Vor dem EuG waren sie mit ihrer "übermäßig und völlig unüblich langen Klageschrift" nicht erfolgreich (Urteil vom 29.03.2012, T-336/07; siehe dazu im Blog hier). Das gegen das EuG-Urteil erhobene Rechtsmittel an den EuGH könnte aber - wenn der Gerichtshof den am vergangenen Donnerstag erstatteten Schlussanträgen des Generalanwalts Wathelet (Rechtssache C-295/12 P Telefónica and Telefónica de España / Kommission) folgt - zumindest in einem Teilaspekt (und vorerst) erfolgreich sein.
Konfuse Rechtsmittelschrift
Dafür holen sich die Rechtsvertreter aber zunächst recht massive Kritik des Generalanwalts ab. Die Kommission hatte nämlich beantragt, das gesamte Rechtsmittel als unzulässig zu erklären, weil es ihr unmöglich mache, ihre Verfahrensrechte auszuüben. Der Generalanwalt hält dazu fest (Hervorhebungen hinzugefügt):
7. Festzustellen ist, dass i) die konfus und wenig strukturiert formulierte Rechtsmittelschrift außergewöhnlich lang – die französische Übersetzung der Rechtsmittelschrift zählt nicht weniger als 133 Seiten, und zwar mit einfachem Zeilenabstand bei 492 Randnummern(8) – und voller Wiederholungen ist; mit ihr werden mehrere hundert Gründe, Teilgründe, Rügen, Argumente und Teile von Argumenten vorgetragen (was nach den Ausführungen der Kommission einen Rekord in der Geschichte der Rechtsstreitigkeiten der Union darstellt); ii) das Rechtsmittel praktisch systematisch darauf abzielt, unter dem Vorwand, dass das Gericht ein „falsches rechtliches Kriterium“ angewandt habe, eine erneute Prüfung des Sachverhalts herbeizuführen; iii) die Gründe häufig als bloße, einer Begründung entbehrende Behauptungen eingeführt werden; iv) die Rechtsmittelführerinnen zum einen oft die streitige Entscheidung und nicht das angefochtene Urteil beanstanden und zum anderen, wenn sich ihre Beanstandungen tatsächlich gegen das angefochtene Urteil richten, praktisch niemals die genauen Abschnitte oder Randnummern dieses Urteils angeben, die angebliche Rechtsfehler enthalten sollen.Der Generalanwalt bekundet dann ausdrücklich Verständnis für die Unzulässigkeitseinrede der Kommission, meint aber, dass "das Rechtsmittel als solches doch nicht insgesamt für unzulässig erklärt werden [kann], da einige der Gründe oder Argumente des Rechtsmittels (auch wenn sie Stecknadeln in einem Heuhaufen sind) die Zulässigkeitsanforderungen erfüllen." Ausführlich erläutert der Generalanwalt dann, welche Rechtsmittelgründe ganz oder teilweise unzulässig sind.
(Fußnote 8: Das bedeutet eine Rechtsmittelschrift im Verfahren vor dem Gerichtshof (die nur Rechtsausführungen enthalten sollte), die länger ist als die bereinigte Klageschrift im Verfahren vor dem Gericht! Zudem finden sich praktisch nicht nachvollziehbare Randnummern wie Randnr. 298, die einen Satz mit 121 Wörtern enthält.)
Mitschuld an langer Verfahrensdauer wegen übermäßig langer Klageschrift
Interessant ist dabei die Auseinandersetzung mit der Rüge der unangemessenen Verfahrensdauer vor dem EuG, die nach Ansicht der Telefónica zu einer Verringerung der Geldbuße führen müsste. Auch dabei wird der Telefónica wieder ihre Verwirrungs- und Verzögerungsstragie vorgehalten (Wiedergabe ohne Fußnoten, Hervorhebung hinzugefügt):
24. Mit der Kommission, der ECTA, France Telecom und Ausbanc bin ich der Ansicht, dass die Dauer des Verfahrens vor dem Gericht, etwas weniger als vier Jahre und sechs Monate, unter Berücksichtigung der folgenden Umstände in dieser Rechtssache nicht unangemessen ist: i) die technische Komplexität des Vorgangs (nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „kann die Komplexität der Sache herangezogen werden, um eine auf den ersten Blick zu lange Dauer zu rechtfertigen“); ii) Erhebung zweier Klagen gegen die streitige Entscheidung, von denen die eine die Rechtsmittelführerinnen und die andere das Königreich Spanien eingereicht haben. Die Klagen wurden vom Gericht parallel untersucht, was zu einer Verlängerung des Verfahrens führte; iii) Einreichung einer – bereits im ersten Rechtszug – übermäßig und völlig unüblich langen Klageschrift durch die Rechtsmittelführerinnen, die die in den Praktischen Anweisungen für die Parteien vor dem Gericht empfohlene Höchstzahl von Seiten bei Weitem überstieg. Diese Klageschrift musste bereinigt werden, was das schriftliche Verfahren verlängerte, und trotzdem war die bereinigte Fassung der Klageschrift, die beinahe 140 Seiten