Wie zieht man die Grenzlinie zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und dem Bedürfnis des Einzelnen, sein Privatleben zu schützen? Damit hatte sich der EGMR jüngst wieder einmal in der Sache Polanco Torres und Movilla Polanco gegen Spanien (Application no. 34147/06, Urteil vom 21.9.2010) zu befassen (Update 16.03.2011: mit Beschluss vom 21.02.2011 wurde die Überweisung des Falles an die Große Kammer abgelehnt, das Urteil vom 21.09.2010 ist damit endgültig).
Der spanische Verfassungsgerichtshof hatte die Verurteilung von El Mundo wegen der Berichterstattung über vermutete Schwarzgeld-Geschäfte der Frau des Präsidenten des Berufungsgerichts der Autonomen Gemeinschaft Kantabrien (vor dessen Gericht zugleich ein Strafverfahren gegen den Präsidenten von Kantabrien anhängig war), aufgehoben. El Mundo hatte sich auf eine anonnym zugespielte Diskette gestützt und nur in einem Gespräch mit dem entlassenen Buchhalter des betroffenen Unternehmens gegengecheckt. Die Frau des mittlerweile verstorbenen Richters (und dessen Tochter als seine Rechtsnachfolgerin) waren der Auffassung, dass Spanien dadurch ihr Recht auf Schutz des Privatlebens nach Art 8 EMRK verletzt hätten und befassten den EGMR. Sie verwiesen auch darauf, dass das spanische Verfassungsgericht die Verurteilung der Herausgeber der Zeitung Alerta - diese hatte die Meldung von El Mundo ohne eigene Recherche oder Überprüfung übernommen - bestätigt hatte, und sahen dahin ein diskriminierendes Vorgehen der spanischen Justiz, das sie als Verletzung des Art 14 in Verbindung mit Art 8 EMRK rügten.
Der EGMR kam mit 6:1 zum Ergebnis, dass keine Verletzung des Privatlebens stattgefunden hat. Der Artikel in El Mundo betraf eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses und nach Ansicht der Mehrheit des Gerichts wurde auch die erforderliche journalistische Sorgfalt eingehalten: auch das Dementi des betroffenen Unternehmens wurde wiedergegeben und die anonym zugespielten Daten waren durch ein Gespräch mit dem (allerdings entlassenen) Buchhalter des Unternehmens gegengeprüft worden. Damit hatte der Journalist nach Ansicht des EGMR alle effektiven Möglichkeiten ausgeschöpft, die Information zu verifizieren. Auch war nicht behauptet worden, dass der Journalist die Information auf illegalem Weg erhalten habe; dass gegen den Buchhalter ein Strafverfahren anhängig war, beurteilte der EGMR als nicht relevant. Im Ergebnis hat die vom Verfassungsgericht getroffene Abwägung zwischen dem Recht der Beschwerdeführerinnen auf Schutz ihres Privatlebens und den am Spiel stehenden gegenläufigen Interessen ("intérêts concurrents") den anzuerkennden Beurteilungsspielraum nicht überschritten.
Auch dass die Zeitung Alerta verurteilt wurde, ändert nichts: hier sah der EGMR einen ausreichende Unterschied im Tatsächlichen, hatte diese Zeitung doch die Information von El Mundo als eigene Meldung übernommen, ohne die Quelle den Lesern offenzulegen ("avait repris comme propres les informations publiées par 'El Mundo' le même jour, sans pour autant révéler au lecteur que ce dernier était la source directe de l'information diffusée").
Der slowenische Richters Zupančič bezieht sich in seiner abweichenden Meinung auf das "Caroline 1"-Urteil des EGMR (und sein dort zustimmendes Sondervotum). Er ist der Auffassung, dass der Schutz des Privatlebens gegen unprofessionellen oder böswilligen Journalismus geschwächt wird, wenn man - wie es seiner Ansicht nach die Mehrheit im vorliegenden Urteil tut - eine "pro forma"-Bestätigung einer Quelle als ausreichend ansieht.
PS: Die große Kammer des EGMR wird sich demächst auch mit dem Spannungsfeld zwischen Art 10 und Art 8 EMRK zu befassen haben: am 13.10.2010 finden zwei Hearings zu deutschen Fällen statt (Axel Springer AG und von Hannover ["Caroline 2"]).
Tuesday, October 05, 2010
EGMR: journalistische Sorgfalt, Schutz des Privatlebens und die Gefahren des Abschreib-Journalismus
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