Friday, July 11, 2008

EGMR zu verbotenen politischen Symbolen

Unter welchen Voraussetzungen kann die Verwendung politischer Symbole untersagt werden? Damit hatte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Vajnai gegen Ungarn (Appl. no 33629/06) auseinanderzusetzen. Das ungarische Strafgesetzbuch (in der im konkreten Fall anzuwendenden Fassung) verbot die Verbreitung und Zurschaustellung von Hakenkreuzen, SS-Abzeichen, Pfeilkreuzen, roten Sternen und Symbolen mit Hammer und Sichel (glücklicherweise gibt es eine Ausnahme für staatliche Hoheitszeichen, sonst wäre auch das österreichische Bundeswappen verboten).

Attila Vajnai wurde daher strafgerichtlich verfolgt, als er bei einer Kundgebung der ungarischen Arbeiterpartei eine Jacke mit einem 5 cm großen roten fünfzackigen Stern trug; das Verfahren endete mit einem Schuldspruch, die Straffestsetzung wurde bedingt ausgesetzt.

Der EGMR erkannte nun mit Urteil vom 8. Juli 2008, dass Vajnai dadurch in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK verletzt wurde. Der EGMR akzeptierte, dass ein Eingriff in die Meinungsäuerßungsfreiheit vorlag, dass dieser Eingriff im Gesetz vorgesehen war und dass er einem legitimen Ziel - Aufrechterhaltung der Ordnung und Schutz der Rechte anderer - diente. Das vierte Kriterium der Prüfung nach Art 10 EMRK - ob die Einschränkung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist - bestand die Regelung aber nicht. Im konkreten Fall des roten Sterns hob der EGMR hervor, dass es sich dabei um ein Symbol mit mehreren Bedeutungen handelt und dieses auch nicht ausschließlich die Identifikation mit totalitären Ideen bedeutet, sondern auch die internationale Arbeiterbewegung symbolisiert. Auch gab es keinen konkreten Anhaltspunkt, dass es zu öffentlichen Unruhen hätte kommen können. Das generelle Verbot des roten Sterns war daher zu weitgehend:
"A symbol which may have several meanings in the context of the present case, where it was displayed by a leader of a registered political party with no known totalitarian ambitions, cannot be equated with dangerous propaganda." (Nr. 56)
Diese Mehrfachbedeutung des roten Sterns und seine breite Verwendung auch außerhalb totalitärer Ideologien unterscheidet das Verbot des roten Sterns auch klar vom Verbot der Verwendung von Nazi-Symbolen. Der EGMR äußert sich dazu nicht direkt, wohl aber verwirft er die Unzulässigkeitseinrede Ungarns, die vor allem auf die Entscheidungen Garaudy gegen Frankreich und Witzsch gegen Deutschland gestützt war. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zum aktuellen Fall, in dem es weder um die Rechtfertigung "Nazi-ähnlicher" Politik ging noch Verachtung für die Opfer totalitärer Regimes ausgedrückt wurde.

