Tuesday, September 06, 2016

Wieder einmal: Roaming und PR - oder: wenn Abgeordnete beginnen, ihren Pressemitteilungen zu glauben

Update/Hinweis vom 09.09.2016: heute hat die Kommission den Entwurf zurückgezogen und angekündigt, an einer neuen Version zu arbeiten. Mehr zu diesem Rückzieher der Kommission hier im Blog. Update/Hinweis vom 21.09.2016: heute hat die Kommission einen neuen Entwurf (in Grundzügen) präsentiert; mehr dazu hier im Blog. Update 27.09.2016: mehr zum neuen Entwurf der Kommission hier im Blog.

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Gestern hat die EU-Kommission den Entwurf einer Durchführungsverordnung zur Roaming-Verordnung veröffentlicht (Text, Annex; vorerst nur in englischer Sprache; Anm.: der Entwurf wurde mittlerweile von der Website der Kommission entfernt, ich verlinke daher auf eine von mir hochgeladene Kopie). Diese Durchführungsverordnung ist notwendig, weil sich Rat und Europäisches Parlament bei der letzten Änderung der Roaming-Verordnung (durch die Verordnung (EU) 2015/2120) eben nicht auf die völlige Abschaffung der Roaming-Entgelte ab 15. Juni 2017 geeinigt haben - auch wenn in der diesbezüglichen PR ein anderer Eindruck erweckt wurde.

Den Anbietern wurde in Art. 6b der Roaming-Verordnung vielmehr ausdrücklich das Recht eingeräumt, eine Regelung der angemessenen Nutzung ("Fair Use Policy") vorzusehen, "um eine zweckwidrige oder missbräuchliche Nutzung regulierter Roamingdienste [...] zu vermeiden, wie etwa die Nutzung solcher Dienste durch Roamingkunden in einem Mitgliedstaat, der nicht der ihres jeweiligen Anbieters ist, für andere Zwecke als vorübergehende Reisen." Vereinfacht gesagt: Anbieter müssen kostenloses Roaming*) nur für "vorübergehende Reisen" bereitstellen.

Und weil man trefflich darüber streiten kann, was man sich unter "angemessene Nutzung" und "vorübergehenden Reisen" vorstellen kann, haben Parlament und Rat der Kommission in Art. 6d der Roaming-VO (unter anderem) die Aufgabe übertragen, "detaillierte Durchführungsvorschriften über die Anwendung der Regelung der angemessenen Nutzung" zu erlassen. Die Kommission hat dabei nach Art. 6d Abs. 2 der Roaming-VO Folgendes zu berücksichtigen:
a) die Entwicklung der Preise und des Nutzungsverhaltens in den Mitgliedstaaten;
b) den Grad an Konvergenz der Inlandspreisniveaus für die gesamte Union;
c) die Reisemuster in der Union;
d) erkennbare Gefahren von Wettbewerbsverzerrungen und für Investitionsanreize im inländischen und im besuchten Markt.
Ich habe diese Regelungsweise schon anlässlich der Einigung im Trilog als Kunstgriff bezeichnet, mit dem Parlament und Rat der Kommission die undankbare Aufgabe zugeschoben haben, den Umfang des "fair use"-Kontingents festzulegen (siehe näher in Teil II dieses Beitrags).

Nun liegt also der Entwurf für die Durchführungsverordnung vor, und er ist meines Erachtens recht weitgehend: vereinfacht gesagt sollen die Anbieter keine "Fair Use"-Regeln festlegen können, nach denen die Kunden weniger als 90 Tage kostenlos roamen könnten, oder nach denen sie sich häufiger als einmal alle 30 Tage ins Heimnetz einloggen müssten (siehe näher Art. 3 des Entwurfs). Nicht nur verglichen mit den 50 kostenlosen Roamingminuten pro Jahr, die in einem Arbeitsdokument der Ratspräsidentschaft vorgesehen waren (siehe näher dazu in diesem Blogpost, gegen Ende), sind 90 Tage (mit den üblichen Minuten- und Daten-Volumina wie am Heimmarkt) doch recht großzügig. Legt man etwa die üblichen Jahresurlaube zugrunde, so müsste man schon deutlich mehr als zwei Jahresurlaube zusammenlegen und in anderen Mitgliedstaaten verbringen, um in die Nähe der vorgesehenen Höchstgrenzen zu kommen.

Ich will den Entwurf inhaltlich aber nicht weiter bewerten. Was mich mehr interessiert, sind die medialen und politischen Reaktionen: fast flächendeckend wird von einer Einschränkung des angekündigten Wegfalls der Roamingentgelte geschrieben. Hier eine kleine Auswahl von Überschriften:
Das kann man den Medien gar nicht so verübeln, denn den falschen Eindruck, dass Roamingentgelte ab 15. Juni 2017 gänzlich verschwinden würden, haben die beteiligten politischen Institutionen ganz bewusst immer wieder verbreitet. Nur zwei Beispiele dazu:
  • "No roaming charges as of June 2017" steht in der Überschrift der Pressemitteilung der Kommission vom 27.10.2015 anlässlich der Abstimmung im Parlament,
  • das Parlament selbst titelte mit "End in sight for mobile phone 'roaming' fees"; im Einleitungssatz zu dieser Presseaussendung hieß es sogar: "A complete ban on roaming charges for using mobile phones abroad in the EU will take effect in June 2017".
Diese Überschriften waren natürlich falsch (oder zumindest irreführend unvollständig), denn ein "complete ban" stand nie auf der Tagesordnung, geschweige denn wäre er beschlossen worden.

