In seinem heutigen Urteil im Fall Růžový panter, o.s. gegen Tschechische Republik (Appl. no. 20240/08) hatte sich der EGMR gewissermaßen mit Kollateralschäden im Kampf gegen die Korruption zu befassen: das "zivile Opfer" war eine Privatperson, die aufgrund eher zufälliger Zusammenhänge mit vollem Namen im Zusammenhang mit einer politisch heißen Steuerhinterziehungsaffäre auf der Website einer Anti-Korruptions-NGO genannt wurde. Die von den tschechischen Gerichten der NGO auferlegte Widerrufs- und Veröffentlichungspflicht sowie die Pflicht zur Zahlung einer Entschädigung wurden vom EGMR nicht als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt.
Der EGMR zeigt sich dabei zum einen erkennbar bemüht, im Hinblick auf die Beurteilung der inkriminierten Worte der Beurteilung durch die nationalen Gerichte zu folgen (im Vergleich dazu hat sich der EGMR im Fall Pfeifer gegen Österreich - dazu hier - recht weit vorgewagt in der Beurteilung, welcher Inhalt dem dort relevanten Begriff der "Jagdgesellschaft" zukam, was in einer abweichenden Meinung des österreichsichen ad hoc-Richters Schäffer kritisiert wurde). Die oft angebrachte Kritik am EGMR als einer "vierten/fünften Instanz" scheint zu wirken.
Zum anderen ist bemerkenswert, dass der EGMR an die Veröffentlichung auf einer Website einer NGO, die sich der Korruptionsbekämpfung widmet, (implizit) strengere Kriterien anzulegen scheint als an "normale" Presseveröffentlichungen: er betont nämlich, dass es sich um eine Website, nicht um die "allgemeine Presse" gehandelt hat und die Öffentlichkeit von der Website einer Anti-Korruptions-NGO glaubwürdige und seriöse Informationen erwartet; die NGO müsse mit der notwendigen Aufmerksamkeit und Mäßigung ("la vigilance et la modération nécessaires") vorgehen. Ich glaube zwar nicht, dass sich hier wirklich ein unterschiedlicher Standard entwickelt, bei dem NGO-Websites zur Mäßigung verpflichtet wären, während die Krawallpresse, weil man von ihr ohnehin keine seriösen Informationen erwartet, noch weniger Zurückhaltung zeigen müssten - aber ein wenig hat man bei der Lektüre schon diesen Eindruck, es könnte auch in diese Richtung gehen (das Urteil ist nicht endgültig, die Parteien können noch die Verweisung an die Große Kammer beantragen).
Zum Urteil im Detail
1. Vorgeschichte
"Růžový Panter" (rosaroter Panther) ist eine tschechische Nichtregierungsorganisation, die gegen Korruption in der öffentlichen Verwaltung kämpft. Am 4. Oktober 2004 veröffentlichte diese NGO eine Pressemitteilung in der Form einer "Ladung", gerichtet an den Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses (späterer Innenminister) I.L., in der dieser im Zusammenhang mit einer Steuerhinterziehungs-Affäre betreffend leichte Heizöle aufgefordert wurde, seine Beziehungen zu bestimmten Personen klarzustellen.
Unter anderem wurde erwähnt, dass I.L. fünf Jahre zuvor an einer Kilimandjaro-Expedition teilgenommen habe, bei der er einen Beteiligten des Heizöl-Skandals, der später wegen Vorbereitung eines Mordes verurteilt wurde, getroffen habe. Außerdem habe er ein Lokal in seinem Haus an T.P. vermietet, der Mitglied des Verwaltunsgrates einer Gesellschaft war, in deren Aufsichtsrat wiederum M.S. den Vorsitz führte, der (später) ebenfalls im Zusammenhang mit der Heizöl-Affäre wegen (versuchten) Mordes verurteilt wurde. I.L. wurde aufgefordert, öffentlich und konkret seine Beziehungen zu V.K. und T.P. klarzustellen und zu erklären, ob er es als annehmbar ansehe, als Vizepräsident des Abgeordnetenhauses und Kandidat der Opposition für den Innenminister ein Büro in seinem Haus an jemanden zu vermieten, der damals in seinen geschäftlichen Aktivitäten mit Personen verbunden war, die wegen Vorbereitung eines Mordes im Zusammenhang mit der Heizölaffäre verurteilt wurden.
