"Print" gewinnt nicht immer: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat heute mit seinem Urteil im Fall Print Zeitungsverlag GmbH gegen Österreich (Appl. no. 26547/07) gegen die Medieninhaberin des Bezirksblatts Tirol (Lokalausgabe Hall/Rum) entschieden.
Zum Sachverhalt
Im Jänner 2006 - kurz vor den Obmannwahlen für den Tourismusverband Region Hall Wattens - wurden ungefähr 300 anonyme Briefe verschickt, unter anderem auch an Mitglieder des Aufsichtsrats des Tourismusverbands. In diesen Briefen wurden in Form einer "Umfrage" Fragen gestellt, die sich auf zwei Brüder, C.M. und J.M., bezogen. C.M. war Obmann des Torusimusverbandes und stellte sich gerade der Wiederwahl, J.M. war Finanzstadtrat der Stadtgemeinde Hall in Tirol und Vorsitzender des Aufsichtsrats der Stadtwerke Hall; beide waren (und sind) beruflich als Rechtsanwälte tätig.
Zum Sachverhalt
Im Jänner 2006 - kurz vor den Obmannwahlen für den Tourismusverband Region Hall Wattens - wurden ungefähr 300 anonyme Briefe verschickt, unter anderem auch an Mitglieder des Aufsichtsrats des Tourismusverbands. In diesen Briefen wurden in Form einer "Umfrage" Fragen gestellt, die sich auf zwei Brüder, C.M. und J.M., bezogen. C.M. war Obmann des Torusimusverbandes und stellte sich gerade der Wiederwahl, J.M. war Finanzstadtrat der Stadtgemeinde Hall in Tirol und Vorsitzender des Aufsichtsrats der Stadtwerke Hall; beide waren (und sind) beruflich als Rechtsanwälte tätig.
1. Würden Sie von diesem Mann ein Auto kaufen? 2. Würden Sie Ihr Geld auf ein Versprechen dieses Mannes setzen? 3. Hat dieser Mann die notwendigen persönlichen/beruflichen Qualifikationen? 4. Hat dieser Mann jemals etwas Ordentliches gebaut? 5. Ist dieser Mann ehrlich zu seiner Familie? 6. Würden Sie diesem Mann erlauben, Ihr Testament aufzusetzen?*)Ein Journalist des Bezirksblatts (ein regionales Gratismedium) konfrontierte die beiden Anwälte mit diesem Schreiben. Diese taten es als Teil einer politischen Kampagne ab, die gegen sie geführt werde; C.M. teilte dem Journalisten auch ausdrücklich mit, dass er gegen eine Veröffentlichung dieses Schreibens rechtliche Schritte unternehmen werde.
Wenn Sie eine dieser Fragen mit Nein beantwortet haben, fragen Sie sich bitte, warum Sie diesen Mann in seiner gegenwärtigen Funktion belassen wollen. Wir, als Unternehmer, werden bei der nächsten Versammlung des Tourismusverbandes mit unseren Stimmen entscheiden. Es ist unser Versprechen, unser Geld, unsere Qualifikation, unser Verband und unser Erbe!
Das Bezirksblatt berichtete unter der Überschrift "Anonyme Kampagne gegen M&M" über diese Briefe und gab dabei nicht nur die Reaktionen der betroffenen Anwälte (mit voller Namensnennung und Foto) wieder, sondern druckte den Brief auch als Faksimile ab.
Die Anwälte gingen nach § 6 Mediengesetz gegen die Medieninhaberin vor und erhielten wegen der mit der Veröffentlichung des anonymen Briefs erfolgten üblen Nachrede (§ 111 StGB) eine Entschädigung von jeweils € 2.000 zugesprochen.
Urteil des EGMR
Vor dem EGMR war unstrittig, dass die Verurteilung der Medieninhaberin zu einer Entschädigung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellte, der auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhte und dem legitimen Ziel des Schutzes des guten Rufs und der Rechte anderer diente. Strittig war nur die Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der EGMR bezieht sich in der Prüfung dieser Frage sodann vor allem auf sein Urteil Von Hannover (Nr 2) - im Blog dazu näher hier - und prüft den Eingriff anhand der dort aufgestellten Kriterien:
a) Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse: die nationalen Gerichte (LG und OLG Innsbruck) hatten akzeptiert, dass der Artikel zu einer Debatte von allgemeinem Interesse - bevorstehende Neuwahl im Tourismusverband und die anonyme Kampagne gegen C-M. und J.M. - beigetragen hat
b) Bekanntheit der Person, über die berichtet wird und Gegenstand des Berichts: die Gerichte hatten auch berücksichtigt, dass C.M. und J.M. dem lokalen Publikum gut bekannt und aufgrund ihrer Funktionen in den Medien vorgekommen waren. Auch war der Bericht über die Kampagne in einer objektiven Form verfasst worden.
c) Früheres Verhalten der Person: Vor der Verbreitung des anonymen Briefes hatte es keine öffentliche Erörterung des beruflichen oder privaten Verhaltens von C.M. und J.M. gegeben, insbesondere keinerlei Vorwürfe eines Fehlverhaltens. Der EGMR stellte auch fest, dass es keinen Anhaltspunkt dafür gebe, dass C.M. und J.M., obwohl sie oft in lokalen Medien vorkamen, selbst das Rampenlicht gesucht hätten ("sought the limelight") oder irgendwelche Details betreffend ihr Berufsleben als Anwälte oder ihr Privatleben offen gelegt hätten.
