Thursday, May 06, 2010

EGMR: Die journalistische Freiheit, ein wenig zu übertreiben (Brunet Lecomte und Lyon Mag gegen Frankreich)

Ist es ehrenrührig, als charismatischer Führer bezeichnet zu werden? Wohl nicht. Aber als charismatischer Führer, der nicht zögert, frustrierte und verwundbare Jugendliche zu rekrutieren, der völlig unkontrollierbare Kleingruppen am Rande offizieller Strukturen organisiert - und der im Zentrum eines islamistischen Netzwerks steht? Das ging den französischen Gerichten doch zu weit. Auf Antrag dieses charismatischen Führers, der keiner sein wollte, verurteilte das Berufungsgericht von Lyon den Journalisten Brunet Lecomte und den Herausgeber des Monatsmagazins Lyon Mag deshalb wegen Beleidigung zu einer Ersatzleistung von 2500 Euro.

Lyon Mag hatte im Oktober 2001 eine Sonderausgabe herausgebracht, auf der fettgedruckt die Frage stand: "Faut-il avoir peur des réseaux islamistes à Lyon ?" ("Muss man vor islamistischen Netzwerken in Lyon Angst haben?"); unter dem Titel "[T.] l'ambigu" ("[T.] der Zweideutige") befasste sich das Magazin ausführlich mit T., dem 1995 die Einreise nach Frankreich verweigert worden sei und der mit seinem Bruder in Genf ein islamistisches Zentrum kontrolliert habe.

Der EGMR hat in seinem Urteil von heute, CASE OF BRUNET LECOMTE AND LYON MAG v. FRANCE (Application No. 17265/05), festgestellt, dass Frankreich durch die Verurteilung von Brunet Lecomte und Lyon Mag Art 10 EMRK verletzt hat. Das Urteil erging mit fünf zu zwei Stimmen gegen die abweichende Meinung des dänischen Kammerpräsidenten Lorenzen und der monegassischen Richterin Berro-Lefèvre.

Der EGMR betont, dass die Artikel im Lyon Mag einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse und unmittelbarer Aktualität leisteten (sie wurden kurz nach den Terroranschlägen vom 9. September 2001 veröffentlicht) und dass eine ausreichende Faktenbasis gegeben war (bzw. drückt es der Gerichtshof anders aus: die Faktenbasis sei nicht inexistent gewesen: "la Cour considère que la base factuelle sur laquelle reposait lesdits propos n’était pas inexistante").

Der Gerichtshof setzt die inkriminierten Äußerungen in einen größeren Kontext, nämlich einer Serie von Artikeln, die auf einer dreiwöchigen Feldforschung beruhten, und in der verschiedene Positionen zum Ausdruck kamen. Auch betont der Gerichtshof, dass in den Artikeln die Vermischung von Islam und Islamismus vermieden und eine gewisse Vorsicht bei der Wortwahl geübt wurde. Auch wenn T. durch ein Bild auf der Titelseite des Magazins und mit einem nur ihm gewidmeten Artikel im Blattinneren prominent vorkam, stellt der Gerichtshof doch fest, dass keine persönliche Animosität ihm gegenüber zum Ausdruck gekommen ist. Die verwendete Terminologie war nuanciert, und die Kläger haben jene Dosis an Übertreibung oder sogar Provokation, die in Ausübung der journalistischen Freiheit akzeptabel ist, nicht überschritten: "En effet, la Cour ne peut que constater que la terminologie utilisée est nuancée et que les requérants n’ont pas dépassé la dose d’exagération, voire de provocation, acceptable en matière de liberté journalistique" (Rn 45).

Die abweichende Meinung von Lorenzen und Berro-Lefèvre setzt an der ihres Erachtens nicht ausreichend gegebenen Faktenbasis an. Soweit in den Artikeln eingestanden werde, dass es keinen Beweis dafür gebe, dass T. im Zentrum eines islamistischen Netzwerks stehe, seien dies eher stilistische Formeln ("clauses des style"), die die Andeutung nicht aufwiegen, sondern im Gegenteil verstärken würden (Der Artikel über T. endete mit den Worten: "Difficile d’affirmer sans preuve qu’il soit aujourd’hui au centre d’un réseau islamiste prêt à servir de relais à des actions terroristes. Mais le personnage reste ambigu" - in Österreich hätte man geschrieben: "es gilt die Unschuldsvermutung").

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