T.P., dessen Name - wie alle anderen - in der Pressemitteilung ausgeschrieben war, war der Ansicht, dass die Mitgliedschaft in einem Verwaltungsrat einer Gesellschaft, in deren Aufsichtsrat der später wegen versuchten Mordes verurteilte M.S. den Vorsitz führte, nicht als Verbindung/Vereinbarung oder gar Verschwörung ("liaison ou pactisation" laut französischem Urteilstext; das tschechische Wort war "spolčení", das auch als Verschwörung übersetzt werden kann) mit Personen, die später verurteilt wurden, angesehen werden könne, und begehrte, gestützt auf die Verletzung seines Persönlichkeitsrechtes, die Zurückziehung der Presemitteilung, die Veröffentlichung einer Entschuldigung auf der Website der NGO und eine Geldentschädigung. Das nationale Gericht gab dem Begehren statt, die Geldentschädigung wurde mit rund € 3.000 festgesetzt; Rechtsmittel der NGO blieben erfolglos.
Interessant ist, dass der EGMR nach Darstellung der wesentlichsten Entscheidungsgründe der nationalen Gerichte in einem eigenen Abschnitt ("Relevante interne Praxis") die Praxis des tschechischen Verfassungsgerichtshofs bei der Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Schutz von Persönlichkeitsrechten darlegt (Nr. 15 und 16. des Urteils). Im Lichte des Verfahrensergebnisses muss man das wohl so interpretieren, dass der EGMR damit zum Ausdruck bringen wollte, dass es in der Tschechischen Republik in der Regel eine ausreichende, der Rechtsprechung des EGMR Rechnung tragende Kontrolle durch das nationale Verfassungsgericht gibt.
Außer Streit stand, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Minungsäußerung vorlag, dass dieser gesetzlich vorgesehen war und einem legitimen Ziel diente. Zu prüfen blieb daher, ob der Eingriff auch "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, um das legitime Ziel zu erreichen.
Tatsachen- oder Werturteil - Begriffsauslegung "spolčení"
Im konkreten Fall haten die Gerichte der NGO vorgeworfen, in ihrer Presseinformation ungenaue und verzerrende Worte verwendet zu haben, durch die beim Leser den falschen Eindruckhervorrufen konnten, dass T.P. anderen Personen bei der Begehung von Betrugshandlungen oder der Vorbereitung eines Mordes geholfen habe. Die NGO war dagegen der Meinung sie habe nur auf die zutreffende geschäftliche Verbindung der Personen hingewiesen. Nach Ansicht des EGMR sei es schwierig, in diesem Fall einen klaren Trennstrich zwischen Tatsachenmitteilung und Werturteil zu ziehen, weil die Verurteilung der NGO nicht darauf gestützt war, dass die Tatsachen falsch berichtet worden waren, sondern wegen der Art der Präsentation und wegen des Eindrucks, der beim Leser entstehen konnte. Der Text sei deshalb als diffamierend beurteilt worden, weil durch die "fahrlässige" Verwendung eines unpräzisen Begriffs, der eine strafrechtliche Bedeutung ("Verschwörung") hat, über T.P. irreführende Informationen gegeben worden seien, die sich von der Tatsachengrundlage entfernt hätten. Im Original:
De l’avis de la Cour, il peut s’avérer difficile de tracer en l’occurrence une ligne de partage précise entre les faits et les jugements de valeur car la condamnation de la requérante n’a pas eu pour fondement principal ses allégations factuelles en tant que telles, mais plutôt la manière dont elles ont été présentées au public et l’impression qu’elles pouvaient faire naître chez le lecteur. En effet, le texte a été jugé diffamatoire par les tribunaux puisqu’en employant le terme « pactiser » relevant selon eux du droit pénal, en ayant recours à des expressions imprécises ou déformées et en procédant à des déductions négligentes, la requérante avait communiqué au sujet de T.P. des informations trompeuses et s’écartant de leur base véridique.Der EGMR erkennt an, dass eine bösgläubige Verzerrung der Wirklichkeit manchmal die Grenzen zulässiger Kritik überschreiten kann: eine Tatsachenmitteilung kann mit ergänzenden Bemerkungen, Werturteilen, Mutmaßungen und Unterstellungen verbunden ein, die in den Augen der Öffentlichkeit ein falsches Bild erzeugen können. Auch wenn der Begriff der Verschwörung/Verbindung ein Werturteil sein könnte, müsse er auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhen, um nicht exzessiv zu sein. Im vorliegenden Fall hatten die nationalen Gerichte deutlich erklärt, weshalb der verwendete Begriff in seiner strafrechtlichen Bedeutung zu verstehen war, wobei sie den gesamten Text der Aussendung in seinem Zusammenhang berücksichtigt haben. Die nationalen Gerichte seien besser als der EGMR in der Lage, die gesamten Tatsachen zu bewerten und die Wirkung der verwendeten Worte zu beurteilen. Im konkreten Fall hätten die nationalen Gerichte auch die Umstände, unter denen die beleidigenden Worte formuliert worden sind, geprüft und die beteiligten Interessen abgewogen. Unter diesen Umständen sieht der EGMR keine Veranlassung zu glauben, dass die beteiligten Interesssen nicht korrekt abgewogen worden wären oder dass die Schlussfolgerungen der nationalen Gerichte den Umständen des Falles nicht entsprochen hätten und demnach willkürlich gewesen wären.
