Thursday, February 09, 2012

EGMR einstimmig, aber mit einigem Zögern: Verurteilung wegen homophober hate speech an Schule keine Verletzung des Art 10 EMRK

Das heute bekanntgegebene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache Vejdeland ua gegen Schweden (Appl. no.1813/07) ist in zumindest zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen ist es der erste Fall, in dem gegen Homosexuelle gerichtete Agitation als "hate speech" beurteilt wurde, und zum anderen wurden dem Urteil gleich drei - jeweils zustimmende - Sondervoten von insgesamt 5 RichterInnen der aus sieben RichterInnen bestehenden Kammer beigefügt.

Wie bei jedem Kammerurteil können die Parteien nun innerhalb von drei Monaten die Überweisung an die Große Kammer beantragen. Angesichts der Sondervoten, die trotz des übereinstimmenden Ergebnisses tiefgreifende Auffassungsunterschiede innerhalb der Kammer offenlegen, würde ich die Chancen, dass die Sache von der Großen Kammer aufgegriffen wird, im konkreten Fall als gar nicht so schlecht einschätzen. (Update 16.08.2012: der Fall wurde nicht an die Große Kammer weitergezogen, das Urteil ist damit endgültig)

Ausgangsfall
In der Sache ging es um einen Vorfall in einer schwedischen Sekundarschule, in der die Beschwerdeführer vor dem EGMR ungefähr hundert Flugblätter der "Nationalen Jugend" in und auf den Spinden der Schüler verteilt, in denen unter anderem unter der Überschrift "Homosexuelle Propaganda" Homosexualität als Abartigkeit und Sucht bezeichnet wurde; die Schüler wurden aufgefordert, ihren "anti-schwedischen" Lehrern, die Homosexualität als normal und gut beschreiben würden, zu sagen, dass der promiskuitive Lebensstil von Homosexuellen ein Hauptgrund für die Verbreitung von HIV und AIDS sei und das homosexuelle Lobby-Organisationen Pädophilie herunterspielen und sich für eine Legalisierung dieser "sexuellen Perversion" einsetzen würden.

Die Beschwerdeführer waren dafür in letzter Instanz vom schwedischen Obersten Gerichtshof der Agitation gegen eine nationale oder ethnische Gruppe für schuldig befunden worden. Nach der gesetzlichen Definition begeht diese Straftat, wer in einer (öffentlichen) Mitteilung unter Anspielung (ua) auf sexuelle Orientierung eine nationale, ethnische oder andere Gruppe bedroht oder ihr gegenüber Verachtung ausdrückt.*) Der Oberste Gerichtshof war dabei recht gespalten: nur drei der fünf Senatsmitglieder stimmten für die Verurteilung, die Strafen wurden bedingt ausgesprochen und reichten von rund 200 bis rund 2000 Euro.

Eingriff
Einigkeit zwischen den Parteien bestand nur darin, dass die Verurteilung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellte; schon das Vorliegen einer - ausreichend bestimmten - gesetzlichen Grundlage wurde von den Beschwerdeführern bestritten. Der EGMR fand den Gesetzestext ausreichend und anerkannte auch, dass die Bestimmung dem legitimen Ziel dient, den Ruf und die Rechte anderer zu schützen.

Abwägung
Bei der Abwägung, ob der Eingriff auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, akzeptierte der EGMR zwar, dass die Flugblätter das legitime Ziel verfolgt hätten, eine Debatte über mangelnde Objektivität im schwedischen Schulunterricht zu beginnen, betonte aber, dass aber auch die Wortwahl beachtet werden muss. Die Statements hätten schwerwiegende auf Vorurteilen basierende Vorwürfe enthalten, auch wenn nicht direkt zu Hassdelikten aufgerufen wurde. Aufstachelung zu Hass setze nicht notwendigerweise einen Aufruf zu einer Gewalttat oder anderen kriminellen Handlungen voraus. Auch Angriffe auf Personen, die durch Beleidigung, Lächerlichmachen oder Verleumdung bestimmter Bevölkerungsgruppen erfolgten, könnten ausreichen, um einen Eingriff in unverantwortlich ausgeübte Äußerungsfreiheit rechtfertigen. Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung ist ebenso schwerwiegend wie Diskriminierung aufgrund von "Rasse, Hautfarbe oder Abstammung".

Besonders berücksichtigte der EGMR, dass die Flugblätter in den Spinden von Jugendlichen hinterlassen wurden, die keine Möglichkeit hatten, sie nicht entgegen zu nehmen; außerdem erfolgte die Vertielung in einer Schule, die von den Beschwerdeführern nicht besucht wurde und zu der sie keinen freien Zugang hatten. Der EGMR würdigt dann die vom schwedischen Obersten Gerichtshof vorgenommene sorgfältige Abwägung, und berücksichtigt als wesentlichen Faktor auch die geringen - bedingt ausgesprochenen - Strafen, sodass er zum Ergebnis kommt, dass die Beschwerdeführer durch ihre Verurteilung nicht in ihren Rechten nach Art 10 EMRK verletzt wurden.

