Tuesday, March 29, 2016

EGMR, Große Kammer: Geldstrafe über Journalisten wegen Veröffentlichung aus Ermittlungsakten verletzte Art 10 EMRK nicht

Verletzt eine Geldstrafe wegen einer Veröffentlichung aus geheimen Gerichtsakten einen Journalisten in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung? Nach einem denkbar knappen (4:3) Urteil der zweiten Kammer des EGMR vom 1. Juli 2014 (im Blog dazu hier), in dem diese Frage bejaht wurde, hat die Große Kammer des EGMR mit dem heutigen Urteil im Fall Bédat gegen die Schweiz (Pressemitteilung des EGMR) die Angelegenheit mit deutlicher Mehrheit (15:2) anders entschieden: die Veröffentlichung barg das Risiko einer Beeinflussung des Verfahrens und beeinträchtigte das Privatleben des Beschuldigten; zudem war die verhängte Geldstrafe (4000 CHF) nicht unverhältnismäßig - die Große Kammer sah daher in der Verurteilung des Journalisten, der aus den vertraulichen Ermittlungsakten zitiert hatte, keine Verletzung des Art 10 EGMR. 
Der betroffene Journalist sieht einen schwarzen Dienstag für die Pressefreiheit
Zum Ausgangsfall: Das Drama auf der Großen Brücke von Lausanne
Im Jahr 2003 hatte M.B., ein betrunkener Autofahrer, in Lausanne drei Fußgänger getötet und acht weitere verletzt, bevor er mit seinem Fahrzeug vom Grand-Pont gestürzt war. Arnaud Bédat, Journalist beim Magazin L'illustré, veröffentlichte einen Artikel unter dem Titel "Drama auf der Großen Brücke von Lausanne - die Version des Rasers - die Vernehmung des verrückten Lenkers". Darin beschrieb der Journalist die Vernehmung des in U-Haft befindlichen M.B. durch Polizei und Untersuchungsrichter; außerdem wurden Fotos und Briefe von M.B. an den Untersuchungsrichter abgedruckt. M.B. beschwerte sich darüber nicht, von Amts wegen wurde aber ein Strafverfahren eingeleitet, weil geheime Unterlagen aus dem Strafverfahren veröffentlicht wurden. Im Zug der Untersuchung stellte sich heraus, dass offenbar eine am Zivilverfahren gegen M.B. beteiligte Partei die Unterlagen kopiert und dann in einem Einkaufszentrum verloren hatte; ein Unbekannter habe die Unterlagen dann der Redaktion des "L'illustré" gebracht.

Arnaud Bédat wurde wegen der Veröffentlichung zunächst zu einer bedingten Haftstrafe von einem Monat, in der Instanz zu einer Geldstrafe in der Höhe von umgerechnet rund 2.667 € verurteilt. Der EGMR zitiert - wie schon im Urteil der zweiten Kammer nun auch im Urteil der Großen Kammer - ausführlich aus dem letztinstanzlichen Urteil des Schweizer Bundesgerichts, in dem sich dieses auch mit dem Verhältnis zwischen Geheimhaltungspflicht nach dem Strafgesetzbuch und dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK befasst.

Zur Rechtslage
In der Schweiz stellt der - umstrittene - Art 293 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs die "Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen" unter gerichtliche Strafe:
1  Wer, ohne dazu berechtigt zu sein, aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, die durch Gesetz oder durch Beschluss der Behörde im Rahmen ihrer Befugnis als geheim erklärt worden sind, etwas an die Öffentlichkeit bringt, wird mit Busse bestraft.
2  Die Gehilfenschaft ist strafbar.
3  Der Richter kann von jeglicher Strafe absehen, wenn das an die Öffentlichkeit gebrachte Geheimnis von geringer Bedeutung ist.
Auch die Große Kammer (wie zuvor schon die zweite Kammer) des EGMR zitiert bei der Darstellung der Rechtslage nicht nur die Bestimmungen des Schweizer Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung, sondern auch die Richtlinien zur Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten des Schweizer Presserates (konkret die Bestimmungen zur Anhörung bei schweren Vorwürfen und zur Identifizierung) und die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Rec(2003)13 zur Information durch Medien im Hinblick auf Strafverfahren.

