Friday, May 01, 2015

EGMR: Vorwurf, ein Richter habe im Urteil von Dingen geträumt, die nicht da wären, ist nicht von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt

In einer gestern bekanntgegebenen Entscheidung vom 07.04.2015, Zoltán Martin gegen Ungarn (Appl. no. 69582/13) zeigte der EGMR wieder einmal die Grenzen der anwaltlichen Meinungsäußerungsfreiheit vor Gericht auf.

Zum Ausgangsfall:
Ein ungarischer Anwalt hatte in einem Rechtsmittel unter anderem geschrieben, dass das erstinstanzliche Gericht (in einem Arzthaftungsfall) von Schmerzen der Kläger "geträumt" habe. Der Richter habe in seinem Urteil von Dingen geträumt, die nicht da gewesen seien; er sei voreingenommen gewesen und habe das Sachverständigengutachten außer Acht gelassen. In einem weiteren Schriftsatz ergänzte der Anwalt noch, dass der behauptete schwere Rechtsbruch des Richters nicht durch mangelnde Erfahrung erklärt werden könne, da es sich um eine erfahrenen Richter handle. Der Anwalt beantragte den Ausschluss des Richters und äußerte gegenüber dem Gerichtspräsidenten den Verdacht, der Richter habe kriminell gehandelt. Eine strafrechtliche Untersuchung gegen den Richter wurde eingestellt.

Aufgrund einer Beschwerde des Richters bei der Anwaltskammer wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das schließlich mit einer Geldstrafe von umgerechnet rund 400 € endete. Rechtsmittel dagegen blieben erfolglos.

Entscheidung des EGMR:
Auch vor dem EGMR hatte der Anwalt keine Chance: seine auf Art 10 EMRK gestützte Beschwerde wurde einstimmig als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Es liegt zwar ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit vor, dieser ist jedoch im Sinnne des Art 10 Abs 2 EMRK zum Schutz des Ansehens der Rechtsprechung ("authority of the judiciary") gerechtfertigt. Die Äußerungen des Anwalts waren beleidigend, hatten den erforderlichen Respekt vermissen lassen und den Richter beschuldigt, eingebildete Elemente in sein Urteil aufgenommen zu haben; die Kritik hätte auch ohne derart beleidigende Wortwahl vorgebracht werden können:
The impugned statements were expressed in an offensive tone, denying the judge the requisite respect, accusing him of having incorporated imaginary elements in a judgment. There is nothing to suggest that the applicant could not have raised the substance of his criticism without using the impugned language.
Da die verhängte Sanktion auch bloß eine geringe Geldstrafe in einem nicht öffentlichen Disziplinarverfahren war und sich nicht auf das Recht zur Ausübung des Anwaltsberufs auswirkte, kam der EGMR zum Ergebnis, dass der Eingriff zum Schutz des Ansehens der Rechtsprechung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Eine gewisse Ironie liegt vielleicht darin, dass der EGMR auch berücksichtigt, dass durch das nicht öffentlich geführte Disziplinarverfahren der Sachverhalt nicht in der Öffentlichkeit bekannt wurde - was sich freilich nun durch die Entscheidung des EGMR ändert, da darin der volle Namen des Anwalts, sein Geburtjahr und und sein Wohnort genannt sind. 

