Thursday, September 15, 2016

EuGH: Abweichen von Terminierungsempfehlung zulässig, wenn es aufgrund der tatsächlichen Umstände des konkreten Falles geboten ist

Ein Dauerbrenner der Telekom-Regulierung ist der Streit um die Höhe der Mobilterminierungsentgelte. Besonders hartnäckig waren und sind die Auseinandersetzungen dazu in den Niederlanden: dort kam es zu einer Art "stand off" zwischen der Regulierungsbehörde (früher OPTA, nun ACM) - unterstützt durch die Europäische Kommission - einerseits und dem College van Beroep voor het bedrijfsleven (CBb, Erst- und zugleich Höchstgericht in den meisten Angelegenheiten der Telekomregulierung) andererseits. Das heutige Urteil des EuGH in der Rechtssache C-28/15, Koninklijke KPN ua, bringt aber leider nicht die erhoffte Auflösung, sondern bleibt in der Kernfrage doch recht vage (was freilich auch mit der Art der Fragestellung zusammenhängt).

Zum Ausgangsfall:
Der Ausgangsstreit geht gut sechs Jahre zurück. Die Regulierungsbehörde legte 2010 zunächst Mobilterminierungsentgelte nach dem Kostenrechnungsmodell "pure BU-LRIC" fest, wie dies von der Kommission in der Empfehlung über die Regulierung der Festnetz- und Mobilfunk-Zustellungsentgelte in der EU empfohlen wird. Das Gericht (CBb) vertrat dagegen die Auffassung, es wäre ein "BU-LRIC plus"-Modell zu verwenden gewesen (was vereinfacht gesagt zu höheren Mobilterminierungsentgelten führt), und hob die Entscheidung der Behörde auf (einer der Richter ist übrigens ein University of Chicago-geschulter "Law and Economics"-Professor, der sich in solchen Verfahren mit recht prononcierten Positionen einbringt, was aus der Regulierungsbehörde zur Kritik führte, das Gericht wolle hier über die Funktion der Rechtskontrolle hinaus selbst Regulator spielen).

In der Folge notifizierte die Regulierungsbehörde den zunächst im Sinne der CBb-Entscheidung geänderten Maßnahmenentwurf auf Basis "BU-LRIC plus" im Verfahren nach Art. 7a RahmenRL. Die Kommission sprach sich dagegen aus und empfahl, den Entwurf zurückzuziehen. Die Regulierungsbehörde erließ schließlich doch eine Entscheidung, in der sie sich, der Kommission folgend, am "pure BU-LRIC"-Modell orientierte. Im Rechtsmittelverfahren legte das CBb dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor.

EuGH-Urteil

1. Eine Empfehlung ist eine Empfehlung
Die erste Frage richtete sich auf die Kompetenz des in einem Verfahren über die Entgeltregulierung angerufenen Gerichts, von dem in der Terminierungsentgelte-Empfehlung vorgesehenen Kostenrechnungsmodell abzuweichen. Die Antwort darauf ist nicht allzu vielsagend:

Empfehlungen sind nach Art. 288 AEUV grundsätzlich nicht verbindlich, außerdem gestatten Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 RahmenRL den Regulierungsbehörden ausdrücklich, von den nach Art. 19 Abs. 1 RahmenRL erlassenen Empfehlungen - wie der Terminierungsentgelte-Empfehlung - abzuweichen. Also ist die Regulierungsbehörde auch an diese Empfehlung nicht gebunden (Rn. 35). Die Regulierungsbehörde hat grundsätzlich den in der Empfehlung gegebenen Hinweisen zu folgen. "Nur wenn sie im Rahmen ihrer Beurteilung einer konkreten Situation den Eindruck hat, dass das in dieser Empfehlung empfohlene 'reine Bulric'-Modell den Umständen nicht angemessen ist, kann sie unter Angabe ihrer Gründe von ihr abweichen" (Rn. 38).