Im Hinblick auf den Rechtsvergleich stellt der EGMR fest, dass alle 30 Europarats-Staaten, zu denen ihm dazu Material vorliegt, die Veröffentlichung von Informationen, die dem Schutz des strafgerichtlichen Ermittlungsverfahrens dienen, unter Strafe stellen. In 23 dieser Staaten trifft das entsprechende Veröffentlichungsverbot alle Personen, in sieben Staaten (darunter Österreich; siehe § 54 StPO) nur die am Verfahren beteiligten Personen.

Das Urteil der Großen Kammer

- Eingriff - gesetzliche Grundlage - legitimes Ziel
Auch vor der Großen Kammer war nicht strittig, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK vorlag und dass dieser eine ausreichende gesetzliche Grundlage hatte. Im Verfahren vor der Großen Kammer hatte der Beschwerdeführer auch nicht mehr bestritten, dass die gesetzliche Regelung ein legitimes Ziel im Sinne des Art 10 Abs 2 ERMK verfolgte (Gewährleistung des Ansehens und der Unabhängigkeit der Rechtsprechung sowie Schutz des guten Rufes [und] der Rechte anderer).

- Unentbehrlich in einer demokratischen Gesellschaft?
Der EGMR fasst zunächst die allgemeinen Prinzipien zusammen (Abs 48 - 54), wie er sie zuletzt etwa schon im Urteil Pentikäinen (im Blog dazu hier) dargestellt hat. Er betont dabei wiederum, dass der Schutz des Art 10 EMRK für Journalisten unter dem Vorbehalt steht, dass diese in in gutem Glauben handeln, um genaue und verlässliche Information im Einklang mit den Grundsätzen eines verantwortungsvollen Journalismus zu liefern. Das Konzept des verantwortungsvollen Journalismus ("responsible journalism") umfasst auch die Rechtmäßigkeit des Verhaltens von Journalisten: der Umstand, dass ein/e Journalist/in das Gesetz gebrochen hat ist eine relevante, wenn auch nicht entscheidende Überlegung für die Beurteilung, ob er oder sie sich verantwortungsvoll verhalten hat.

Wenn zwei gleichermaßen geschützte Rechte in Konflikt geraten, müssen die widerstreitenden Interessen abgewogen werden. Dabei sollte das Ergebnis das gleiche sein, egal von welcher Seite man an die Sache herangeht - das hat der EGMR in den letzten Jahren für die Abwägung zwischen den nach Art 8 und Art 10 EMRK geschützten Rechten in zahlreichen Fällen ausgesprochen (etwa Von Hannover (Nr. 2) [im Blog hier], Axel Springer AG [im Blog hier], und Couderc und Hachette Filipacchi). Im heute entschiedenen Fall hält der EGMR - insofern neu, aber nicht überraschend - fest, dass analoge Überlegungen auch für die Abwägung zwischen den nach Art 10 und Art 6 Abs 1 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK geschützten Rechten gelten müssen.

Für die Anwendung der allgemeinen Prinzipien auf den konkreten Fall geht der EGMR auf mehrere Kriterien ein:

(i) Wie kam der Journalist in den Besitz der Informationen?
Dem Journalisten war nicht vorgeworfen worden, die Informationen auf illegalem Weg erlangt zu haben. Allerdings konnte er sich nicht im Unklaren darüber sein, dass es sich um vertrauliche Informationen handelt (er hat auch nie bestritten, dass es geheime Informationen im Sinne der maßgebenden Schweizer Strafnorm waren).

(ii) Inhalt des strittigen Artikels
Das Schweizer Bundesgericht hat sich ausführlich mit dem Artikel befasst und darin festgehalten, dass die Art, in der der Journalist aus den Vernehmungsprotokollen zitierte und die Briefe des Beschuldigten wiedergab, auf seine Motive hinwies: er habe sich auf Sensationalismus beschränkt, und die ungesunde Neugierde an solchen Fällen befriedigen wollen. Leser der sehr einseitigen Veröffentlichung würden sich eine Meinung bilden und Vorurteile für das weitere Verfahren haben, ohne den geringsten Respekt für die Unschuldsvermutung (im Originial: "En prenant connaissance de cette publication très partielle, le lecteur se faisait une opinion et préjugeait sans aucune objectivité de la suite qui serait donnée par la justice à cette affaire, sans le moindre respect pour la présomption d'innocence").