nebst zahl- und umfangreichen Anlagen umfasste, nach wie vor übermäßig lang, da sie die in den Praktischen Anweisungen vorgesehene Länge weit überstieg. Im Folgenden reichten die Rechtsmittelführerinnen eine Erwiderung von 112 Seiten nebst 25 Anlagen ein, mit der sie zusätzlich neues Vorbringen einführten; iv) mehrere Streithelferinnen traten dem Verfahren bei, so dass sich das schriftliche Verfahren bis Anfang 2009 verlängerte; und v) die Rechtsmittelführerinnen stellten schließlich zahlreiche Anträge auf vertrauliche Behandlung gegenüber den Streithelferinnen, die meist zurückgewiesen wurden, jedoch auch zur Verlängerung des Verfahrens beitrugen, da sich das Gericht gezwungen sah, bereinigte Fassungen verschiedener Unterlagen herzustellen.Berechnung der Geldbuße - unbeschränkte Nachprüfungspflicht des EuG
Aus telekommunikationsrechtlicher Sicht bieten die Schlussanträge des Generalanwalts keine Neuigkeiten, da das Rechtsmittel, soweit es sich gegen das Vorliegen des Missbrauchs und die Verhängung einer Geldbuße an sich richtet, vom Generalanwalt überwiegend als unzulässig und sonst als unbegründet angesehen wird, ohne dass hier rechtlich Neues zu erörtern wäre. Dass "das Bestehen einer Regelung oder einer gewisse Überwachung durch nationale Fachbehörden nicht vor der Anwendung der Verträge schützt" (RNr 52) bezeichnet der Generalanwalt als völlig klar und damit "vorhersehbar". Tatsächlich war das ja außerhalb der Telekomunternehmen und der von ihnen bezahlten Auftragsgutachter schon Allgemeingut, bevor es der EuGH zB im Urteil vom 14.10.2010, C-280/08 P, Deutsche Telekom, klarstellte.
Damit bleibt aus Sicht des Generalanwalts die Berechnung der Geldbuße bzw der Umfang der Nachprüfung dieser Berechnung durch das EuG zu überprüfen.
Zur Berechnung wünscht sich der Generalanwalt mehr Transparenz der Kommission und verweist dabei auf das Beispiel der Zwangsgelder in Verfahren über eine doppelte Vertragsverletzung nach Art 260 AEUV. In Fußnote 46 schreibt er: "Wenn die Kommission keine Probleme mit der Angabe der Berechnungsmethode der Sanktion in Verfahren über eine doppelte Vertragsverletzung hat – wobei sie allerdings einen Ermessensspielraum bei der Festsetzung des auf die einzelnen Kriterien anwendbaren Koeffizienten behält –, ist es kaum vertretbar, dass sie bei der Berechnung der Geldbuße in Kartellsachen Transparenz ablehnt (die es dem Gericht ermöglichen würde, seine Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung in vollem Umfang auszuüben)."
In der Folge setzt sich der Generalanwalt eingehend mit der "Theorie der Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung" auseinander (RNr 107-145), wobei er besonders auf die Urteile Chalkor und KME des EuGH, aber auch auf das Urteil Menarini des EGMR (dort zur Überprüfung einer von der italienischen Wettbewerbsbehörde verhängten Geldbuße durch die nationalen Gerichte) eingeht. Er kommt zum Ergebnnis, dass das Gericht seine Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Betrages der Geldbuße in vollem Umfang ausüben muss. Das bedeutet unter anderem, dass die Beurteilung durch das Gericht ausreichend unabhängig von derjenigen der Kommission sein müsse. Wörtlich führt er aus:
125. Ich leite von alledem und insbesondere auf der Grundlage der Randnrn. 62 des Urteils Chalkor/Kommission und 129 des Urteils KME Germany u. a./Kommission her, dass sich das Gericht meines Erachtens bei seiner Nachprüfung nicht auf den Ermessensspielraum, über den die Kommission verfügt, oder den einzigen offensichtlichen Beurteilungsfehler, den diese bei der Wahl der im Rahmen der Anwendung der in den Leitlinien erwähnten Kriterien zu berücksichtigenden Umstände begangen hat, stützen darf, um darauf zu verzichten, eine eingehende sowohl rechtliche als auch tatsächliche Nachprüfung vorzunehmen oder nicht zu verlangen, dass die Kommission die Änderung ihrer Geldbußenpolitik in einer bestimmten Sache zu erläutern hat.Eine wirkliche Kontrolle des Bußgeldes durch das Gericht im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung sei, so Generalanwalt Wathelet in RNr 143 der Schlussanträge, umso notwendiger, als der Betrag der von der Kommission verhängten Geldbußen unaufhörlich steige. Es sei "nicht wünschenswert oder zulässig, sondern geradezu notwendig", dass das Gericht seine Nachprüfung der Geldbußen der Kommission vollständig und unabhängig vornehme (RNr 145).