Zögerliche zustimmende Sondervoten
Das Urteil erging einstimmig, aber die Sondervoten sind bemerkenswert: Der Kammervorsitzende Spielmann (dem sich die deutsche Richterin Nussberger anschloss), betont, dass er sich nur mit äußerstem Zögern ("with the greatest hesitation") dazu durchringen konnte, keine Verletzung des Art 10 EMRK festzustellen. Besonders wendet er sich gegen die Qualifikation als "hate speech", die - "in the proper meaning of the term"  - schon nach Art 17 EMRK per se keinen Schutz nach Art 10 EMRK genieße. Im konkreten Fall könne er die Entscheidung aber mittragen (wieder: "albeit very reluctantly"), weil die Flugblätter an einer Schule verteilt  wurden, zu der die Beschwerdeführer keinen freien Zugang hatten. Auch wenn der Ort der Verteilung nach schwedischem Recht kein erschwerender Umstand sei, so haben die faktischen Umstände der Verteilung doch Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Kammervorsitzender Spielmann schließt sein Sondervotum noch mit einigen allgemein gehaltenen Hinweisen auf die Diskriminierung der LGBT-Community: fast wirkt es, als wolle er dadurch belegen, dass er sich trotz seiner zögerlichen Zustimmung zur Entscheidung des Problems der weit verbreiteten Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung sehr bewusst ist.

Auch der slowenische Richter Zupančič hat gezögert, wenn auch vielleicht nicht ganz so intensiv wie Spielmann (Zupančič spricht nur von "some hesitation"). Er vergleicht den Fall mit dem vom US Supreme Court entschiedenen Fall Snyder v Phelps (weiterführende Übersicht dazu auf SCOTUSblog) und er meint, dass der schwedische Oberste Gerichtshof vielleicht ein wenig Überempfindlichkeit gezeigt habe. Die Bedeutung des Falls Snyder v. Phelps, wo es um Schadenersatz für absichtliche Zufügung von "emotional distress" ging, für die konkrete Argumentation ist nicht einfach nachzuvollziehen. Auch warum Zupančič letztlich zugestimmt hat, wird aus dem Sondervotum nicht wirklich klar; da er zum Abschluss darauf hinweist, dass die selben Worte, wären sie einer Tageszeitung veröffentlicht worden, wohl nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung geführt hätten, gehe ich davon aus, dass auch für ihn die Umstände der Verteilung entscheidend waren. Interessant auch der Satz: "Nevertheless, we seem to go too far in the present case – on the grounds of proportionality and considerations of hate speech – in limiting freedom of speech by overestimating the importance of what is being said."

Sondervotum: verpasste Chance für konsolidierten Zugang zu hate speech 
Kein Problem mit dem Ergebnis, dass Art 10 EMRK verletzt wurde, hat die ukrainische Richterin Yudkivska, der sich der Liechtensteiner Richter Villiger anschließt. In ihrem Sondervotum betont sie, dass hate speech destruktiv für die demokratische Gesellschaft als Ganzes sei und der Fall daher nicht nur als Abwägungsproblem zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung der Beschwerdeführer einerseits und dem Schutz des Rufs und der Rechte der angegriffenen Bevölkerungsgruppe gesehen werden sollte. Yudkivska bemängelt in ihrem Sondervotum daher, dass der EGMR eine Chance verpasst habe, einen einheitlichen Zugang zu hate speech gegen Homosexuelle zu finden ("consolidate an approach to hate speech").

Es bleibt abzuwarten, ob die Große Kammer die verpasste Chance aufgreift (Update 16.08.2012: wie schon oben ergänzt: das Urteil ist mittlerweile endgültig).

Update 10.02.2012: Der EGMR hat ein neues fact sheet zu "hate speech" veröffentlicht, in dem der Fall Vejdeland bereits berücksichtigt ist.
Update 17.02.2012: Siehe auch die Besprechung bei Strasbourg Observers
Update 20.02.2012: Siehe auch die Besprechung im ECHR-Blog
Update 14.03.2012: Siehe auch die Besprechung von Karwan Eskerie im UK Human Rights Blog

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*) Der genaue Text der Strafbestimmung lautet: "Den som i uttalande eller i annat meddelande som sprids hotar eller uttrycker missaktning för folkgrupp eller annan sådan grupp av personer med anspelning på ras, hudfärg, nationellt eller etniskt ursprung, trosbekännelse eller sexuell läggning, döms för hets mot folkgrupp till fängelse i högst två år eller om brottet är ringa, till böter."

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