Vorweg die wesentlichen Lehren aus dem Urteil:
- Dass eine gerichtliche Entscheidung aus dem gewohnten Rahmen fällt (hier: dass bei einer Entlassung aus der U-Haft eine außergewöhnlich niedrige Kaution festgesetzt wird), reicht für sich nicht aus, den Entscheidungsorganen ohne Tatsachengrundlage Korruption zu unterstellen. Das legitime Recht, über eine ungerecht erscheinende Entscheidung empört zu sein ("son droit légitime à l’indignation face à une décision qui lui semblait injuste") rechtfertigt dennoch keinen Wertungsexzess.
- Was in anwältlichen Schriftsätzen an das Gericht erlaubt ist (auch in eigener Sache, besonders aber in der Verteidigung von MandantInnen), kann exzessiv sein, wenn es in der Presse verbreitet wird.
Der Beschwerdeführer war Rechtsanwalt und vertrat einen Gläubiger in einem Verfahren über eine Zwangsversteigerung. Der Ehemann der Schuldnerin, H.H., drang mit einem Komplizen in seine Kanzlei ein und verlangte die Schlüssel zum Aktenschrank. Als der Anwalt die Herausgabe verweigerte, attackierten ihn die Eindringlinge und schossen ihm eine Kugel ins Bein. Daraufhin zwangen sie ihn, telefonisch die Versteigerung abzusagen.
Die Polizei verhaftete den - achtfach wegen "Vergehen von gewisser Schwere" (infractions d'une certaine gravité) vorbestraften - H.H. Die Untersuchungsrichterin setzte ihn aber gegen eine Kaution von 200.000 Drachmen (rund 587 Euro) auf freien Fuß (und er nutzte offenbar die Gelegenheit, um sich ins Ausland abzusetzen). Der Anwalt war über die Freilassung und die geringe Kaution entsetzt und sagte zum Staatsanwalt (und der anwesenden Richterin): "Das ist keine Gerechtigkeit. Das ist das Hinterzimmer der Gorillas von H.H"
Der Anwalt erhob Klage gegen den Staatsanwalt und die Richterin und verlangte, dass gegen beide disziplinär und strafrechtlich vorgegangen werde. In einem Schriftsatz schrieb er unter anderem - hier vereinfacht zusammengefasst - dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht existiere, um ein Alibi abzugeben für käufliche Entscheidungen, die von einer Bande aus dem Milieu diktiert würden. In zwei Zeitungen wurde über die Klage berichtet; eine davon enthielt die Bemerkung, dass die strittige Entscheidung "durch andere Motive (gemeint: andere als rechtliche Motive) bestimmt war". In einem Leserbrief legte der Anwalt noch nach, dass die Urteile juristisch und logisch nicht erklärbar seien.
In einem von der Richterin und dem Staatsanwalt daraufhin gegen den Anwalt angestrengten Gerichtsverfahren wurde der Anwalt in erster Instanz zu einer Entschädigung von jeweils 30 Mio. Drachmen (rund 88.000 €) für die Richterin und den Staatsanwalt verurteilt. Das Berufungsgericht setzte die Entschädigung zugunsten des Staatsanwalts mit 15.000 € fest (das Rechtsmittelverfahren hinsichtlich der Entschädigung zugunsten der Richterin ist noch anhängig!). Das Berufungsgericht hielt unter anderem fest, dass der Anwalt dem Staatsanwalt durch seine Aussagen Korruption vorgeworfen habe, wobei er als seit zwanzig Jahren erfahrener Anwalt gewusst habe, dass der Vorwurf nicht zutreffe. Der Anwalt habe die Anschuldigungen in herabwürdigender Weise vorgebracht, da er zB von einer "beleidigenden, käuflichen und von krankhafter Feindseligkeit getragenen Entscheidung" geschrieben habe, die "keine richterliche Entscheidung, sondern das Produkt der menschlichen Niedertracht und Gemeinheit" sei. Das gegen das Berufungsurteil erhobene Rechtsmittel an den Kassationsgerichtshof blieb erfolglos.
Keine Verletzung des Art 10 EMRK
Der EGMR hielt zunächst fest, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung vorlag, dass dieser durch Gesetz vorgesehen war und einem legitimen Ziel diente. Strittig war die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.