126. Auf alle Fälle können nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs – selbst wenn das Gericht äußerstenfalls auf das „Ermessen“, den „erheblichen Wertungsspielraum“ oder das „weite Ermessen“ der Kommission Bezug nehmen kann (was es meines Erachtens nicht mehr tun sollte) − „solche Bezugnahmen das Gericht nicht an der Ausübung der umfassenden rechtlichen und tatsächlichen Kontrolle [hindern], zu der es verpflichtet ist“.
[...]
129. Das Gericht muss daher von sich aus prüfen, ob die Geldbuße angemessen und verhältnismäßig ist, und ist verpflichtet, selbst festzustellen, ob die Kommission tatsächlich alle für die Berechnung der Geldbuße erheblichen Umstände berücksichtigt hat, wobei das Gericht auch in diesem Zusammenhang auf die von den Klägern bei ihm vorgetragenen Tatsachen und Umstände zurückkommen kann.
Angewandt auf den vorliegenden Fall kommt der Generalanwalt zum Ergebnis, dass das EuG seiner Verpflichtung zur unbeschränkten Nachprüfung nicht nachgekommen sei:
172. Nach alledem scheint mir, dass der achte und der zehnte Rechtsmittelgrund großenteils durchgreifen, da das Gericht seine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung nicht ausgeübt und damit Rechtsfehler bei der Prüfung des geltend gemachten Verstoßes gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der individuellen Strafzumessung sowie gegen die Begründungspflicht begangen hat.Sollte der EuGH diesen Schlussanträgen folgen, so könnte die konfuse und wenig strukturiert formulierte Rechtsmittelschrift der Telefónica daher zwar nicht dem Grunde nach - was den Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung betrifft -, aber doch bei der Höhe der Geldstrafe zu einem (vorläufigen) Erfolg verhelfen. Ob das EuG in der "zweiten Runde" die Geldbuße tatsächlich herabsetzen wird, ist nicht abzusehen; nach den vom Generalanwalt genannten Anhaltspunkten aber eher anzunehmen. In RNr 165 nennt der Generalanwalt zB folgende Umstände, denen das EuG Bedeutung beimessen hätte müssen:
173. Ich behaupte nicht, dass gegen diese Grundsätze verstoßen worden ist, sondern dass das Gericht im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung nicht ordnungsgemäß untersucht hat, ob die Entscheidung der Kommission über die Geldbuße mit diesen Grundsätzen im Einklang stand.
- i) Die Entscheidungen Deutsche Telekom, Wanadoo Interactive und Telefónica wurden auf der Grundlage der Leitlinien von 1998, also unter Anwendung der gleichen Berechnungsregeln, erlassen;
- ii) die in den drei Fällen geprüften Verhaltensweisen überschnitten sich zeitlich teilweise und sind von (sehr) ähnlicher Natur: Verdrängungspreispraktiken im Fall von Wanadoo Interactive und Praktiken der Kosten-Preis-Schere in den Fällen der Deutschen Telekom und von Telefónica;
- iii) die drei Fälle betreffen die Märkte des Zugangs zum Internet in Frankreich, Deutschland und Spanien, die große Ähnlichkeit im Hinblick auf Größe und wirtschaftliche Bedeutung aufweisen;
- iv) die in den drei Fällen mit Sanktionen belegten Unternehmen sind historische Telekommunikationsbetreiber (oder eine Tochtergesellschaft eines von ihnen im Fall von Wanadoo Interactive) mit gut vergleichbaren Umsätzen; und
- v) einige Umstände könnten zumindest theoretisch für einen niedrigeren Ausgangsbetrag im Vergleich zu dem sprechen, der in der Sache Deutsche Telekom verhängt wurde, in der a) die Großhandelspreise höher als deren Einzelhandelspreise waren, so dass die Deutsche Telekom sich des Bestehens einer Kosten-Preis-Schere bewusst sein konnte, ohne dass sie Kosten zu berücksichtigen hatte; b) die deutsche Regulierungsbehörde negative Margen festgestellt hatte; c) die betroffenen Produkte wesentliche Infrastrukturen waren; d) nach dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin die deutsche Regelung im streitigen Zeitraum weniger strenger[sic!] als die spanische war (auch wenn dieser letzte Punkt von der Kommission bestritten wird).
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