Der Gerichtshof betont auch, sich des Terrors bewusst zu sein, der zur Festigung der kommunistischen Herrschaft in mehreren Staaten, unter anderem in Ungarn, eingesetzt worden war. Symbole dieser Zeit könnten daher Unbehagen bei Opfern auslösen, ihre Zurschaustellung könne zu Recht als respektlos angesehen werden. Dennoch könnten solche verständlichen Gefühle nicht die Grenzen der Äußerungsfreiheit ziehen:
"Ein Rechtssystem, das Menschenrechte einschränkt, um dem Diktat der - tatsächlichen oder vermuteten - öffentlichen Meinung zu genügen, erfüllt nicht die in einer demokratischen Gesellschaft anerkannten dringenden sozialen Bedürfnisse, da eine solche Gesellschaft in ihrem Urteil vernünftig bleiben muss. Eine andere Ansicht würde bedeuten, dass die Rede- und Meinungsfreiheit dem Veto des Zwischenrufers unterworfen würde." (grobe Übersetzung)
Im Original: "In the Court's view, a legal system which applies restrictions on human rights in order to satisfy the dictates of public feeling – real or imaginary – cannot be regarded as meeting the pressing social needs recognised in a democratic society, since that society must remain reasonable in its judgement. To hold otherwise would mean that freedom of speech and opinion is subjected to the heckler's veto."
Update 03.11.2011: heute hat der EGMR im Fall Frantoló gegen Ungarn (Appl. no.29459/10) ebenfalls eine Verletzung des Art 10 EMRK festgestellt. Herr Frantoló war auch wegen Tragens des roten Sterns bei einer Demonstration (und während eines Fernsehinterviews) bestraft ("ermahnt" udn zur Kostentragung verurteilt) worden, wobei das zweitinstanzliche Gericht Herrn Frantoló schon unter Berufung auf das EGMR-Urteil Vajnai freigesprochen hatte, was aber vom letztinstanzlichen Gericht wieder umgedreht wurde. Argumentiert wurde das im Wesentlichen unter Hinweis auf den Umstand, dass der rote Stern in einem politischen Kontext verwendet worden sei und in diesem Zusammenhang die politischen Ansichten des Trägers irrelevant seien. Der EGMR konnte dieser Unterscheidung nicht folgen und hielt fest, dass sich der Fall nicht substantiell vom Fall Vajnai unterscheide.

Update 20.02.2013: Pressebericht zur Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichts über die Aufhebung der Strafbestimmung (§ 269/B des Strafgesetzbuchs), mit der ua das Tragen von Hakenkreuzen, SS-Abzeichen, Pfeilkreuzen, Hammer und Sichel und Rotem Stern verboten wurde [update 22.03.2013: siehe dazu näher den Beitrag von Renáta Uitz im Verfassungsblog].

Hinzuweisen ist auch darauf, dass der EGMR am 18.01.2011 eine zweite Beschwerde von Herrn Vajnai wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zurückgewiesen hat (Vajnai Nr. 2).

Schließlich ist auch auf das Urteil des EGMR vom 24. Juli 2012, Fáber gegen Ungarn (Appl. no. 40721/08) hinzuweisen, in dem eine Strafe wegen Haltens der Árpád-Fahne (in einem Protest gegen eine antirassistische Kundgebung) als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt wurde (Pressemitteilung des EGMR; Zusammenfassung des EGMR).


PS: Das Bild oben ist übrigens kein roter Stern, sondern das Symbol des Wiener Volkstheaters, zusammengesetzt aus fünf Vs (siehe hier).

PPS: dass der EuGH nicht zuständig ist, über die Frage der Vereinbarkeit des § 269/B des ungarischen Strafgesetzbuchs mit Art 6 EUV oder der (damals noch gar nicht in Kraft befindlichen Grundrechtecharta) zu entscheiden, hat er in seinem Beschluss vom 06.10.2005, C-328/04, Vajnai, dargelegt. 

2 comments :

Anonymous said...

Ich hab mir erlaubt, den roten Stern und seinen bekanntesten Träger zur Illustration einer Posse zu verwenden, die wiederum recht gut in Ihren Themenkreis passiert: http://www.helge.at/2008/07/these-interwebs-need-regulation/

hplehofer said...

Ja, mein alter Kollege Schneider - aber er ist nicht allein in Deutschland: Prof. Ring, Vorsitzender der BLM (Bayerische Landeszentrale für neue Medien),
freute sich schon 2002
, dass es mit dem Jugendmedienschutzstaatsvertrag gelungen ist, "Rundfunk und Internet endlich unter eine Aufsicht zu stellen". Ob das wirksam ist, ist eine andere Sache, ein Gutachten kam immerhin zum Ergebnis, dass dieser Aufsicht "eine symbolische Politik mit einzelnen punktuell und begrenzt wirksamen Maßnahmen" möglich ist ;-)