Tuesday, July 01, 2014

EGMR: Verurteilung eines Journalisten wegen Veröffentlichung geheimer Unterlagen aus Gerichtsverfahren verletzte Art 10 EMRK

Es war ein knappes Urteil: mit 4:3 Stimmen entschied der EGMR heute im Fall A.B. (Arnauld Bédat) gegen Schweiz (Appl. no. 56925/06), dass die Verurteilung eines Schweizer Journalisten, der vertrauliche Unterlagen aus einem Strafverfahren veröffentlichte, gegen Art 10 EMRK verstieß (das Urteil ist nicht endgültig, binnen drei Monaten kann die Verweisung an die Große Kammer beantragt werden; Update 18.11.2014: der Fall wurde an die Große Kammer verwiesen; Update 29.03.2016: das Urteil der Großen Kammer drehte die Entscheidung der Kammer um: keine Verletzung des Art 10 EMRK - siehe im Blog dazu hier).

Das Drama auf der Großen Brücke von Lausanne
Im Jahr 2003 hatte M.B., ein betrunkener Autofahrer, in Lausanne drei Fußgänger getötet und acht weitere verletzt, bevor er mit seinem Fahrzeug vom Grand-Pont gestürzt war. A.B., Journalist beim Magazin L'illustré, veröffentlichte einen Artikel unter dem Titel "Drama auf der Großen Brücke von Lausanne - die Version des Rasers - die Vernehmung des verrückten Lenkers" (auf der Website des L'illustré nicht mehr zu finden, wohl aber ein Rückblick zehn Jahre danach). Darin beschrieb der Journalist die Vernehmung des in U-Haft befindlichen M.B. durch Polizei und Untersuchungsrichter; außerdem wurden Fotos und Briefe von M.B. an den Untersuchungsrichter abgedruckt. M.B. beschwerte sich darüber nicht, von Amts wegen wurde aber ein Strafverfahren eingeleitet, weil geheime Unterlagen aus dem Strafverfahren veröffentlicht wurden. Im Zug der Untersuchung stellte sich heraus, dass offenbar eine am Zivilverfahren gegen M.B. beteiligte Partei die Unterlagen kopiert und dann in einem Einkaufszentrum verloren hatte; ein Unbekannter habe die Unteragen dann der Redaktion des "L'illustré" gebracht.

A.B. wurde wegen der Veröffentlichung zunächst zu einer bedingten Haftstrafe von einem Monat, in der Instanz zu einer Geldstrafe in der Höhe von umgerechnet rund 2.667 € verurteilt. Der EGMR zitiert ausführlich aus dem letztinstanzlichen Urteil des Schweizer Bundesgerichts, in dem sich dieses auch mit dem Verhältnis zwischen Geheimhaltungspflicht nach dem Strafgesetzbuch und dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK befasst.

Zur Rechtslage
In der Schweiz stellt der - seit Jahren umstrittene - Art 293 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs die Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen unter gerichtliche Strafe ("Wer, ohne dazu berechtigt zu sein, aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, die durch Gesetz oder durch Beschluss der Behörde im Rahmen ihrer Befugnis als geheim erklärt worden sind, etwas an die Öffentlichkeit bringt, wird mit Busse bestraft. / Die Gehilfenschaft ist strafbar.")

Der EGMR zitiert bei der Darstellung der Rechtslage aber nicht nur die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung, sondern auch die Richtlinien zur Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten des Schweizer Presserates und die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Rec(2003)13 zur Information durch Medien im Hinblick auf Strafverfahren.

Eingriff - gesetzliche Grundlage - legitimes Ziel
Vor dem EGMR war nicht strittig, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerug nach Art 10 EMRK vorlag und dass dieser eine ausreichende gesetzliche Grundlage hatte.

Der EGMR erkennt - unter Hinweis auf den Fall Stoll - auch an, dass die angewendete gesetzliche Bestimmung ein legitimes Ziel im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK verfolgt, nämlich "die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern". Dies betrifft auch die Verbreitung von Unterlagen, die von Personen, die der Vertraulichkeit unterliegen, einem Dritten - insbesondere auch einem Journalisten - übergeben wurden. Die Geheimhaltung dient auch dem Interesse eines geordneten Strafverfahrens, unter anderem dem Schutz der Unschuldsvermutung.

Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft?
Bei der Anwendung der für solche Angelegenheiten in der Rechtsprechung bereits entwickelten (in Abs. 43-46 des Urteils zusammengefassten) Grundsätze prüft der EGMR zunächst, ob es sich um ein Thema von allgemeinem Interesse handelt. Dazu hält er fest, dass es sich um einen außergewöhnlichen Vorfall handelte, der große Emotionen in der lokalen Öffentlichkeit hervorrief und ein öffentliches Bedürfnis, das außerordentliche Ereignis zu verstehen. Der Journalist habe sich mit der Persönlichkeit des M.B. auseinandergesetzt und versucht, sein Motiv zu verstehen.

In Angelegenheiten von allgemeinem Interesse bleibt wenig Raum für Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Die "Pflichten und Verantwortung", die diese Freiheit nach Art 10 Abs 2 EMRK mit sich bringt, treffen aber auch Journalisten, die trotz der Bedeutung der Presse für eine demokratische Gesellschaft grundsätzlich nicht von der Pflicht enthoben sind, die allgemeinen strafrechtlichen Normen zu befolgen. Der EGMR erkennt auch, dass die nationalen Höchstgerichte dem "verhängnisvollen Druck", den Medien - gerade im Hinblick auf die Unschuldsvermutung - ausüben können, machtvoll entgegentreten wollen (Abs 52 des Urteils):
La Cour est consciente de la volonté des plus hautes juridictions nationales des États membres du Conseil de l’Europe, de réagir, avec force, à la pression néfaste que pourraient exercer des médias sur les parties civiles et les prévenus amoindrissant ainsi la garantie de la présomption d’innocence.
Art 10 Abs 2 EMRK setze dem aber Grenzen: zu prüfen sei im Einzelfall, ob - auch unter Berücksichtigung der zweifelhaften Herkunft der Dokumente - das Interesse an der Information der Öffentlichkeit hier die "Pflichten und Verantwortung" überwiegt. Es sei legitim, dem strafgerichtlichen Ermittlungsverfahren Vertraulichkeitsschutz zu gewähren. Das Verbot der Veröffentlichung nach Art 293 des Schweizerischen StGB stehe einer Abwägung mit Art 10 EMRK nicht per se entgegen, wie das Urteil des Bundesgerichts gezeigt habe.

Der EGMR analysiert dann die Art, wie das Bundesgericht die strittigen Interessen abgewogen hat. Er hält fest, dass es im Artikel nicht um die Schuldfähigkeit von M.B. ging, dass die Hauptverhandlung erst zwei Jahre nach dem Artikel stattfand und dass das Urteil von Berufsrichtern gefällt wurde (also keine Geschworenen aus dem Volk, die von einem solchen Artikel eher beeinflussbar gewesen wären). Die Schweizer Regierung habe daher nicht darlegen können, dass unter den Umständen des Einzelfalls die Veröffentlichung der vertraulichen Informationen einen negativen Einfluss auf die Unschuldsvermutung haben konnte oder das Urteil haben konnte.

Der Schutz des Privatlebens von M.B., auf den sich die Regierung auch stützte, sei grundsätzlich Sache des M.B. (der sich gegen die Veröffentlichung nicht gewehrt hat).

Zur Kritik der Regierung an der Form des Artikels verweist der EGMR auf seine Rechtsprechung, dass es nicht Aufgabe der Gerichte sei, die Auffassung der Presse, wie zu berichten sei, durch ihre eigene Ansicht zu ersetzen. Zwar sei der Artikel provokativ und reißerisch aufgemacht gewesen, was aber für sich allein nach der Spruchpraxis des EGMR kein Problem darstelle. Auch sei nicht der Kernbereich des Privatlebens betroffen gewesen, sondern es sei vor allem um das Funktionieren der Strafjustiz gegangen.

Schließlich zieht der EGMR noch die Schwere der Strafe in Betracht; die - gerichtliche - Strafe war höher als im Fall Stoll und ihre abschreckende Wirkung sei nicht mehr vernachlässigbar.

Zusammenfassend kommt der EGMR daher zum Ergebnis, dass die Bestrafung des Journalisten keinem zwingenden sozialen Bedürfnis entsprochen habe. Die Gründe seien zwar relevant, aber nicht ausreichend gewesen, sodass eine Verletzung des Art 10 EMRK festgestellt wurde.

