurteilung der Politiker, die die (nicht belegten und nicht erweisbaren) Vorwürfe öffentlich gemacht hatten, kein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung gelegen war. Das abweichende Votum (dazu unten) ist wieder einmal spannender als die Mehrheitsmeinung.

Zum Sachverhalt: Eine Politikerin des portugiesischen Linksblocks und ein Anwalt dieser Partei hatten in einer zu diesem Zweck einberufenen Pressekonferenz einen Arzt und politischen Gegner beschuldigt, er habe seinen Einfluss in einer öffentlichen Krankenanstalt dafür genutzt, die dortige Augenheilkunde-Abteilung verkommen zu lassen und auf diese Weise Patienten (und auch klinisches Material) zu einer Klinik gebracht, an der er beteiligt gewesen sei. Die von der Politikerin und dem Anwalt eingebrachte Strafanzeige, über die sie bei der Pressekonferenz berichtet hatten, wurde in der Folge nicht weiter verfolgt, es kam zu keinem Strafverfolgung gegen den Arzt. Dieser brachte aber seinerseits einen Strafantrag wegen Verleumdung (diffamation) ein und gewann schließlich in zweiter Instanz. Die "exceptio veritatis" sei nicht erfüllt worden; es habe vielmehr keine Anzeichen dafür gegeben, dass der Arzt die ihm vorgeworfenen Handlungen begangen hatte. Die Politikerin und der Anwalt wurden jeweils zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 10 € verurteilt - und erhoben Beschwerde vor dem EGMR.

Dass ein Eingriff vorlag, dass dieser gesetzlich vorgesehen war, und dass er schließlich einem legitimen Ziel (Schutz des guten Rufs Anderer) diente, war unstrittig; zu prüfen verblieb nur, ob der konkrete Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der EGMR betont dazu zunächst einmal, dass es sich bei den Beschwerdeführern nicht um Journalisten handelt, sondern um politische Gegner, die auf klarer Faktengrundlage dafür verurteilt wurden, dass sie die Öffentlichkeit aus Gründen ihres politischen Vorteils glauben machen wollten, der politische Gegner habe sich eines schweren, gerichtlich strafbaren Machtmissbrauchs schuldig gemacht (Rz 35 des Urteils). Auch wenn man berücksichtigt, dass es sich um eine Debatte von öffentlichem Interesse handeln könnte, steht doch fest, dass dem Arzt konkretes strafrechtswidriges Handeln vorgeworfen und damit eine (als unzutreffend erwiesene) Tatsache behauptet (und kein bloßes Werturteil abgegeben) wurde. Der EGMR berücksichtigte auch, dass die Vorwürfe gravierend waren: je schwerer die Anschuldigung, desto besser müsste die Tatsachengrundlage sein ("Or plus l'allégation est sérieuse, plus la base factuelle doit être solide"). 

Die Kammervorsitzende Tulkens (Belgien) sowie die Richter Popović (Serbien) und Sajó (Hungary) stimmten gegen die Mehrheit. Sie setzen sich in ihrer abweichenden Meinung insbesondere damit auseinander, dass die Beschwerdeführer in erster Instanz freigesprochen worden waren, und dass nach dem Urteil des Erstgerichts alle Umstände des Falles darauf hingewiesen hätten, dass der Arzt tatsächlich für den größten Teil der Fakten, derer er beschuldigt wurde, verantwortlich gewesen sei. Die Behauptung der Mehrheit, die Fakten seien einwandfrei festgestellt worden, wird von der Minderheit in Zweifel gezogen: "Les faits étaient-ils établis? La réponse est pour le moins incertaine." Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft letztlich keinen Grund für eine Strafverfolgung sah, reiche noch nicht aus, um den Beschwerdeführern Bösgläubigkeit vorzuwerfen. Schließlich sei selbst wenn die Fakten tatsächlich eindeutig wären eine strafrechtliche Verurteilung nicht erforderlich; die in der Minderheit gebliebenen Richter verweisen dazu auf die Bemühungen politischer Gremien des Europarats, die Verleumdung zu entkriminalisieren. Die abweichende Meinung schließt mit einem bemerkenswerten Plädoyer: 
"Au moment où les vents sont contraires, nous pensons que notre Cour doit plus que jamais renforcer la liberté d'expression qui, loin de constituer une protection ou un privilège, est un des éléments clés de la démocratie."
(grob übersetzt: Gerade in einem Zeitpunkt, in dem es Gegenwind gibt, glauben wir, dass unser Gerichtshof mehr als je zuvor die Freiheit der Meinungsäußerung stärken muss, die keineswegs ein Privileg ist, sondern ein Schlüsselement der Demokratie.)
Man soll nationale Zuordnungen bei den Richtern des EGMR nicht überinterpretieren; aber in diesen Tagen muss man doch anmerken, dass András Sajó, der ungarische Richter, diese Minderheitsmeinung mitverfasst hat. Und man kann gespannt sein, ob die Große Kammer mit dieser Sache befasst wird (Update 2.8.2011: das Urteil ist endgültig, die große Kammer wurde nicht befasst).

Update 26.08.2012: Einen interessanten Beitrag zur abweichenden Meinung der Kammervorsitzenden Tulkens in diesem Fall verfasste Dirk Voorhoof auf Strasbourg Observers: Tulkens on the barricades of freedom of expression and information.

No comments :