Thursday, April 03, 2025

EuGH-Generalanwalt: Sendestopp für Klubrádió verletzte Unionsrecht

Vor mehr als vier Jahren musste Klubrádió, der letzte relevante unabhängige und auch regierungskritische Radiosender in Ungarn, seinen Sendebetrieb auf UKW einstellen. Der Orbán-treue Medienrat stützte sich dabei auf zwei kleinere Verstöße gegen Meldepflichten und als unklar oder widersprüchlich angesehene Angaben im Verlängerungsantrag, die nationalen Gerichte bestätigten dieses bürokratische Vorgehen (siehe die Pressemitteilung des Medienrats vom 9. Februar 2021). 

Für unabhängige Beobachter war allerdings klar, dass es hier um die Einschränkung der Medienfreiheit ging - detailliert auch nachzulesen im "Memorandum on freedom of expression and media freedom in Hungary" der Menschenrechtskommissarin des Europarats, das kurz nach dem (UKW-)Sendestopp von Klubrádió veröffentlicht wurde und maßgeblich auch diese Ereignisse kritisch bewertet. Auch der Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU-Kommission für 2021 hielt im Ungarn-Kapitel fest, dass der Medienpluralismus "weiterhin gefährdet" ist und Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit und Wirksamkeit der Medienbehörde bestehen, "auch angesichts der Entscheidungen des Medienrats, die dazu führten, dass der unabhängige Radiosender Klubrádió abgeschaltet wurde." 

Vor diesem Hintergrund hat die Kommission etwas Ungewöhnliches getan: sie hat drei Entscheidungen des ungarischen Medienrates, die zum Sendestopp für Klubrádió führten, zum Anlass genommen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten, und zwar wegen der Verletzung von Regeln über die Frequenzvergabe in den Rechtsvorschriften für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste. 

Das war ungewöhnlich in zweierlei Hinsicht: erstens, weil in der Regel nicht einzelne behördliche oder gerichtliche Entscheidungen zum Anlass für ein Vertragsverletzungsverfahren genommen werden (sondern Rechtsvorschriften oder zumindest eine länger währende behördliche oder gerichtliche Entscheidungspraxis), und zweitens, weil hier eher technisch ausgerichtete Normen über die Frequenzvergabe genutzt wurden, um der Sache nach ein medienpolitisches Fehlverhalten anzugreifen.

Heute hat Generalanwalt Rantos in diesem, mittlerweile beim EuGH anhängigen Verfahren (C-92/23 Kommission / Ungarn) seine Schlussanträge erstattet (siehe auch die Pressemitteilung des EuGH dazu). Er kommt zum Ergebnis, dass Ungarn durch die Weigerung. die Lizenz von Klubrádió zu verlängern und durch den Ausschluss dieses Senders von einer weiteren Ausschreibung gegen Unionsrecht verstoßen hat. Es bleibt natürlich abzuwarten, ob sich der EuGH diesen Schlussanträgen anschließen wird, aber vielleicht lohnt sich ein erster Blick auf diesen Entscheidungsvorschlag des Generalanwalts.

1. Zur Anwendbarkeit des Unionsrechts 

Ungarn hat vorgebracht, dass der Rechtsrahmen für elektronische Kommunikation nicht auf die Klubrádió-Entscheidungen anwendbar sei, weil es um die Erbringung von Mediendiensten geht, die ausschließlich durch das nationale Mediengesetz geregelt sei. Die Nutzung der Frequenzen sei eine gesonderte Verwaltungsentscheidung. 

Der Generalanwalt votiert das knapp und deutlich ab: auch wenn es bei der Lizenzvergabe (Vergabe des Rechts zur Erbringung von Mediendiensten) um Inhalte geht, so schließt dieses Recht auch das Recht auf Nutzung von Funkfrequenzen ein. 

Der neue europäische Kodex für elektronische Kommunikation (EKEK) ist für den vorliegenden Fall aus zeitlichen Gründen noch nicht relevant. Der Generalanwalt hält aber fest (Rn. 37), dass die Verpflichtungen aus Art. 45 Abs. 1 des EKEK den in Art. 9 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie festgelegten Verpflichtungen gleichwertig sind, "da beide Bestimmungen u. a. die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsehen, zu gewährleisten, dass die Zuteilung von Funkfrequenzen für elektronische Kommunikationsdienste auf transparenten und angemessenen Kriterien beruht." 

Daher das erste Fazit: auch für die Vergabe von Hörfunk oder Fernseh-Zulassungen, die mit der Nutzung von Funkfrequenzen verbunden sind, sind die Bestimmungen (nun) des EKEK relevant, wonach die "Gewährung von individuellen Nutzungsrechten für Funkfrequenzen ... auf objektiven, transparenten, wettbewerbsfördernden, nichtdiskriminierenden und angemessenen Kriterien beruhen" muss bzw "die individuellen Rechte zur Nutzung von Funkfrequenzen nach offenen, objektiven, transparenten, nichtdiskriminierenden und verhältnismäßigen Verfahren" gewährt werden.

2. Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die verweigerte Verlängerung der Lizenz

Generalanwalt Rantos verweist im Hinblick auf die Ablehnung der Verlängerung der Klubrádió-Lizenz zunächst darauf, dass die für die erstmalige Frequenzvergabe maßgeblichen Kriterien auch bei jeder Verlängerung zu beachten sind. Eine Verlängerung muss zwar nicht zwingend vorgesehen sein oder könnte auch ab einem bestimmten Zeitpunkt an neue Regeln gebunden werden, dies war aber bei Klubrádió nicht der Fall. 

Die Klubrádió vorgeworfenen wiederholten Verstöße (der Sender hatte zweimal gegen die Verpflichtung verstoßen, den monatlichen Bericht über die Sendequoten abzuliefern und die dafür erhaltenen Strafen von jeweils rund 75 € nicht bekämpft), sind nach Ansicht des Generalanwalts im vorliegenden Fall nicht so schwerwiegend, dass der Ausschluss der Verlängerung der Lizenz damit zu begründen sei (Rn. 52). 

Die Bestimmung an sich, wonach eine Verlängerung nach wiederholten Verstößen ausgeschlossen ist, verstößt nach Ansicht des Generalanwalts aber nicht gegen die von der Kommission geltend gemachten Bestimmungen der RahmenRL, GenehmigungsRL oder WettbewerbsRL

3. Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Ungültigerklärung der Bewerbung bei einer weiteren Ausschreibung

Nachdem die Lizenzverlängerung abgelehnt worden war, beteiligte sich Klubrádió an einer Ausschreibung. Diese Bewerbung wurde vom Medienrat allerdings für ungültig erklärt hatte, weil geringfügige Fehler in der Antragstellung unterlaufen waren (eine Unklarheit in einer Sendungsbeschreibung, und ein fehlerhafter Eintrag in einem Formular, wo die Dauer einer Sendung mit 50 Minuten angegeben war, während diese laut Programmplan 45 Minuten dauern sollte). Für den Generalanwalt ist es offensichtlich, "dass diese Ungenauigkeiten so geringfügig sind, dass es unverhältnismäßig erscheint, sie als Grund für die Ungültigkeit des Angebots heranzuziehen."

Schließlich stützte sich die Ungültigerklärung auch noch darauf, dass Klubrádió bei der Bewerbung ein negatives Eigenkapital aufgewiesen habe. Das wurde aber nicht bei der Beurteilung der finanziellen Leistungsfähigkeit berücksichtigt, sondern weil das Angebot damit nicht geeignet sei, zur Schaffung eines stabilen Rundfunkmarkts beizutragen. 

Der Generalanwalt sieht darin einen Verstoß gegen die Transparenzpflicht, weil dieser Aspekt nicht zu den in der Ausschreibung genannten Kriterien für die finanzielle Leistungsfähigkeit genannt worden war.  

4. Frist für die Entscheidung über die Frequenznutzung

Eine weitere Verletzung des Unionsrechts im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Lizenzverlängerung betraf die Frist: nach Art 5 Abs 3 GenehmigungsRL muss über den Antrag auf Gewährung von Nutzungsrechten an Funkfrequenzen innerhalb von sechs Wochen entschieden werden. Die ungarische Behörde hatte dafür aber mehr als zehn Monate gebraucht. 

Bei wettbewerbsorientierten oder vergleichenden Auswahlverfahren (also auch bei den im Rundfunkbereich häufig anzutreffenden "Beauty Contests") kann die Frist für die Vergabe von Funkfrequenzen nach Art 7 Abs 4 der GenehmigungsRL um höchstens acht Monate verlängert werden; dies war beim zweiten Verfahren der Fall, sodass die Kommission mit dem Hinweis auf die Frist diesbezüglich nicht erfolgreich war.

5. Ausschluss von einer befristeten Lizenz

Ein Nebenstrang der Kommissionsargumentation betrifft die dritte Entscheidung des Medienrats, nämlich Klubrádió auch von einer befristet - bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Ausschreibung - zu vergebenden Lizenz auszuschließen. Hier sieht der Generalanwalt angesichts des weiten Ermessens für die bei derartigen provisorischen Zulassungen aufzuerlegenden Bedingungen keinen Verstoß Ungarns gegen Unionsrecht.

6. Art. 11 GRC

Die Kommission machte auch geltend, dass die Entscheidungen des Medienrates "Klubrádió daran gehindert hätten, seine Programme über eine Funkfrequenz auszustrahlen, was die schwerste denkbare Verletzung der Medienfreiheit darstelle und der Unterbindung der Tätigkeit eines Mediendiensteanbieters durch die nationalen Behörden gleichkomme." 