d) Methode des Erhalts der Information und Wahrheitsgehalt: aus den nationalen Gerichtsakten ging zwar nicht hervor, wie der Journalist an den anonymen Brief gekommen war, aber er hatte den Betroffenen ordnungsgemäß Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben. Allerdings hatte er den Brief danach gegen den ausdrücklichen Willen von C.M. veröffentlicht. Dass die Vorwürfe im anonymen Brief wahr gewesen wären oder eine Tatsachengrundlage gehabt hätten, wurde von der Medieninhaberin nicht einmal behauptet. Die nationalen Gerichte hatten festgehalten, dass die Veröffentlichung eines anonymen Briefs von einem Zitat (im Sinne des § 6 Abs 2 Z 4 MedienG: "wahrheitsgetreue Wiedergabe der Äußerung eines Dritten") zu unterscheiden sei, jedenfalls aber zu prüfen sei, ob ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Veröffentlichung des anonymen Briefs bestanden habe.
Dieser Zugang der nationalen Gerichte sei in Übereinstimmung (bzw "not in variance") mit der Rechtsprechung des EGMR. Da es keine Vorwürfe gegen C.M. und J.M. vor der Veröffentlichung des anonymen Briefes gegeben hat und es auch keinerlei Anhaltspunkte dafür gab, dass das Verhalten der Betroffenen irgendeine Tatsachengrundlage für die im anonymen Brief enthaltenen Werturteile geboten hätte, handelte es sich um nichts anderes als einen grundlosen Angriff auf den guten Ruf:
In the present case, as has already been noted above, there had been no allegations against C.M. and J.M. before the publication of the anonymous letter and there is no indication that their own conduct provided any factual basis for the value judgments contained in the anonymous letter, which were thus no more than a gratuitous attack on their reputation. In these circumstances, the Court accepts that there were strong reasons for considering that the publication of the anonymous letter transgressed the limits of permissible reporting.e) Inhalt, Form und Folgewirkungen der Veröffentlichung: durch die Veröffentlichung des anonymen Briefs hatte ein weit größeres Publikum als die ursprünglichen Adressaten Kenntnis vom Inhalt des anonymen Briefs erhalten. Zudem hatten die nationalen Gerichte negative Auswirkungen der Veröffentlichung auf das berufliche Leben der Anwälte festgestellt (sie waren mehrfach mit den im anonymen Brief enthaltenen Vorwürfen konfrontiert worden).
f) Schwere der Sanktion: Die zugesprochene Entschädigung von je € 2.000 ist nicht von einer Schwere, die den Eingriff unverhältnismäßig machen würde.
Schlussfolgerung: Der EGMR kommt damit - einstimmig - zum Ergebnis, dass die nationalen Gerichte die in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Kriterien korrekt angewandt und auch relevante und ausreichende ("relevant and sufficient") Gründe angegeben haben, wie sie zu ihrer Schlussfolgerung gekommen sind, wonach die Veröffentlichung zwar zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beigetragen hat, die Veröffentlichung des anonymen Briefes aber dennoch als üble Nachrede anzusehen war.
P.S.: während in dem hier besprochenen Fall zumindest eine Debatte von allgemeinem Interesse vorlag, in deren Zusammenhang man auch über den anonymen Brief - ohne ihn zur Gänze wiederzugeben - berichten konnte, gab es in Österreich in diesem Jahr auch schon einen Fall, in dem allein das Vorliegen eines anonymen Briefs ohne jeden Zusammenhang mit einer solchen Debatte zum Vorwand für sensationsgierige "Berichterstattung" wurde. Das ist natürlich ein Verstoß gegen die Grundsätze für die publizistische Arbeit, wie der Presserat in seiner diesbezüglichen Entscheidung festgestellt hat.
Update (20.11.2013): Das Urteil des EGMR wird von Hugh Tomlinson, QC, in einem Beitrag auf Inforrm's Blog heftig kritisiert. Tomlinson meint auch, dass der EGMR hier erstmals einen Fall der üblen Nachrede nach den von der Großen Kammer entwickelten Kriterien für die Abwägung zwischen Art 8 und Art 10 EMRK im Zusammenhang mit Beschwerden wegen Eingriffs in das Privatleben behandelt habe; ich würde hier freilich keine wesentliche oder neue Entwicklung sehen, denn die Abwägung anhand dieser Kriterien wurde etwa auch im Urteil der Großen Kammer im Fall Axel Springer AG gegen Deutschland (Appl. no. 39954/08) vorgenommen (dass es dort um die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ging, macht meines Erachtens keinen wesentlichen Unterschied). Jedenfalls der EGMR selbst sieht das Urteil Print Zeitungsverlag auch nicht als besonders wichtig an, hat er ihm doch bloß "importance level" 3 (und damit den niedrigsten von drei möglichen "levels") zugeordnet.
(Kritisch zu diesem Urteil auch Amalie Bang auf mediareport.nl)
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*) Diese Fragen sind aus dem englischen Urteilstext rückübersetzt; die Frage 6. lautet dort "Would you allow this man to execute your will?" Obwohl "execute a will" (jedenfalls im US-Sprachgebrauch) der Fachbegriff für das Aufsetzen eines Testaments ist, könnte man das hier wohl auch anders verstehen.
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