Der EGMR hielt fest, dass der Artikel zwar keinen spezifischen Standpunkt zur Frage einnahm, ob das Delikt absichtlich verwirklicht wurde, aber ein sehr negatives Bild des Beschuldigten zeichnete und einen fast spöttischen Ton annahm. Die Überschriften und das große Close-up- Bild des Beschuldigten ließen keinen Zweifel daran, dass der Journalist seinen Artikel in einem sensationalistischen Ton verfassen wollte. Außerdem hat der Artikel die Belanglosigkeit der Aussagen des Beschuldigten und die vielen Widersprüche darin aufgezeigt und sie auch als "wiederholte Lügen" bezeichnet - Fragen, die das Gericht im Strafverfahren erst zu beantworten hatte.

(iii) Beitrag des strittigen Artikels zu einer Debatte im öffentlichen Interesse
Der EGMR "akzeptiert" (kein sehr starkes Wort in diesem Zusammenhang!), dass die gerichtlichen Untersuchungen der Tragödie auf der Großen Brücke von öffentlichem Interesse waren: der besonders außergewöhnliche Fall hatte große Emotionen in der Bevölkerung ausgelöst und auch die Justizbehörden hatten die Presse über einzelne Aspekte der laufenden Untersuchung informiert. Dennoch stelle sich die Frage, ob der Inhalt des Artikels - und speziell die Information, die vom Ermittlungsgeheimnis geschützt war - geeignet war, zur öffentlichen Debatte beizutragen, oder nur die Neugierde einer bestimmten Leserschaft auf Details aus dem Privatleben des Beschuldigten zu befriedigen. Auch hier stützt sich die Große Kammer des EGMR auf die ausführlich begründete Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts:
The Court notes in this connection that after an in-depth assessment of the content of the article, the nature of the information provided and the circumstances surrounding the “Lausanne Bridge” case, the Federal Court, in a lengthily reasoned judgment which contained no hint of arbitrariness, held that neither the disclosure of the records of interviews nor that of the letters sent by the accused to the investigating judge had provided any insights relevant to the public debate and that the interest of the public in this case had at the very most “involved satisfying an unhealthy curiosity”
Auch der Journalist habe nicht gezeigt, wie die Veröffentlichung von Vernehmungsprotokollen, Aussagen der Frau des Beschuldigten und seines Arztes sowie von Briefen des Beschuldigten an den Untersuchungsrichter über banale Aspekte des Alltags in der U-Haft zu einer Debatte von öffentlichem Interesse hätten beitragen können.

(iv) Einfluss des strittigen Artikels auf das Strafverfahren
"Grundsätzlich" verdienen die nach Art 10 und nach Art 6 Abs 1 EMRK geschützten Rechte gleichermaßen Respekt, doch im Hinblick darauf, was bei Strafverfahren auf dem Spiel steht (sowohl für die Unschuldsvermutung der Betroffenen, als auch für die Rechtsprechung an sich), ist es legitim, besonderen Schutz für die Vertraulichkeit gerichtlicher Untersuchungen vorzusehen. Die Vertraulichkeit ist auch gerechtfertigt, um die Meinungsbildung und die Entscheidungsprozesse in der Justiz zu schützen.

Der strittige Artikel hatte auch zum Ausdruck gebracht, dass der Beschuldigte alles in seiner Macht Stehende unternehme, um es unmöglich zu machen, ihn zu verteidigen. Die Veröffentlichung eines derart gefärbten Artikels noch während der gerichtlichen Untersuchungen birgt das Risiko, das Verfahren in der einen oder anderen Art zu beeinflussen, sei es hinsichtlich der Arbeit des Untersuchungsrichters, der Entscheidungen der Rechtsvertreter des Beschuldigten, der Privatbeteiligten oder der Objektivität und Zusammensetzung des die Strafverhandlung durchführenden Gerichts.