Dasselbe gilt auch für das mit einem Rechtsmittel nach Art. 4 RahmenRL angerufene Gericht: es kann von der Empfehlung abweichen (Rn. 40), muss sie aber berücksichtigten (Rn. 41) und kann dann (aber "nur dann") von ihr abweichen, "wenn es dies aufgrund der tatsächlichen Umstände des konkreten Falles, insbesondere der Besonderheiten des Marktes des betreffenden Mitgliedstaats, für geboten erachtet" (Rn. 42). Mit anderen Worten: Abweichen von der Empfehlung ist erlaubt, aber nur mit guter Begründung im konkreten Einzelfall - eine Antwort, für die es den EuGH nicht wirklich gebraucht hätte.

2. Regulierungsziele und Verhältnismäßigkeit: auch vom Gericht zu prüfen
Mit der zweiten Frage wollte das CBb wissen, inwiefern es ihm gestattet sei, bei der Überprüfung der Entgeltregulierungsmaßnahme deren Verhältnismäßigkeit, Eignung und Angemessenheit im Hinblick auf die Ziele und Regulierungsgrundsätze nach Art. 8 RahmenRL und Art. 13 ZugangsRL zu prüfen. Insbesondere stellte das CBb auch die Frage, inwiefern auch dem Umstand Rechnung getragen werden darf, dass die Maßnahme (hier: "pure BU-LRIC"-Modell für Festlegung der Terminierungsentgelte) zur Förderung der Interessen der Endnutzer auf einem anderen, nicht regulierten (Endkunden-)Markt dient.

Der EuGH verwies zunächst auf die mit den Regulierungsmaßnahmen zu verfolgenden Ziele nach Art. 8 RahmenRL (grob zusammengefasst: Förderung des Wettbewerbs, Beitrag zur Entwicklung des Binnenmarkts, Förderung der Interessen der Unionsbürger) sowie auf das Ziel der ZugangsRL (Gewährleistung von nachhaltigem Wettbewerb und Interoperabilität sowie Förderung der Verbraucherinteressen). Die Maßnahmen der Entgeltregulierung müssen der Art des aufgetretenen Problems entsprechen, im Hinblick auf die Ziele des Art. 8 RahmenRL angemessen und gerechtfertigt sein und dürfen nur nach der Anhörung gemäß den Art. 6 und 7 RahmenRL auferlegt werden. Bemerkenswert ist, dass der EuGH den nationalen Regulierungsbehörden (NRB) die (wohl gleichzeitige) Beachtung aller Regulierungsziele auferlegt, was vom Gericht zu prüfen ist. Rn. 50 des Urteils lautet:
Folglich muss sich die NRB beim Erlass einer Entscheidung, mit der sie den Betreibern aufgrund der Art. 8 und 13 der Zugangsrichtlinie Verpflichtungen auferlegt, dessen vergewissern, dass diese Verpflichtungen sämtlichen in Art. 8 der Rahmenrichtlinie und in Art. 13 der Zugangsrichtlinie genannten Zielen gerecht werden. Zudem muss ein nationales Gericht im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle dieser Entscheidung sicherstellen, dass die NRB allen sich aus diesen beiden Artikeln ergebenden Anforderungen genügen. [Hervorhebung hinzugefügt]
Dass die Regulierungsbehörde eine Maßnahme (Entgeltregulierung unter Verwendung des "pure BU-LRIC"-Modells) auf die Terminierungs-Empfehlung gestützt hat, entzieht dem Gericht nicht die Befugnis, die Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Das nationale Gericht kann daher "im Rahmen seiner Kontrolle unter Anwendung der nationalen Verfahrensvorschriften prüfen, ob die Kläger hinreichende Anhaltspunkte dargetan haben, um glaubhaft zu machen, dass die Anwendung dieses Modells gegebenenfalls angesichts der Besonderheiten des betreffenden Marktes im Hinblick auf die in Art. 8 der Rahmenrichtlinie und in Art. 13 der Zugangsrichtlinie genannten Ziele unverhältnismäßig ist."