Der EGMR betont, dass das Berufungsgericht berücksichtigt habe, dass der Beschwerdeführer wiederholt, teils direkt und teils indirekt - auf suggestive, aber ausreichend klare Art -, Tatsachen berichtet habe, die die Ehre und den Ruf des Staatsanwaltes gefährden konnten, indem unterstellt wurde, dass die Entscheidung aus "anderen Motiven" getroffen worden sei, was klar als Korruptionsvorwurf zu verstehen war. Dieser Vorwurf sei falsch gewesen und der Anwalt hätte dies auch gewusst.
In der Folge differenziert der EGMR den vorliegenden Beschwerdefall vom Fall Nikula gegen Finnland (dort war es um die Verurteilung einer Anwältin gegangen, die in ihrer Funktion als Verteidigerin Kritik am Staatsanwalt geübt hatte, die Kritik war im bzw vor dem Gericht und nicht in den Medien vorgebracht worden und hatte keinen beleidigenden Charakter), sowie von den Fällen Katrami (dazu hier) und Kanellopoulou, jeweils gegen Griechenland (in diesen beiden Fällen war es um Haftstrafen gegangen, die wegen der Kritik an Justizorganen verhängt worden waren).
Zu unterscheiden sei zwischen dem Vorbringen im Verfahren und den an die Presse gerichteten Äußerungen. Die Verbreitung der Verfahrensschriftsätze des Anwalts in der Presse sei von einer Art gewesen, dass die Öffentlichkeit glauben konnte, dass der Grund für die Entscheidungen des Staatsanwalts und der Richterin in möglicher Korruption liege (aus dem Urteil wird für mich nicht klar, ob der Anwalt die Schriftsätze der Zeitung zugespielt hat; erkennbar wird er aber dafür verantwortlich gemacht). Die Schwere dieses Vorwurfs überschreite - ohne solide Tatsachengrundlage - die Grenzen eines zulässigen Kommentars.
Auch wenn es zuträfe, dass die Freilassung des H.H. unter Berücksichtigung der Schwere der gegen ihn bestehenden Vorwürfe unter besonders günstigen Bedingungen erfolgt sei, müsse festgehalten werden, dass dieser Umstand allein nicht zum Beweis der vom Beschwerdeführer gezogenen Schlüsse ausreiche. Auch wenn der Großteil der Äußerungen des Beschwerdeführers im Ergebnis als Werturteile zu beurteilen seien, die durch sein legitimes Recht, von einer ihm ungerecht erscheinenden Entscheidung empört zu sein, gerechtfertigt werden könnten, so sei doch festzuhalten, dass Werturteile ohne ausreichende Tatsachengrundlage exzessiv sein können. Der Beschwerdeführer habe auch nie versucht, den Beweis für die Korruptionsvorwürfe anzutreten. Schließlich sei es auch notwendig, die Gerichte vor destruktiven Angriffen ohne seriöse Grundlage zu schützen.
Da auch die Höhe der Entschädigung (15.000 €) nicht als unverhältnismäßig zu beurteilen sei, kam der EGMR einstimmig zum Ergebnis, dass keine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag.
Verletzung des Art 6 EGMR
Berücksichtigt man, dass die Korruptionsvorwürfe vom Beschwerdeführer 1997 und 1998 erhoben wurden, und dass die ersten Entscheidungen noch Entschädigungen in Drachmen aussprachen, so überrascht es nicht, dass der EGMR zur Feststellung einer Verletzung des Art 6 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer kam (ein Teil des Verfahrens - betreffend die Richterin - ist immer noch anhängig). Ein Sittenbild ist allein die Schilderung der Vertagungen im berufungsgerichtlichen Verfahren (Abs. 35-37 des Urteils; von den dort aufgezählten über 20 Vertagungen war zB eine durch einen Anwaltsstreik bedingt, zwei weitere waren die Folge von Streiks der Gerichtsbediensteten).