Dabei genügt die abstrakte Gefahr eine Beeinflussung, dass tatsächlich eine Beeinflussung erfolgte, muss nicht nachgewiesen werden. Ob die Maßnahmen zur Durchsetzung der Vertraulichkeit rechtmäßig sind, müsse nämlich in dem Zeitpunkt beurteilt werden können, in dem sie gesetzt werden, nicht erst im Lichte späterer Entwicklungen.

(v) Verletzung des Privatlebens des Beschuldigten
Den Staat trifft sowohl eine positive als auch eine negative Verpflichtung zur Achtung des Privat- und Familienlebens des Beschuldigten. Er darf nicht nur, so der EGMR unter Hinweis auf den Fall Craxi (Nr. 2) keine durch Art 8 geschützte Information preisgeben, sondern muss auch Maßnahmen treffen, um den effektiven Schutz eines Beschuldigten hinsichtlich seiner Korrespondenz zu gewährleisten.

Im konkreten Fall war die veröffentlichte Information von sehr persönlicher - sogar medizinischer - Art, und es wurden auch Briefe des Beschuldigten an den Untersuchungsrichter veröffentlicht. Diese Informationen verlangen den höchsten Schutz nach Art 8 EMRK, zumal der Beschuldigte der Öffentlichkeit nicht bekannt war und der bloße Umstand, dass gegen ihn gerichtliche Ermittlungen geführt wurden, nicht rechtfertigt, ihn wie eine public figure zu behandeln.

Abweichend von der Ansicht der zweiten Kammer des EGMR hält es die Große Kammer hier nicht für ausreichend, dass der Beschuldigte auch privatrechtliche Schritte gegen den Journalisten hätte einleiten können, da solche privatrechtlichen Abhilfemöglichkeiten den Staat nicht aus seinen positiven Verpflichtungen entlassen, die gegenüber einer strafrechtlich beschuldigten Person bestehen. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Beschuldigte im Zeitpunkt der Veröffentlichung in Untersuchungshaft und damit in einer verletzlichen Situation war. Außerdem dürfte er an psychischen Problemen gelitten haben, was seine Vulnerabilität weiter verstärkt habe.

(vi) Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe
Der EGMR sieht auch die verhängte Strafe als nicht unverhältnismäßig an; sie sei in Anbetracht einer früheren Verurteilung bemessen worden und sei zudem nicht vom Journalisten selbst, sondern von dessen Arbeitgeber getragen worden. Die Strafe sei für den Bruch der Vertraulichkeit des Ermittlungsverfahrens verhängt worden und habe als Ziel den Schutz des ordnungsgemäßen Funktionierens der Justiz und auch den Schutz der Rechte des Beschuldigten auf ein faires Verfahren und Achtung seines Privatlebens gehabt; sie habe damit auch keine abschreckende Wirkung auf die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung durch Journalisten, die die Öffentlichkeit über laufende Strafverfahren informieren wollten.

Zusammenfassend kommt die Große Kammer des EGMR damit zum Ergebnis, dass keine Verletzung des Art 10 EMRK vorliegt.

Abweichende Meinungen
Das Urteil wurde mit großer Mehrheit von 15 zu 2 Stimmen gefällt; der spanische Richter López Guerra und die ukrainische Richterin Yudkivska stimmten für das Vorliegen einer Verletzung des Art 10 EMRK und geben ihre Gründe dafür in (gesonderten) abweichenden Meinungen an.

López-Guerra stößt sich zunächst daran, dass der EGMR auf die Art der Berichterstattung abstellt; dies sei für die Frage, ob die Informationen im öffentlichen Interesse seien, nicht relevant. Der Journalist habe die Frage der Schuld oder Unschuld des Beschuldigten weder ausdrücklich noch implizit erwogen, sondern lediglich Statements des Beschuldigten wiedergegeben, ohne den möglichen Ausgang des Verfahrens zu kommentieren. Zudem sei der Artikel drei Monate nach dem Vorfall und deutlich vor der Entscheidung der nationalen Gerichte im Strafverfahren erschienen. Es sei schlicht nicht vorstellbar, dass Information in einer Zeitschrift mit begrenzter Verbreitung ein deutlich später von Berufsrichtern gefälltes Urteil in irgendeiner Weise beeinflussen könne.