Abweichende Meinung
Die türkische Richterin Karakaş, die Schweizer Richterin Keller und der belgische Richter Lemmens verfassten eine gemeinsame abweichende Meinung. Darin relativieren sie zunächst die Bedeutung des Artikels für eine Angelegenheit des allgemeinen Interesses: die Behörden hatten über die Strafverfolgung bereits eine Mitteilung veröffentlicht und die Verffentlichung der Protokolle und Briefe habe - wie das Bundesgericht dargelegt hat - keine Relevanz für den öffentlichen Diskurs gehabt. Das Bundesgericht habe festgehalten, dass der Bericht höchstens "zur Befriedigung einer ungesunden Neugier" gedient habe. Die VerfasserInnen der abweichenden Meinung hätten keinen Grund, an dieser Schlussfolgerung zu zweifeln.

Man könne der Regierung nicht den Beweis auferlegen, dass die Veröffentlichung der vertraulichen Unterlagen effektiv und konkret die geschützten Interessen geschädigt habe. Es müsse ausreichen, wenn der Artikel zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von solcher Art gewesen sei, dass er eine Schädigung der geschützten Interessen verursachen hätte können. Dies sei hier auch der Fall gewesen. Das Bundesgericht habe zB festgestellt, dass der Artikel weit davon entfernt gewesen sei, neutral zu sein. Der Artikel habe zudem sehr persönliche Informationen zu M.B. enthalten. Dass M.B. nicht selbst gegen die Veröffentlichung vorgegangen sei, enthebe den Staat auch nicht von seiner Verpflichtung, ein Gleichgewicht der konfligierenden Interessen herzustellen, unter Berücksichtigung des Rechts auf Schutz des Privatlebens.

Auch die Aufmachung des Artikels sei - so die abweichende Meinung - nicht ausreichend berücksichtigt worden: das Budnesgreicht habe - nicht willkürlich oder offensichtlich unbegründet - festgestellt, dass der Artikel nicht primär auf eine Information der Öffentlichkeit über das staatliche Vorgehen im Strafverfahren gezielt habe, sondern die ungesunde Neugier bedient habe und sensationsheischend gewesen sei. Der Beitrag, den der Artikel zu einer Debatte im öffentlichen Interesse geleistet habe, sei daher sehr begrenzt gewesen. Auch die Strafe sei nicht als schwer anzusehen, zumal sie nicht einmal die Hälfte des Monatseinkommens des Journalisten ausgemacht habe.

Schließlich hält die Minderheit fest, dass die nationalen Gerichte eine Abwägung getroffen haben, bei der sie die Kriterien der Rechtsprechung des EGMR berücksichtig haben. Der den Konventionsstaaten zukommende Beurteilungsspielraum ("marge d’appréciation") sei dabei nicht überschritten worden.

Anmerkung
Das Urteil ist nicht endgültig; ich würde erwarten, dass die Schweiz - ohnedies recht kritisch gegenüber "fremden Richtern" - die Sache zur Großen Kammer weiterziehen möchte (zuletzt gelungen im Fall Perinçek). Ob die Große Kammer das auch annimmt, ist freilich unsicher - zu vieles in dieser Sache kann man als sehr einzelfallbezogen ansehen. [Update 18.11.2014: mit Beschluss vom 17.11.2014 wurde die Sache auf Antrag der Schweiz an die Große Kammer verwiesen (Pressemitteilung des EGMR dazu) - Update 29.03.2016: das Urteil der Großen Kammer drehte die Entscheidung der Kammer um: keine Verletzung des Art 10 EMRK).]

Abgesehen davon fällt jedenfalls auf, dass der EGMR dem deutschen Bundesgerichtshof zuletzt in Art 10 EMRK-Fällen eine korrekte Abwägung im Beurteilungsspielraum attestierte (Axel Springer AG [dazu hier] und Von Hannover Nr 2 [dazu hier]), beim Schweizer Bundesgericht aber - jedenfalls in den Kammerentscheidungen (zuletzt eben Perinçek und nun in diesem Fall) - etwas kritischer zu sein scheint. Dass man die Sache mit guten Gründen auch anders hätte beurteilen können, zeigt das abweichende Minderheitsvotum.

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