Hinweis auf weitere Urteile und Entscheidungen im Oktober 2012:
Ich verweise wieder einmal auf meine Übersichtsseite zu Urteilen und Entscheidungen des EGMR zu Art 10 EMRK. Dort verlinke ich in der Regel bald nach Veröffentlichung auf neue einschlägige Urteile und Entscheidungen und versuche meist auch in knappen Worten anzudeuten, worum es jeweils in der Sache ging (sofern ich nicht ohnehin einen eigenen Beitrag im Blog schreibe). Auch im Oktober gab es wieder einiges Neues aus Straßburg, zu dem ich nicht gesondert gebloggt habe:
Vier Urteile betreffen die journalistische Berufsausübung:
- Im Urteil vom 2. Oktober 2012, Yordanova und Toshev gegen Bulgarien (Appl. no. 5126/05) ging es um die Verurteilung zweier Journalistinnen wegen Berichten über einen früheren Polizeiangehörigen, der - auch in einer behördlichen Presseaussendung - des Amtsmissbrauchs und der Korruption verdächtigt und dafür sechsmal vor Gericht gebracht wurde. Die Verfahren gegen den Ex-Polizisten wurden aus prozessualen Gründen schließlich - ohne Verurteilung - eingestellt. der EGMR kam zum Ergebnis, dass der Verdächtigte gegen die Pressmitteilungen der Behörden hätte vorgehen können, dass aber die Verurteilung der über den (behördlich mitgeteilten) Verdacht berichtenden Journalistinnen in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war.
- Im Urteil vom 2. Oktober 2012, Najafli gegen Aserbaidschan (Appl. no. 2594/07), wurde eine Verletzung des Art 10 EMRK festgestellt, weil ein Journalist von der Polizei, die eine Demonstration auflöste, schwer geschlagen und damit an der Ausübung seines Berufs gehindert wurde (er war nicht Demo-Teilnehmer, sondern wollte von der Demonstration berichten und gab sich auch als Journalist zu erkennen).
- Die Urteile vom 16. Oktober 2012, Smolorz gegen Polen (Appl. no. 17446/07; siehe auch die Pressemitteilung des EGMR) und vom 23. Oktober 2012, Jucha und Żak gegen Polen (Appl. no. 19127/06) betreffen jeweils Verurteilungen polnischer Journalisten (einerseits wegen kritischer Äußerungen über den Kattowitzer Stadtplaner und Architekten Jurand Jarecki, andererseits wegen kritischer Berichte über einen Stadtrat, u.a. mit dem Vorwurf mehrfachen Rechtsbruchs); in beiden Fällen wurden einstimmig Verletzungen des Art 10 EMRK festgestellt.
Und schließlich gab es auch im Oktober wieder eine Verurteilung der Türkei: mit Urteil von 2. Oktober 2012, Önal gegen Türkei (Appl. no. 41445/04 und 41453/04), stellte der EGMR eine Verletzung des Art 10 EMRK wegen der Verurteilung eines Herausgebers fest, der zwei Bücher herausgegeben hatte, die von den türkischen Gerichten pauschal als Anstiftung zu Hass und Feindseligkeiten beurteilt worden waren.
In einer interessanten Zulässigkeitsentscheidung hat sich der EGMR mit der Frage des Anwendungsbereichs des Art 10 EMRK auseinandergesetzt: mit Entscheidung vom 2. Oktober 2012, Rujak gegen Kroatien (Appl. no. 57942/10) wies der EGMR die Beschwerde eines kroatischen Soldaten serbischer Abstammung als unzulässig zurück. Dieser war wegen "Verletzung der Ehre des kroatischen Staaates" zu einer bedingten Haftstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Er hatte in einem Streit zwei andere Rekruten beleidigt und danach auf die ausdrückliche Frage eines Offiziers, ob er die Religion oder ethnische Herkunft eines anderen beleidigen habe wollen, bestätigt: “Yes! I f**k your baptised mother! I f**k your Ustaše mother! You all originated from Serbs!”. Der EGMR kam zum Ergebnis, dass der Soldat - unter Berücksichtigung der vulgären und beleidigenden Sprache - mit seinem beleidigenden Statement nicht versucht habe, Nachrichten oder Ideen mitzuteilen. Solche Äußerungen unterfallen daher nicht dem Schutz des Art 10 EMRK, da sie auf eine mutwillige Verunglimpfung mit der alleinigen Absicht zu beleidigen hinauslaufen.
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