Nachdem der Generalanwalt die Bedeutung des Art 11 Abs. 2 GRC betont ("eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft"), relativiert er den vorliegenden Fall ein wenig: es gehe hier um ein Verhalten, das "die Rechte eines bestimmten Unternehmens beeinträchtigt", zu prüfen sei aber, ob dadurch die Freiheit und der Pluralismus der Medien in Ungarn beeinträchtigt sei. Diesbezüglich hat nach Ansicht des Generalanwalts die Kommission ihre Beweislast nicht erfüllt (Rn. 101-103): 

Die Kommission, der ... die Beweislast obliegt, stützt sich offenbar auf den Umstand, dass Klubrádió ein unabhängiger und regierungskritischer Radiosender sei. Die Klage beruht jedoch nicht auf einer spezifischen Prüfung des Zusammenhangs zwischen der Tätigkeit von Klubrádió und der allgemeinen Situation der Medien in Ungarn, die Kommission beschränkt sich vielmehr darauf, auf das dem Medienpluralismus gegenüber in besonderem Maße feindlich eingestellte Umfeld in diesem Mitgliedstaat hinzuweisen, das auf die starke Einmischung der ungarischen Regierung im Bereich der Medien zurückzuführen sei, wie dies von mehreren Instanzen innerhalb der Union und des Europarats bestätigt worden sei.

Insoweit trifft es zu, dass die Medienregulierung in Ungarn – und insbesondere das Mediengesetz – in den letzten Jahren oft Kritik seitens mehrerer internationaler Institutionen und Organisationen wegen der Einschränkungen der Medienfreiheit und des Medienpluralismus erfahren hat. Zudem kann und wird in einer Situation, in der die Freiheit und der Pluralismus der Medien auf die Probe gestellt werden, der Ausschluss eines Mediendiensteanbieters, der das politische Leben des Landes aufmerksam verfolgt und der politischen Macht gegenüber besonders kritisch eingestellt ist, diese Situation aller Wahrscheinlichkeit nach weiter verschärfen.

Aber auch wenn bei der Prüfung der streitigen Maßnahmen offensichtlich die besonderen Umstände und der spezielle Kontext ihrer Ergreifung nicht außer Acht gelassen werden können und es daher nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Maßnahmen tatsächlich die Freiheit und den Pluralismus der Medien beeinträchtigt haben, hat die Kommission meiner Ansicht nach unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht nachgewiesen, dass eine solche Auswirkung vorliegt, und ist somit der ihr obliegenden Beweislast nicht nachgekommen. Abgesehen von einer allgemeinen Beschreibung der Situation auf dem Medienmarkt in Ungarn hat sie nämlich keine Umstände vorgetragen, die die Auswirkungen der streitigen Maßnahmen auf diese Situation belegen.

Für den Fall, dass der EuGH zum Ergebnis kommen sollte, dass die festgestellten Verstöße die Freiheit und den Pluralismus der Medien einschränken, führt der Generalanwalt aber auch noch aus, dass er bezweifle, "dass die durch die streitigen Entscheidungen auferlegten Einschränkungen insoweit notwendig und verhältnismäßig sind." 

7. Fazit 

Sollte der EuGH dem Generalanwalt folgen (was ich zumindest im Kern erwarte), ist zunächst einmal klagestellt, dass auch für die Vergabe und Verlängerung von Rundfunklizenzen, die mit einer Frequenznutzung verbunden sind, die Bestimmungen (nun) des EKEK zu beachten sind, was insbesondere transparente Verfahren und verhältnismäßige Kriterien für die Entscheidung sowie die Einhaltung der dort festgelegten Fristen verlangt. 

Das bedeutet, dass bei jeder Ausschreibung die in der Auswahl anzuwendenden Kriterien möglichst klar anzugeben sind (sofern dies nicht bereits durch das Gesetz erfolgt ist), und dass bei jeder im Zug der Vergabe oder Verlängerung zu treffenden Entscheidung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. 

Klar ist jedenfalls auch, dass Art. 11 GRC für derartige Vergabeverfahren maßgebend sind (aber das war außerhalb Ungarns wohl auch kaum strittig). Der Generalanwalt stellt aber hohe Anforderungen an die Beweislast für die Kommission, aus einzelnen Verstößen ein gewissermaßen systemisches Versagen zu belegen, also hier: dass nicht nur Detailbestimmungen des Rechtsrahmens für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste verletzt wurden, sondern dadurch auch ein Verstoß gegen Art. 11 GRC erfolgt wäre. 

Schließt sich der EuGH auch diesbezüglich dem Generalanwalt an, so werden damit auch die Grenzen eines Vertragsverletzungsverfahrens deutlich, das aufgrund des staatlichen Vorgehens gegen ein einzelnes Medium eingeleitet wird. Für die Bekämpfung systemischen Versagens wäre ein derart spezifisches Vertragsverletzungsverfahren damit kein geeignetes Mittel.

Wednesday, March 26, 2025

EuG: Auch Internetprovider scheitern mit Klage gegen die Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien

Die Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien bleiben aufrecht - nachdem schon 2022 die Klage eines sanktionierten Unternehmens abgewiesen wurde, scheiterten nun auch drei niederländische Internet Service Provider, die vor dem EuG (unter anderem) geltend machten, dass durch die Sanktionen ihr Grundrecht auf Verbreitung von Informationen verletzt worden wäre. Das EuG hat diese Argumentation verworfen, ob die ISPs nun Rechtsmittel an den EuGH ergreifen, ist noch unklar

Die Vorgeschichte

Der Rat der Europäischen Union hat mit Beschluss (GASP) 2022/351 und Verordnung (EU) 2022/350, jeweils vom 1. März 2022, die im Jahr 2014 nach der Annexion der Krim verhängten Sanktionen gegen Russland erstmals auch auf Medieninhalte ausgeweitet. Auch davor waren schon einzelne Medienunternehmen und Medienpersönlichkeiten von typischen Sanktionen wie Reisebeschränkungen oder Einfrieren von Geldern betroffen. Neu an der Verordnung vom 1. März 2022 war aber, dass Wirtschaftsakteuren ("Betreibern") innerhalb der Union verboten wurde, Medieninhalte bestimmter staatsnaher russischer Medien zu verbreiten, und dass sämtliche Rundfunklizenzen sowie (private) Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen "ausgesetzt" wurden (siehe im Blog dazu vor allem hier). 