Der EGMR geht dann nochmals (in Nr. 33 des Urteils) auf die von den nationalen Gerichten getroffene Abwägung ein, die sich ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EGMR bezogen habe und zutreffend erkannt habe, dass das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung durch entgegenstehende Rechte - hier durch das Recht von T.P. auf Schutz seiner Persönlichkeit - begrenzt ist. Die Ausübung des durch Art 10 EMRK geschützten Rechts bringt "Pflichten und Verantwortung" mit sich und steht daher unter der Bedingung, dass im guten Glauben, auf der Grundlage von genauen Tatsachen und in verlässlicher und präziser Weise gehandelt wird.
Veröffentlichung auf NGO-Website - Sorgfaltspflicht
Der EGMR unterstreicht, dass im vorliegenden Fall der Text nicht in der allgemeinen Presse veröffentlicht wurde, sondern auf einer Website der NGO, die sich den Kampf gegen die Korruption in der Verwaltung zum Ziel gesetzt hat. Deshalb sei auch die Ansicht der nationalen Gerichte zu teilen, dass dies dazu führen kann, dass die Öffentlichkeit diese Informationen als glaubwürdig und seriös ansehen wird. Auch wenn es daher zutrifft, dass die NGO zur Erreichung ihres Ziels in der Lage sein muss, Tatsachen zu veröffentlichen, die das Interesse der Öffentlichkeit finden und auch zur Transparenz der Aktivitäten der öffentlichen Gewalt beitragen, obliegt es ihr doch, dabei mit der notwendigen Aufmerksamkeit und Mäßigung vorzugehen. Im Original:
"La Cour souligne que, en l’occurrence, le texte litigieux n’a pas été publié dans la presse commune mais sur le site internet de l’association requérante qui déclare vouloir lutter contre la corruption dans l’administration; de ce fait, il convient de souscrire à l’avis des tribunaux nationaux selon lequel le public était susceptible de considérer de telles informations comme crédibles et sérieuses. Ainsi, s’il est vrai que, pour mener sa tâche à bien, l’intéressée doit pouvoir divulguer des faits de nature à intéresser le public et contribuer ainsi à la transparence des activités des représentants du pouvoir public, il lui incombe, ce faisant, d’agir avec la vigilance et la modération nécessaires."Der EGMR räumt ein, dass die NGO durch die Veröffentlichung zur Kontrolle der persönlichen Beziehungen des Abgeordneten I.L., die zweifelhaft erschienen, beigetragen hat. Er hält aber fest, dass die NGO jede Möglichkeit gehabt hätte, dieses Ziel zu erreichen, ohne deshalb den vollen Namen von T.P. zu nennen, der eine einfache Privatperson war, bzw. ohne die missverständlichen Begriffe zu verwenden.
Der EGMR kommt damit zum Ergebnis, dass für die verhängte Sanktion stichhaltige und hinreichende Gründe vorlagen und dass die Sanktion auch verhältnismäßig war (Zivilverfahren, vergleichsweise geringe Entschädigung, "auch wenn es der NGO schwer gefallen sein mag, die Entschädigung zu bezahlen"), sodass keine Verletzung des Art 10 EMRK stattgefunden hat (einstimmig).
PS: Gegen den damaligen Abgeordneten und nachmaligen Minister I.L. (Ivan Langer) gab es auch später noch Korruptionsvorwürfe; die Schlagzeile eines diesbezüglichen Berichts vom 13.1.2011 lautet: Langer has bad memory, lack of information. Ich stelle jetzt keinen Bezug zum aktuellen österreichischen Untersuchungsausschuss zur Klärung von Korruptionsvorwürfen her.
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