3. Interessen der Verbraucher auf Endkundenmarkt sind zu berücksichtigen
Die Regulierungsbehörde muss, so der EuGH in Rn. 54 des Urteils, "die Interessen der Endnutzer und der Verbraucher unabhängig davon berücksichtigen, auf welchem Markt die Verpflichtungen auferlegt werden. Da die Endnutzer und die Verbraucher definitionsgemäß auf den Vorleistungsmärkten für die Festnetz- und Mobilfunkzustellung nicht präsent sind, ist es zudem äußerst wichtig, dass ihre Interessen bei der Prüfung der Wirkung, die eine von der NRB auf einem Vorleistungsmarkt auferlegte Preisverpflichtung auf einem Endkundenmarkt haben soll, berücksichtigt und bewertet werden können."

Damit ist auch der Rahmen für das über ein Rechtsmittel entscheidende Gericht festgelegt: es kann bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Entgeltregulierungsmaßnahme prüfen, ob die auf dem Vorleistungsmarkt (hier: Mobilterminierung) auferlegte Verpflichtung auch den Interessen der Endnutzer auf einem nicht regulierten Endkundenmarkt dient.

4. Keine Beweislast für die Verwirklichung der Regulierungsziele
Der EuGH hält fest, dass die Regulierungsmaßnahmen (hier: Entgeltregulierung für die Mobilterminierung) auf die Verwirklichung der Ziele des Art. 8 RahmenRL gerichtet sein müssen. Dagegen kann nicht verlangt werden, dass die Regulierungsbehörde glaubhaft macht, dass mit diesen Verpflichtungen diese Ziele tatsächlich verwirklicht werden (zumal dieser Nachweis bei zukunftsorientierten Maßnahmen "unmöglich oder übermäßig schwierig" sei).

Conclusio:
Der EuGH bestätigt, was man auch als "acte clair" hätte ansehen können: dass sowohl die Regulierungsbehörde wie auch das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung der Regulierungsbehörde entscheidet, von einer Kommissions-Empfehlung abweichen darf. Dass das Gericht nur dann abweichen darf, wenn es dies "als geboten erachtet", ist eine Leerformel - die entscheidende Frage wäre, unter welchen Umständen des konkreten Falles das Abweichen geboten ist, aber das lässt sich so abstrakt - und anhand des konkreten Vorabentscheidungsersuchens - wohl nicht festmachen.

Spannend wäre im vorliegenden Fall auch, ob das Gericht - wenn es in der Sache anders als die Regulierungsbehörde und damit abweichend von der Kommissions-Empfehlung entscheiden will - das Anhörungsverfahren nach Art. 6 und 7 RahmenRL neuerlich durchführen müsste. Der EuGH erwähnt dieses Verfahren in Rn. 48 im Zusammenhang mit den Verpflichtungen der Regulierungsbehörde, deren Einhaltung dann vom nationalen Gericht auch zu prüfen sind. Dass das Gericht neuerlich das Art. 7-Verfahren durchführen müsste, geht aus dem Urteil jedenfalls nicht hervor.

Und ob in den Niederlanden die Mobilterminierungsentgelte nun nach dem "pure BU-LRIC" oder dem "BU-LRIC plus"-Kostenrechnungsmodell festgelegt werden, kann man nach dem EuGH-Urteil auch noch nicht sagen. Die Betonung der Berücksichtigung der Endnutzer-Interessen würde eher auf "pure BU-LRIC" hinweisen, aber das CBb hat bisher eine so starke Präferenz für "BU-LRIC plus" erkennen lassen, dass ich es für eher unwahrscheinlich halte, dass es nun - wo ihm das Abweichen von der Empfehlung durch den EuGH so ausdrücklich gestattet wurde - anders festlegen wird.

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