Von Anfang an wurde heftig diskutiert (siehe zB hier oder hier), ob damit die Medienfreiheit (Art. 11 GRC: Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit) unzulässig eingeschränkt wurde, insbesondere weil nicht auf einzelne problematische Sendungen oder Inhalte, sondern pauschal auf den Absender (zunächst RT und Sputnik, mittlerweile zahlreiche weitere, siehe hier) abgestellt wurde, und weil unter "Betreibern" auch Internet Service Betreiber zu verstehen waren, die den Zugang zu Websites mit diesen Inhalten bloß ermöglichten . 

Die Sanktionierung wurde gerichtlich zunächst von RT France bekämpft; diese Klage wurde vom EuG im beschleunigten Verfahren behandelt und mit einem in Großer Kammer ergangenen Urteil vom 27. Juli 2022, T-125/22, abgewiesen (siehe dazu hier); das zunächst dagegen erhobene Rechtsmittel wurde nach der Insolvenz von RT France wieder zurückgenommen, zu einer Entscheidung des EuGH ist es daher nicht gekommen.

Gegen die Sanktionen war aber nicht nur RT France als direkt betroffenes Medienunternehmen gerichtlich vorgegangen. Auch drei niederländische Internet Service Provider, unterstützt auch von einer niederländischen Journalistenorganisation, erhoben Nichtigkeitsklage beim EuG. 

Das Urteil des EuG

Nun - nach rund dreijähriger Verfahrensdauer - hat das EuG mit Urteil vom 26. März 2025, T-307/22, A2B Connect u.a. / Rat, auch über diese Klage entschieden. Berichter (Rapporteur) war - wie bereits in der Rechtssache RT France - wieder Roberto Mastroianni.

GASP-Beschlüsse

Das EuG verwirft die Klage zunächst insoweit, als sie sich gegen den Beschluss (GASP) 2022/351 (und einen Folgebeschluss) richtet. Dieser Beschlüsse stellten zwar restriktive Maßnahmen gegen die darin individualisierten Unternehmen dar, nicht aber gegenüber den darin nicht genannten ISPs - das Gericht habe daher keine Jurisdiktion, um über die Rechtmäßigkeit dieser Beschlüsse im vorliegenden Verfahren zu entscheiden (Rn. 32).

Verordnungen: Zuständigkeit und Zulässigkeit

Die bekämpften Verordnungen (2022/350 und 2022/879) hingegen wurden auf Grundlage des Art. 215 Abs. 2 AEUV erlassen und unterliegen der vollen Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Unionsgerichte (Rn. 33). 

Da sich die Klage als unbegründet erweist, geht das EuG auf die - vom Rat (mit meines Erachtens  teilweise guten Gründen) bestrittene - Zulässigkeit gar nicht ein, sondern lässt diese offen und behandelt die Sache gleich in merito. 

Kompetenz des Rates zur Erlassung der Verordnungen

Um die in der Klage bestrittene Kompetenz des Rates zur Erlassung der Verordnungen zu prüfen, muss das EuG zunächst doch auf die Kompetenz des Rates zur Erlassung der Beschlüsse im Rahmen der GASP eingehen, die sich auf Art. 29 EUV (Bestimmung des Standpunkts der Union zu bestimmten Fragen) stützen. Nur wenn die Beschlüsse rechtmäßig zustande gekommen sind, können auch die Verordnungen rechtmäßig sein, da die restriktiven Maßnahmen nach Art. 215 Abs. 2 AEUV nur verhängt werden können, wenn dies ein im Rahmen der GASP [rechtmäßig] erlassener Beschluss vorsieht. Diese Kompetenzfrage wird - im Wesentlichen entlang der schon im Urteil RT France vorgezeichneten Argumentation - bejaht. Dabei wird wieder auf die gerade auch von Medienrechtlern gerne vorgebrachten Argumente eingegangen, wonach die Regulierung von Medieninhalten Sache der Mitgliedstaaten sei (siehe etwa hier), die das EuG wenig überraschend nicht beeindrucken: nicht nur dass aus nationalen Zuständigkeiten natürlich in keiner Weise Beschränkungen der Unionszuständigkeiten abgeleitet werden können, die nationalen Maßnahmen verfolgen auch ganz andere Zwecke (Rn. 56f). Auch dass andere Unionszuständigkeiten für die Regulierung von Medien bestehen, ändert an den Kompetenzen im Rahmen der GASP - und daran anknüpfend für die Erlassung restriktiver Maßnahmen nach dem AEUV - nichts: diese schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind komplementär, mit jeweils eigenem Anwendungsbereich und unterschiedlichen Zielrichtungen (Rn. 60). Dass schließlich die Erlassung von Sanktionen auf Unionsebene besser geeignet ist, das Ziel einer einheitlichen Anwendung dieser Sanktionen zu erreichen als ein Handeln auf Ebene der Mitgliedstaaten, ist für das EuG auch klar (Rn. 62). 