Und wie reagieren Europaparlamentarier, wenn die Medien nun von einer Einschränkung des versprochenen Wegfalls der Roamingentgelte schreiben? Der österreichische Europaabgeordnete Paul Rübig, der bei der ersten Roaming-Verordnung Berichterstatter des Parlaments war und seither an dem Thema hängt, sieht in der 90 Tage-Frist des Verordnungsentwurfs der Kommission "eine viel zu große Wettbewerbsbremse"! Da stellt sich schon die Frage, ob er beim Beschluss der Roaming-Verordnung der Auffassung war, dass die "Reisemuster in der Union" so wären, dass UnionsbürgerInnen üblicherweise mehr als 90 Tage pro Jahr in der Union herumreisen, bzw. dass "vorübergehende Reisen" typischerweise mehr als 90 Tage dauern. Ich kann es mir schwer vorstellen.

Bemerkenswert auch die Meinung eines deutschen Europaabgeordneten:
Der Mann war bei der Abstimmung über die Roaming-Verordnung schon im Europaparlament, aber er schreibt: "Das versteht niemand mehr"! Auf sich bezogen hat er damit sicher recht, aber man sollte eben nicht von sich selbst auf alle anderen schließen. Gewissermaßen im Reflex haut der Abgeordnete da auf die Kommission hin und es fällt ihm gar nicht auf, dass er damit sich selbst trifft (den AdressatInnen seiner Botschaft wird das allerdings auch nicht auffallen, insofern ist das politisch durchaus verständlich). Ähnlich eine weitere deutsche Europaabgeordnete von einer anderen Partei, die den Roaming-Kompromiss im Europäischen Parlament auch mitgetragen hat:
Auch von ihr also eine Forderung, die offenbar vorrangig an sie selbst gerichtet ist (und an der sie bzw. ihre Fraktion, die den Kompromiss ja mitgetragen hat, im letzten Jahr gescheitert). Eine belgische Fraktionskollegin von ihr verlangt von der Kommission, die Roamingentgelte gänzlich abzuschaffen:
Und die Fraktion selbst hält die Regeln der Kommission einfach für Unsinn:
Natürlich kann man der Auffassung sein, dass vielleicht die 30 Tage-Regel zu eng wäre, oder die 90 Tage-Frist zu lang - noch gibt es erst einen Entwurf, der nun der Anhörung vor BEREC unterzogen wird und dann im Komitologie-Verfahren - konkret: im Prüfverfahren nach Art 5 der VO (EU) Nr. 182/2011 - von den Mitgliedstaaten akzeptiert werden muss (Deadline für die Annahme durch die Kommission ist der 15. Dezember 2016). Aber niemand kann ernsthaft erwarten, dass die Kommission in der Durchführungsverordnung die Roamingentgelte schlechthin abschaffen könnte - also etwas tut, was Europäisches Parlament und Rat in der durchzuführenden Roaming-Verordnung selbst gerade eben nicht getan haben. Denn würde die Durchführungsverordnung so weit gehen, wäre sie in der Roaming-Verordnung nicht mehr gedeckt und könnte vom EuGH für ungültig erklärt werden.

PS: Anders als die BEREC-Leitlinien zur Netzneutralität - dazu ja zuletzt hier - ist die Durchführungsverordnung, wenn sie dann erlassen wird, übrigens tatsächlich verbindlich.

Update 07.09.2016: mittlerweile kritisiert (unter anderem) auch die CSU-Europaabgeordnete Angelika Niebler - laut ZDF-Korrespondent Stefan Leifert - den Entwurf der Durchführungsverordnung:
Die 90-Tage-Grenze, meint sie, werde mit den Abgeordneten nicht zu machen sein. Muss mit ihnen auch nicht gemacht werden: denn erstens ist die Grundlage dafür mit den Abgeordneten - insbesondere auch mit den Stimmen von MEP Niebler - längst gelegt worden, und zweitens werden die Abgeordneten da jetzt auch nicht mehr gefragt! Der Verordnungsentwurf muss noch durch das Komitologieverfahren: er muss in dem durch Art 22 der RahmenRL eingerichteten, aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestehenden Kommunikationsausschuss im "Prüfverfahren" (Art 5 der VO (EU) Nr. 182/2011) eine Mehrheit erreichen. Eine Befassung des Europäischen Parlaments ist nicht vorgesehen. Allerdings kommen dem Parlament natürlich die Befugnisse nach Art. 11 der VO (EU) Nr. 182/2011 zu: es kann "jederzeit darauf hinweisen, dass der Entwurf eines Durchführungsrechtsakts [seines] Erachtens die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse überschreitet." Konsequenz: die Kommission überprüft den Entwurf "und unterrichtet das Europäische Parlament und den Rat darüber, ob sie beabsichtigt, den Entwurf des Durchführungsrechtsakts beizubehalten, abzuändern oder zurückzuziehen."

Aber MEP Angelika Niebler ist offenbar auch ein Fall jener Abgeordneten, die ihrer eigenen Presseaussendung (Niebler, 27.10.2015: "Mit den leidigen Roamingzuschlägen für die Mobilfunknutzung im EU-Ausland ist bald Schluss.") so sehr glaubt, dass sie den damit in Widerspruch stehenden Text der von ihr mitbeschlossenen Verordnung völlig verdrängt. Stattdessen kritisiert sie die Kommission, die sich bemüht, die - von Parlament und Rat eingebrockte - Suppe auszulöffeln.
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*) ich schreibe vereinfacht von kostenlosem Roaming; natürlich sind dafür die Entgelte zu entrichten wie bei der Verwendung im Heimmarkt; der korrekte juristische Begriff für dieses "kostenlose Roaming" lautet eigentlich "regulierte Roamingdienste".

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