Auch habe es keine Notwendigkeit gegeben, in die Äußerungsfreiheit des Journalisten zugunsten des Schutzes des Privatlebens des Beschuldigten einzugreifen. Der Beschuldigte habe keine Abhilfe durch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel nach Schweizer Recht gesucht und auch nicht angegeben, dass seine Privatsphäre verletzt worden sei. Zudem hätte es andere Mittel zum Schutz des Privatlebens gegeben, insbesondere müsse der Staat verhindern, dass die privaten Daten des Beschuldigten während des Verfahrens "geleaked" werden.

Yudkivska - die in ihrer abweichenden Meinung mehr Entscheidungen des US Supreme Court als des EGMR zitiert - betont zunächst die Bedeutung des tragischen Ereignisses auf der Großen Brücke für die "relativ kleine" Stadt Lausanne. Praktisch jeder Bewohner könnte ein Opfer oder Verwandte des Opfers gekannt haben. Das Verlangen, mehr darüber herauszufinden, was "Nachbarn" geschehen sei, sei vom Bundesgericht geringschätzig als ungesunde Neugier abgetan worden, was die Große Kammer unterstützt habe. Yudkivska teilt auch nicht die Auffassung, dass der Artikel nicht zur Debatte von öffentlichem Interesse beigetragen habe; die Veröffentlichung der ärztlichen Aussagen und der Briefe an den Untersuchungsrichter hätten vielmehr gerade die Frage des Geisteszustands des Beschuldigten betroffen, die von größtem Interesse für die Öffentlichkeit gewesen sei. Und auch Yudkivska meint, dass es am Beschuldigten gelegen wäre, die Achtung seines Privatlebens durchzusetzen.

Anmerkungen

- Nationaler Beurteilungsspielraum
In meiner Anmerkung zum Kammerurteil habe ich schon darauf hingewiesen, dass der EGMR dem deutschen Bundesgerichtshof zuletzt in Art 10 EMRK-Fällen eine korrekte Abwägung im Beurteilungsspielraum attestiert hatte, beim Schweizer Bundesgericht aber kritischer schien. Das wurde mit dem nunmehrigen Urteil der Großen Kammer korrigiert: nicht nur bei der Darlegung der allgemeinen Grundsätze, sondern auch bei der Anwendung auf den konkreten Fall zeigt sich, dass der EGMR den nationalen Beurteilungsspielraum ernst nimmt. In der Abarbeitung der sechs Kriterien verweist der EGMR überdies zB auf die "fully reasoned decision" des Bundesgerichts (auch: "a lengthily reasoned judgment which contained no hint of arbitrariness") oder auf dessen "in-depth assessment". Das ist freilich nicht bloß als gewisse Anerkennung für das Bundesgericht gedacht, sondern liefert der Sache nach vor allem die Rechtfertigung für den EGMR, sich hier zurückzunehmen und den nationalen Beurteilungsspielraum anzuerkennen - das tut er nämlich nur dann, wenn das nationale Gericht sein Ergebnis, insbesondere in der Abwägung zB zwischen den nach Art 8 und Art 10 EMRK geschützten Rechtspositionen, ausreichend (in der Regel unter Bezugnahme auf die EMRK und relevante Rechtsprechung des EGMR) begründet hat.

- Tonfall der Berichterstattung
In der Sache selbst fällt meines Erachtens zunächst auf, dass der Tonfall bzw die Art und Weise der Berichterstattung eine hervorgehobene Bedeutung erlangt, und zwar bereits auf der Ebene der Frage, ob die Veröffentlichung zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beiträgt. Vereinfacht gesagt: auch wenn die Strafsache als solche von öffentlichem Interesse ist, gilt das noch lange nicht für alle Details aus den Ermittlungsakten, die vielleicht "g'schmackig" sind und zur Stimmungsmache taugen. Dabei kommt es nicht nur auf den Inhalt an, sondern auch auf die Aufmachung, hier im konkreten Fall auch auf die Überschriften und verwendeten Fotos. Für Journalisten kann das durchaus heikel sein, wenn nämlich die Überschriften - wie häufig der Fall - nicht von ihnen selbst getextet werden, und das Interesse des Schlagzeilenredakteurs oft gerade darauf abzielt, die "ungesunde Neugierde" des Publikums zu wecken.