Recht auf eine gute Verwaltung

Die Kläger machten auch eine Verletzung des in Art. 41 GRC garantierten Rechts auf eine gute Verwaltung geltend - ein typischerweise eher schwaches Argument, das auch hier vom EuG routiniert abgehandelt wird: eigentlich geht es den klagenden ISPs nur um das Recht auf eine Begründung der getroffenen Entscheidung, und da ist zu bedenken, dass es sich hier nicht um einen Rechtsakt handelt, der individuell an die ISPs gerichtet ist. Vor diesem Hintergrund sieht das EuG die Verordnungen wenig überraschend als ausreichend begründet an (Rn 81). 

Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit

Die spannendste Frage handelt das EuG am Schluss ab: den Eingriff in die nach Art. 11 GRC geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit. 

Das EuG betont zunächst, dass die Grundrechte bei allen Handlungen der Union zu beachten sind, einschließlich bei Rechtsakten, durch die Beschlüsse im Rahmen der GASP umgesetzt werden (Rn. 101). Die in Art. 11 GRC - der unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK auszulegen ist (Rn. 106) - garantierten Rechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen , sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (Rn. 104). 

Die ISPs machen eine Verletzung sowohl in ihrem Recht auf Verbreitung von Informationen geltend als auch im Recht ihrer Nutzer auf Erhalt von Informationen. Das EuG zieht zunächst in Zweifel, ob die ISPs überhaupt Grundrechtsträger sein können, die eine Verletzung in ihrem Recht auf Verbreitung von Nachrichten geltend machen können, zumal sie sich darauf stützen, dass die eine neutrale Rolle in der Verbreitung von Inhalten einnehmen. Diese Frage lässt das EuG ausdrücklich offen, da die Klage auch erfolglos bleibt, wenn man die Grundrechtsträgereigenschaft annimmt (Rn. 110). 

Even assuming that internet service providers, such as the applicants, which after all describe themselves as operators providing internet access to individuals or businesses (see paragraph 3 above), may be regarded as holders of an autonomous right to freedom to impart information, despite relying on their neutral role in the broadcasting of content, the applicants’ arguments cannot succeed.

Danach prüft das EuG (unter der Annahme, dass ein Eingriff in das Grundrecht vorliegt), ob die Eingriffsschranken iSd Art. 52 GRC gewahrt sind:  

"gesetzlich vorgesehen"

Der Eingriff hatte laut EuG eine rechtliche Grundlage in den Verträgen (Art. 29 EUV, Art. 215 AEUV; Rn. 112) und für die ISPs sei vorhersehbar gewesen, dass sie von solchen Sanktionen betroffen sein könnten (Rn. 114), sodass das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage gegeben ist (Rn. 115). Bei erster Lektüre lässt mich dieser Begründungsteil ein wenig ratlos zurück, da meines Erachtens die Frage, ob der Eingriff "gesetzlich vorgesehen" war, auch direkt auf die bekämpften Verordnungen abgestellt werden könnte und das vom EGMR entwickelte Kriterium der Vorhersehbarkeit sich eher auf die Frage beziehen würde, ob für die ISPs klar war, ob sie bzw. mit welchen Handlungen sie dem Eingriff unterliegen. Aber auch diese Betrachtungsweise würde wohl keinen Unterschied im Ergebnis machen. 

"den Wesensgehalt achtend"

zur zweiten Voraussetzung, dass der Eingriff den Wesensgehalt des Rechts achten muss, verweist das EuG einerseits recht knapp darauf, dass nur wenige "media outlets" betroffen sind (Rn. 116; mittlerweile ist die Liste auf immerhin 32 angewachsen, aber auch das ist wohl noch eine vergleichsweise geringe Zahl, wenn man sie in Relation zu allen [online] "media outlets" setzt). Andererseits betont das EuG auch, dass die Einschränkungen nur zeitlich beschränkt und reversibel sind (Rn. 117f). Schließlich ist der Umstand, dass das Filtern der betroffenen Inhalte für die ISPs viel Arbeit und hohe Kosten verursacht, im Zusammenhang mit der Beurteilung, ob der Wesensgehalt des Grundrechts verletzt wird, irrelevant ist. Dieses Argument wäre eher im Zusammenhang mit Art. 16 GRC (Unternehmerische Freiheit) relevant, darauf haben sich die ISPs aber nicht gestützt (Rn. 119) - für mich völlig unverständlich, weil das gerade in der Leitentscheidung zu Netzsperren (EuGH 27.3.2014, C‑314/12, UPC Telekabel Wien) ein wesentliches Thema war.

"dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen" 

Die Maßnahmen dienen (u.a.) dem Schutz der Werte der Union und ihrer Sicherheit, waren Teil der Verfolgung dieser Zielsetzungen, konsistent mit diesen und zielten darauf ab, den Kriegszustand und die Verletzungen des Humanitären Völkerrechts zu beenden, was ebenfalls ein Ziel von grundlegendem allgemeinem Interesse ist (Rn. 122).  

Verhältnismäßigkeit 

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit stellt sich die Frage etwas anders als im Fall RT France, da hier die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die ISPs zu prüfen is (Rn. 126). Die Maßnahmen entsprachen der Zielsetzung, maximalen Druck auf die russischen Machthaber auszuüben. Es war auch angemessen für den Rat, ISPs in gleicher Weise wie andere Weiterverbreiter von Inhalten in Betracht zu ziehen (Rn. 129). Dass die sanktionierten Inhalte in in der Union noch zugänglich sind, schadet nicht: Mögliche Schwierigkeiten in der Anwendung der bekämpften Verordnungen können nicht dazu führen, dass die Maßnahmen den anerkannten Zielsetzungen nicht tatsächlich entsprechen würden (Rn. 130): 

The fact, claimed by the applicants, that the restrictive measures at issue are not suited to their purpose, because the website of the Russia Today newspaper can still be accessed everywhere in the European Union, cannot call into question the appropriateness of the broadcasting prohibition at issue. Possible difficulties in applying the contested regulations cannot render those measures inappropriate.

(Zur tatsächlichen Erreichbarkeit sanktionierter Inhalte - in Frankreich und Belgien - siehe übrigens einen aktuellen Befund hier

Das EuG bejaht auch die Notwendigkeit der Maßnahmen im Hinblick auf die ISPs ("intrinsically necessary", Rn. 132); eine Beschränkung auf Rundfunk und On Demand-Abrufdienste wäre nicht ausreichend gewesen (Rn. 133). 

Zur eigentlichen Abwägungsentscheidung betreffend die Verhältnismäßigkeit verweist das EuG auf die Bedeutung des größeren Ziels, Frieden und internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten, die auch  beträchtliche negative Konsequenzen für Unternehmen, die für diese Situation keinerlei Verantwortung tragen, aufwiegt. Die ISPs sind nur hinsichtlich der Verbreitung der Inhalte relativ weniger Unternehmen beschränkt und können ansonsten Zugang zu allen anderen Inhalten herstellen - es liegt daher kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheit, Informationen zu verbreiten, vor (Rn. 134).. 

Zur Verletzung des Rechts der Internet-Nutzer auf Zugang zu Informationen

Die ISPs haben auch auf das Recht ihrer Kunden (Nutzer) hingewiesen, Zugang zu Informationen zu erhalten. Das EuG legt sich hier zunächst gar nicht fest, ob ein solches Recht der Nutzer überhaupt besteht ("Even assuming that those users ... were able to invoke an infringement of a right to freedom of expression and information ..."); selbst wenn es besteht (was meines Erachtens nicht zweifelhaft ist) könne es nämlich von den ISPs nicht geltend gemacht werden. Die ISPs hätten auch nicht dargelegt, aus welchem Grund sie berechtigt wären, sich auf dieses Recht gewissermaßen in Vertretung ihrer Kunden zu stützen (Rn. 138f). 

In diesem Punkt überrascht mich, dass offenbar die ISPs kein substantiiertes Vorbringen erstattet haben, denn aus dem schon zitierten UPC Telekabel Wien-Urteil könnte man doch Hinweise entnehmen, dass ISPs auch Verantwortung für die Grundrechte ihrer Nutzer tragen, zumal es dort ( Rn. 55) heißt, dass ein ISP (dort als Adressat einer Anordnung zu einer Netzsperre) "auch für die Beachtung des Grundrechts der Internetnutzer auf Informationsfreiheit Sorge tragen" muss (dort ging es um die Wahl der Mittel, einer Sperrverfügung nachzukommen, aber es handelt sich doch um eine sehr ähnliche Situation, in der ein ISP nicht aus eigenem Willen, sondern aufgrund behördlicher oder gerichtlicher Entscheidung für seine Kunden den Zugang zu zuvor frei zugänglichen Inhalten unterbinden muss). 

Wie geht es weiter?

Gegen das Urteil des EuG können die ISPs Rechtsmittel an den EuGH erheben. Ob sie das tun werden, ist noch nicht klar, die erste Reaktion der niederländischen Journalistenvereinigung, die eine treibende Kraft hinter der Klage war, klingt eher zurückhaltend. 

Bis zu einem allfälligen EuGH-Urteil ist aber klargestellt, dass die Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien Bestand haben und auch von Internet Service Betreibern einzuhalten sind.  

Monday, February 24, 2025

EU-Sanktionen gegen russische Medien - Update

Heute hat der Rat der EU weitere Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien beschlossen (Beschluss (GASP) 2025/394 des Rates vom 24. Februar 2025 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren, ABl. L, 2025/394, 24.2.2025).  