Vergleichbare Fälle:
Der EGMR verweist in seiner Entscheidung auch auf vergleichbare Fälle, aus denen sich entsprechend ableiten lässt, was man als Anwalt gegenüber Behörden und Gerichten eher nicht tun sollte. In folgenden Fällen waren (Disziplinar-)Strafen gegen die betroffenen Anwälte nicht als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt worden (Ausnahme: im Fall Saday war eine gerichtliche Strafe als unverhältnismäßig und - nur - daher als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt worden):
  • 18.10.1995, Meister gegen Deutschland (Appl. no. 25157/94): der dort beschwerdeführende Anwalt (der sich schon in einem vorangegangenen Fall erfolglos gegen zwei Disziplinarstrafen an den EGMR gewandt hatte) hatte erstens Mitarbeiter eines Ausländeramtes als "Primitivlinge" bezeichnet, die nicht normal denken könnten, er hatte zweitens zu einer staatsanwaltlichen Entscheidung bemerkt, dass er sich nicht entscheiden könne, ob er sich mehr über die Dummheit, die Unverfrorenheit oder die Nachlässigkeit der Entscheidung beschweren solle; drittens hatte er in einem Schreiben an ein Ordnungsamt gemeint, dass das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge "in seiner üblichen betrügerischen Art" Asyl verweigert habe, sich über "offensichtliche Lügen" in einer Entscheidung beschwert und den entscheidenden Beamten die Mentalität seniler Jasager vorgeworfen; viertens dem Präsidenten eines Oberverwaltungsgerichts die Meinung unterstellt, man solle einfach in Ruhe weiter arbeiten, auch wenn das Leben und die Freiheit am Spiel stünden und dass Appelle an das Gewissen als Sakrileg betrachtet würden; fünftens hatte er nach einem Verfahren gegen einen Anwalt an das Gericht geschrieben und den Wucher des gegnerischen Anwalts, die schamlose Parteilichkeit der Anwaltskammer und die unverschämte Quasselei der Kammer des Landgerichts gerügt, die treulich zusammengewirkt hätten um eine Verfahrenspartei zu betrügen; sechstens hatte er gegenüber einem Sozialgericht ausgeführt, dass die Entscheidung, keine einstweilige Maßnahme zutreffen, Gaunern zu Gesichts stünde, nicht aber einem Gericht.
  • 10.04.1997, Meister gegen Deutschland (Appl. no. 30549/96): derselbe Anwalt wie im vorher genannten Fall hatte in einer Dienstaufsichtsbeschwerde an den Justizminister von NRW ua Folgendes geschrieben: "Offenbar haben hier hochreizbare Stießel zu Gericht gesessen, denen ihre Macht zu Kopf gestiegen ist." In einem ergänzenden Schreiben an den Minister hieß es: "Kann ich damit rechnen, daß Sie noch etwas tun werden, was der erwiesenen richterlichen Willkür Einhalt gebietet?" Sofern er auf die richterliche Unabhängigkeit hinweisen sollte, wäre der Minister für den Anwalt "einer jener Hanswurste, denen vor lauter Geschwätz der Nerv für die Notwendigkeiten eines Staates abhanden gekommen ist." Nach der Antwort des Ministers warf er ihm vor, dass er seine "Hände in der Unschuld gesetzlich verordneter Dummheit" wasche. In einem zweiten Fall hatte der Anwalt in einem Schriftsatz an ein Verwaltungsgericht eine Entscheidung dieses Gerichts als "voreingenommenes Geschwätz" und "schamlosen Betrug" kritisiert; nach einer Beschwerde gegen ihn legte er nach, dass "der ergangene Beschluß von Dreistigkeit und Faulheit strotzt.". 
  • 30.06.1997, W.R. gegen Österreich (Appl. no. 26602/95): hier war eine Disziplinarstrafe ua deshalb verhängt worden,weil der Anwalt die Rechtsansicht eines Richters als "lächerlich" bezeichnet hatte. 
  • 14.01.1998, Mahler gegen Deutschland (Appl. no. 29045/95): hier hatte der Anwalt einem Staatsanwalt vorgeworfen, die Anklageschrift "im Zustand der Volltrunkenheit" verfasst zu haben.
  • 08.01.2004, A. gegen Finnland (Apl. no. 44998/98): der Anwalt hatte sich in einem Rechtsmittel herabsetzend über die Erstrichterin geäußert (sie habe den Beschuldigten verteidigt, ihr Verhalten sei auf ein bestimmtes Ergebnis ausgerichtet, sie habe die Entscheidung mit einer dummen Äußerung eingeleitet, ihre Präsentation sei voreingenommen und einseitig, sie habe die Klage mit gekünstelten Erwägungen abgewiesen und einen der Gründe frei erfunden, sie habe ihre Entscheidung auf ein Märchen gestützt, ihr Gestammel sei naiv, sie verfälsche die Fakten, sie habe Gründe für die Abweisung der Klage erfunden und die Begründung sei kleinlich, die Feststellungen seien ohne Grundlage, sie habe sich schon während des Verfahrens entschieden, die Klage abzuweisen und die Fakten entsprechend verdreht).
  • 30.03.2006, Saday gegen Türkei (Appl. no. 32458/96): der Anwalt hatte Richter als "Henker in Talaren" ("bourreaux vêtus de robes") bezeichnet.
  • 31.05.2011, Žugić gegen Kroatien (Appl. no. 3699/08): Vorwurf gegenüber einer Richterin, sie sei ignorant und inkompetent; siehe dazu im Blog hier.
  • 27.01.2015, Kincses gegen Ungarn (Appl. no. 6632/10); in einer Berufung wurde Kritik an der professionellen Kompetenz des Erstrichters geübt ("clear-cut professional incompetence").
PS: vergangene Woche hat der EGMR in einem viel bedeutenderen Fall anwaltlicher Meinungsäußerung entschieden: das Urteil der Großen Kammer vom 23. April 2015, Morice gegen Frankreich (Appl. no. 29369/10; Pressemitteilung des EGMR) drehte das in dieser Sache ergangene Kammerurteil um und schützt damit die Möglichkeiten eines Anwalts, in Ausübung des Mandats wahrgenommene Missstände in der Justiz auch öffentlich anzuprangern. Ich hatte keine Zeit, zu diesem recht umfassenden Urteil hier im Blog zeitnah etwas zu schreiben; ich verweise dazu auf den Beitrag "Straßburg schützt anwaltliches Recht auf Justizkritik" von Maximilian Steinbeis auf verfassungsblog.de.

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