Die starke Ausrichtung auf den Tonfall der Berichterstattung kann man auch als eine Ausprägung des Konzepts des "verantwortlichen Journalismus" sehen, den der EGMR aus Art 10 Abs 2 EMRK ableitet ("Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt ..."). Wenn ein Journalist sich in seiner Berufsausübung unrechtmäßig - nach nationalen Rechtsvorschriften - verhält (hier: Ausschnitte aus geheimen Ermittlungsakten wiedergibt), dann - so würde ich es vereinfacht zusammenfassen - schließt das für sich genommen zwar noch nicht aus, dass sein Verhalten nach Art 10 EMRK gerechtfertigt sein kann. Trägt dieses unrechtmäßige Verhalten aber nicht in seriöser Weise zu einer Debatte von öffentlichem Interesse bei, sondern dient es bloß der Befriedigung von Sensationslust oder sonst ungesunder Neugierde, dann handelt der Journalist nicht mehr verantwortungsvoll im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK.

- Positive Verpflichtung zum Schutz des Privatlebens von Beschuldigten
Vor allem aber fällt auf, dass der EGMR positive staatliche Verpflichtungen zum Schutz des Privatlebens des Beschuldigten gegenüber Veröffentlichungen in den Medien statuiert, und dies ausdrücklich auch neben möglichen zivilrechtlichen Abhilfemaßnahmen des Betroffenen. Noch etwas unscharf scheint dabei, wie stark die Vulnerabilität des Beschuldigten hier eine Rolle spielt: könnte man zB von einem wohlhabenden Bankier, Ex-Finanzminister oder Lobbyisten eher erwarten, dass er selbst zivilrechtlich gegen die Veröffentlichung vertraulicher Aktenteile vorgeht, oder muss hier eine abstrakte Beurteilung Platz greifen - weil man als Beschuldigter jedenfalls verletzlich ist?

- Und in Österreich?
Für Österreich ergibt sich aus dem Urteil eine durchaus spannende Frage: reichen die aktuellen Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit verbotenen Veröffentlichungen aus Ermittlungsakten aus, um den Schutz des Privatlebens von Beschuldigten zu schützen? (§ 54 StPO richtet sich an Beschuldigte und deren Verteidiger, Journalisten sind von diesem Verbot nicht betroffen.)

Das Urteil des EGMR beantwortet diese Frage nicht, da der Gerichtshof einen Fall zu beurteilen hatte, in dem nationale Rechtsvorschriften ein - strafbewehrtes - Verbot der Veröffentlichung aus geheimen Akten enthielten, das auch gegenüber Journalisten galt. Dass der EGMR eine Verurteilung des Journalisten nach dieser Bestimmung nicht als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilte, bedeutet im Umkehrschluss nicht zwingend, dass ein Fehlen solcher Vorschriften im Falle einer gleichartigen Veröffentlichung zu einer Verletzung des Art 8 EMRK zulasten des Beschuldigten führen würde. Allerdings hat der EGMR (in Abs 77 des Urteils) deutlich gemacht, dass die Existenz zivilrechtlicher Rechtsbehelfe allein den Staat nicht aus seinen positiven Verpflichtungen entlässt, die - "in jedem Einzelfall" - gegenüber einem Beschuldigten zum Schutz seiner Rechte nach Art 8 EMRK (und wohl auch nach Art 6 EMRK zum Schutz des fairen Verfahrens) bestehen.

Update 31.03./12.04.2016: siehe auch den - der Entscheidung der Großen Kammer zustimmenden - Beitrag von Maximilian Steinbeis im Verfassungsblog und den - das Urteil hart kritisierenden - Beitrag von Dirk Voorhoof auf Strasbourg Observers.

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