Mit der Verordnung (EU) 2025/395 des Rates vom 24. Februar 2025 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. L, 2025/395, 24.2.2025) wird - vorbehaltlich eines bis 9. April 2025 vom rat zu beschließenden Durchführungsrechtsakts - der Anhang XV der VO (EU) Nr. 833/2014 um folgende Organisationen ergänzt:

  • EADaily / Eurasia Daily
  • Fondsk
  • Lenta
  • NewsFront
  • RuBaltic
  • SouthFront
  • Strategic Culture Foundation
  • Krasnaya Zvezda / Tvzvezda

Wenn - was zu erwarten ist - der Rat diesen Durchführungsrechtsakt rechtzeitig beschießt, werden ab 9. April 2025 auch die von diesen Medienorganisationen erstellten Inhalte in der EU nicht mehr verbreitet werden dürfen, allfällige Rundfunklizenzen oder Verbreitungsvereinbarungen werden ausgesetzt und es ist dann auch nicht mehr erlaubt, in diesen Medien zu werben (siehe zum genauen Inhalt der Sanktionen Artikel 2f der VO (EU) Nr. 833/2014).  

Außerdem kommt Bewegung in die gerichtliche Auseinandersetzung über diese Sanktionen: das EuG wird am 26. März 2025 über die von niederländischen Internet Service-Betreibern eingebrachte Nichtigkeitsklage T-307/22 A2B Connect ua entscheiden (update 26.03.2025: siehe dazu im Blog hier

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PS: was bisher geschah - meine bisherigen Blogbeiträge zu diesem Thema

PPS: die Gesamtliste der sanktionierten Medien 
  • RT — Russia Today English
  • RT — Russia Today UK
  • RT — Russia Today Germany
  • RT — Russia Today France
  • RT — Russia Today Spanish
  • Sputnik
  • Rossiya RTR / RTR Planeta
  • Rossiya 24 / Russia 24
  • TV Centre International
  • NTV/NTV Mir 
  • Rossiya 1 
  • REN TV 
  • Pervyi Kanal
  • RT Arabic
  • Sputnik Arabic
  • RT Balkan
  • Oriental Review
  • Tsargrad
  • New Eastern Outlook
  • Katehon
  • Voice of Europe
  • RIA Novosti
  • Izvestija
  • Rossiiskaja Gazeta
  • EADaily / Eurasia Daily
  • Fondsk
  • Lenta
  • NewsFront
  • RuBaltic
  • SouthFront
  • Strategic Culture Foundation
  • Krasnaya Zvezda / Tvzvezda


Wednesday, January 29, 2025

"Minus 15 %" beim ORF? Nur bei Änderung des öffentlich-rechtlichen Auftrags

FPÖ und ÖVP verhandeln derzeit über die Bildung einer Koalitionsregierung, und dabei ist natürlich auch die Medienpolitik Thema. Ich will mich zu diesen politischen Gesprächen nicht näher äußern, sondern warte ab, was letztlich herauskommt, wie das in einem Koalitionsübereinkommen festgeschrieben und legistisch umgesetzt wird. Ich hoffe jedenfalls, dass die verhandelnden Personen im Hintergrund gute juristische Beratung haben, denn gerade im Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind doch einige verfassungs- und unionsrechtliche Rahmenbedingungen zu beachten. 

Aber weil immer wieder - auch gestern im ORF Report - von der Überlegung berichtet wird, dem ORF ein Einsparungsziel von 15 % vorzugeben, wollte ich hier einmal kurz auf den in diesem Zusammenhang relevanten rechtlichen Rahmen hinweisen. Getriggert wurde ich von der eher saloppen Einlassung des ServusTV-Journalisten Michael Fleischhacker im ORF-Report (ca. bei Minute 22:30), der auf den berechtigten Einwand der Moderatorin, dass die künftige Regierung ja nicht der Eigentümer des ORF sei, rundheraus antwortete: "Na, Eigentümervertreter natürlich; wenn's allen gehört, dann - irgendwer, ist das Parlament, die Parlamentsmehrheit ist der Eigentümervertreter in diesem Unternehmen." Das mag ein pragmatischer, an der erlebten politischen Praxis orientierter Zugang sein - mit der geltenden Rechtslage hat er allerdings nichts zu tun. 

Damit zum Versuch, ein paar rechtliche Informationen betreffend eine "Einsparungsvorgabe" zusammenzufassen:

Der öffentliche-rechtliche Rundfunk ist kein "Staatsfunk", dem die (aktuelle oder künftige) Regierung einfach so Vorgaben machen kann, etwa im Hinblick auf Einsparungsziele oder das für die Erfüllung seiner Aufgaben verfügbare "Budget". Kraft verfassungsrechtlicher Bestimmungen ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk (der ORF) unabhängig, und zwar insbesondere von der Regierung. Er ist daher auch so zu organisieren, dass diese Unabhängigkeit gewährleistet ist (dazu hat der VfGH in seinem Erkenntnis zu den ORF-Gremien Einiges gesagt). 

Seit 2001 ist der ORF als eine besondere Stiftung öffentlichen Rechts eingerichtet, die daher auch keinen Eigentümer hat (schon gar nicht den allenfalls durch die Bundesregierung vertretenen Bund), sondern Begünstigte - im Fall des ORF ist dies nach dem Konzept des ORF-Gesetzes die Allgemeinheit. Deren Interessen werden von den im ORF-Gesetz vorgesehenen Gremien (Stiftungsrat und Publikumsrat) vertreten, die daher ebenfalls unabhängig (insbesondere von der Regierung) zu sein haben (und ja, mir ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis bekannt, danke). 

