Dass man Fotos auch von Prominenten nur dann veröffentlichen darf, wenn das (ua) einen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leistet, dürfte seit den "Caroline"-Urteilen des EGMR (1, 2) hinlänglich bekannt sein (siehe näher zum "Caroline Nr. 2"-Urteil des EGMR vom 07.02.2012 hier). Heute hat der EGMR nun in seinem Urteil Alkaya gegen Türkei (Appl. no.42811/06; Pressemitteilung) ausgesprochen, dass auch die Veröffentlichung der Privatadresse einer in der Öffentlichkeit bekannten Schauspielerin eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art 8 EMRK sein kann.
Yasemin Alkaya, eine in der Türkei bekannte Film- und Theaterschauspielerin, wurde Opfer eines Einbruchs in ihre Privatwohnung. Drei Tage später veröffentlichte die Tageszeitung Akşam einen Bericht über den Einbruch und erwähnte darin die genaue Privatanschrift der Schauspielerin (bis hin zur Top-Nr. der Wohnung). Die Schauspielerin klagte auf Entschädigung wegen Eingriffs in ihr Persönlichkeitsrecht, zumal sie seither immer wieder in ihrer Wohnung gestört wurde und sich alleine zu Hause ängstigte. Die Klage blieb aber vor den nationalen Gerichten ohne Erfolg.
Der EGMR hat aufgrund der Beschwerde von Yasemin Alkaya (einstimmig) eine Verletzung des Art 8 EMRK festgestellt. Das Recht auf Schutz des Privatlebens umfasst auch das Recht, privat zu leben ohne ungewünschte Aufmerksamkeit ("le droit de vivre en privé, loin de toute attention non voulue") und das Recht auf Respekt für die Wohnung, was nicht nur den physischen Raum betrifft sondern auch den ruhigen Genuß dieses Raums ("droit au respect de son domicile, conçu non seulement comme le droit à un simple espace physique mais aussi comme celui à la jouissance, en toute tranquillité, dudit espace").
Die Wahl des Wohnorts ist eine private Angelegenheit und die freie Wohnsitzwahl ist ein integraler Bestandteil der durch Art 8 EMRK geschützten persönlichen Autonomie. Auch die Wohnadresse ist daher eine vom Schutz des Art 8 EMRK umfasste persönliche Information. Auch Personen von öffentlichem Interesse haben eine legitime Erwartung auf Schutz und Respekt ihres Privatlebens.
Da es nicht um einen staatlichen Eingriff ging, hatte der EGMR zu prüfen, ob der Konventionsstaat seinen positiven Verpflichtungen nachgekommen war, für einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Beschwerdeführerin auf Schutz ihrer Privatsphäre und dem durch Art 10 EMRK gesicherten Recht auf freie Meinungsäußerung zu sorgen. Entscheidend war daher der Beitrag der veröffentlichten Information zu einer Debatte von allgemeinem Interesse und die Schwere des erfolgten Eingriffs in die Privatsphäre.
Selbst unter der Annahme, dass der Bericht über den Einbruch bei einer Prominenten einen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, etwa über die Kriminalität schlechthin, leisten könne, sei aber, so der EGMR, kein Anhaltspunkt dafür zu finden, weshalb sich die Zeitung ohne Einverständnis der Betroffenen entschloss, die exakte Wohnanschrift zu veröffentlichen. Auch in den Entscheidungen der nationalen Gerichte sei nicht zu erkennen gewesen, dass eine entsprechende Abwägung tatsächlich erfolgt wäre; insbesonderen hatten die Gerichte die Auswirkungen der Veröffentlichung auf das Privatleben der Betroffenen nicht in Betracht gezogen.
Der EGMR kam daher zum Ergebnis, dass das Fehlen einer adäquaten Abwägung der beteiligten Interessen und der Auswirkungen der Veröffentlichung auf die Beschwerdeführerin eine Verletzung der dem Staat auferlegten positiven Verpflichtungen nach Art 8 EMRK war. Auch unter Berücksichtigung des dem Konventionsstast zukommenden Beurteilungsspielraums haben die nationalen Gerichte, die eine Abwägung unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des EGMR etablierten Kriterien unterlassen hatten, das Privatleben der Beschwerdeführerin nicht ausreichend und effektiv geschützt.
PS - weil es mir vor kurzem einmal untergekommen ist und hier vielleicht ganz gut dazupasst: im April dieses Jahres hat der FPÖ-Abgeordnete zum Europaparlament Franz Obermayr eine Presseaussendung versandt mit dem Titel: "Türkischer Richter darf nicht über Menschenrechte in der EU urteilen!" Darin sprach er sich gegen den geplanten Beitritt der EU zur EMRK aus, denn er könne "nur das Schlimmste befürchten, sollte sich die EU dieser linkslinken Judikatur unterwerfen."
Dazu wollte ich nur anmerken, dass der "türkische Richter" derzeit eine türkische Richterin ist (blond und ohne Kopftuch übrigens), die natürlich nicht nur - wie im vorliegenden Fall - über Menschenrechte in der Türkei urteilt, sondern zB auch über Menschenrechte in Österreich (zB im Fall S.H. gegen Österreich). Österreich hat sich also dieser nach Ansicht des Herrn Abgeordneten "linkslinken Judikatur" unter Beteiligung einer türkischen Richterin längst unterworfen.
Tuesday, October 09, 2012
EGMR: Pressefreiheit rechtfertigt nicht die Veröffentlichung der Privatadresse eines prominenten Einbruchsopfers
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