Das ändert natürlich nichts daran, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für den ORF vom Nationalrat mit einfachem Gesetz geändert werden können - allerdings nur innerhalb der verfassungs-. und unionsrechtlichen Schranken (BVG Rundfunk, Art. 10 EMRK, Unions-Wettbewerbsrecht, demnächst - ab 8. August 2025 - auch EMFA und Art. 11 GRC). Dieser Rahmen verlangt, verkürzt zusammengefasst, unter anderem Folgendes: 

  • Unabhängigkeit der Organe des ORF (Art. 1 Abs. 2 BVG Rundfunk)
  • gesetzliche Festlegung des öffentlich-rechtlichen Auftrags (Unionsrecht, s. insbesondere die Beihilfenentscheidung der Kommission zum ORF, die Rundfunkmitteilung, und Art. 5 EMFA)
  • Sicherstellung einer funktionsadäquaten Finanzierung (BVG Rundfunk, Art. 10 EMRK, jeweils ausgelegt durch den VfGH in den Erkenntnissen vom 5.10.2023 und vom 30.6.2022)
  • Beitragsfinanzierung (oder allenfalls sonstige öffentliche Finanzierung) nur in der Höhe der Nettokosten des öffentlich-rechtlichen Auftrags (Unionsrecht, insbesondere Beihilfenentscheidung und Rundfunkmitteilung); zugleich ist (ab 8. August 2025) sicherzustellen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstalter "über angemessene, nachhaltige und vorhersehbare finanzielle Mittel" verfügt, die der Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags und seiner "Kapazität zur Entwicklung im Rahmen dieses Auftrags" entsprechen (Art. 5 EMFA).

Kann also die Regierung einfach vorsehen, dass dem ORF "15% weniger" Mittel zur Verfügung stehen? Grundsätzlich nein, denn über die Höhe des ORF-Beitrags entscheidet der ORF selbst (durch den Stiftungsrat, unter der Rechtsaufsicht der KommAustria und gegebenenfalls nachfolgender gerichtlicher Kontrolle), wobei die gesetzlichen Vorgaben klar sind: "Die Höhe des ORF-Beitrags ist so festzulegen, dass unter Zugrundelegung einer sparsamen, wirtschaftlichen und zweckmäßigen Verwaltung der öffentlich-rechtliche Auftrag erfüllt werden kann".  

Wenn man die derzeit diskutierten "minus 15%" daher verfassungskonform verwirklichen will, erfordert dies eine Änderung des ORF-Gesetzes, und zwar nicht durch Festlegung eines niedrigeren ORF-Beitrags oder eines Einsparungsziels, sondern durch eine Änderung (Einschränkung) des öffentlich-rechtlichen Auftrags, die dann entsprechend geringere Nettokosten zur Folge haben könnte. 

Auch dabei ist zu berücksichtigen, dass der VfGH schon in seinem Erkenntnis zum Programmentgelt aus dem BVG Rundfunk und Art. 10 EMRK nicht nur eine Finanzierungsverantwortung, sondern auch eine Funktionsverantwortung des Gesetzgebers für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abgeleitet hat. Im Erkenntnis zu den ORF-Gremien hat er dies noch weiterentwickelt und ausdrücklich festgehalten, dass diese Funktions- und Finanzierungsverantwortung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Verpflichtung umfasst, "die gesetzlichen Rahmenbedingungen so auszugestalten, dass eine den Grundsätzen des  Art. I Abs. 2 zweiter Satz BVG Rundfunk entsprechende öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstaltung gewährleistet ist, ebenso wie – damit nach dem Konzept des BVG Rundfunk untrennbar  zusammenhängend – die institutionelle Verpflichtung, diese Programmveranstaltung durch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter zu organisieren." (falls es wen interessiert: mehr dazu habe ich hier im Österreichischen Juristischen Archiv geschrieben).

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk darf also kraft Verfassung mit einfachem Gesetz nicht abgeschafft werden, und er darf auch nicht so eingeschränkt werden, dass er seine Funktion nicht mehr erfüllen kann (zu seiner Funktion zählt etwa, wie der VfGH schreibt, "umfassend die Freiheit des öffentlichen Diskurses im Wege des Rundfunks [zu] gewährleisten" - was immer dann darunter konkret zu verstehen sein mag). 

Wie weit diese Bestandsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht, hat der VfGH nicht konkretisiert (weil es in den von ihm entschiedenen Fällen auch nicht erforderlich war). Es ist daher denkbar, dass eine zukünftige Koalition den Spielraum ausloten möchte und entsprechende Einschränkungen des öffentlich-rechtlichen Auftrags (insbesondere eine Streichung von Programmen) vornimmt, um gewissermaßen auf diesem Umweg auf die medial kolportierten "Einsparungsziele" zu kommen. Insofern bleibt es spannend, worauf sich eine künftige Koalition in dieser Frage einigen wird.