In beiden Verfahren geht es zwar um strafrechtliche Fragen, die für die Themen dieses Blogs keine Bedeutung haben. Vor allem das Urteil in der Rechtssache C-617/10 Åkerberg Fransson enthält aber wesentliche Aussagen zum Anwendungsbereich der Grundrechtecharta und zur Verpflichtung der nationalen Gerichte, entgegenstehendes nationales Recht unangewandt zu lassen, sodass ich hier - etwas off topic - doch kurz darauf hinweisen möchte.
Anwendungsbereich der Grundrechtecharta
Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta ist in ihrem Art 51 festgelegt; sie gilt "für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union." Das war für manche - durchaus auch namhafte - Juristen Anlass, über eine mögliche Einschränkung des Grundrechtsschutzes zu spekulieren. Denn man unterstellte den Mitgliedstaaten (vielleicht nicht ganz unbegründet), dass sie mit der Charta keinen ausufernden Grundrechtsschutz durch den EuGH hatten schaffen wollen, der schließlich in weite Teile des nationalen Rechts "überschwappen" würde. Die Worte "ausschließlich" und "Durchführung" wären demnach als Einschränkung gegenüber der früheren Grundrechtsjudikatur des EuGH zu sehen, die sich auf einen weit verstandenen "Anwendungsbereich des Unionsrechts" bezog - der EuGH solle damit gewissermaßen auf den Kernbereich des (von den Mitgliedstaaten durchgeführten) Unionsrechts beschränkt bleiben sollen.
Mit dem heutigen Urteil in der Rechtssache C-617/10 Åkerberg Fransson hat der EuGH - dabei über die eher zurückhaltenden Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón hinausgehend - solchen Spekulationen über eine mögliche Einschränkung des Grundrechtsschutzes ein Ende gesetzt. Der EuGH setzt "Durchführung des Unionsrechts" und "Anwendungsbereich des Unionsrechts" gleich, indem er Art 51 Abs 1 der Charta als Bestätigung der Rechtsprechung des EuGH (auch vor der Grundrechtecharta) sieht und dazu auf eine Reihe einschlägiger Urteile verweist (beginnend mit dem Urteil ERT zu dem auch für dieses Blog interessanten Thema der Reichweite des früheren griechischen Fernsehmonopols). Dann heißt es knapp:
20 Diese Definition des Anwendungsbereichs der Grundrechte der Union wird durch die Erläuterungen zu Art. 51 der Charta bestätigt, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB, C‑279/09, Slg. 2010, I‑13849, Randnr. 32). Gemäß diesen Erläuterungen „[gilt d]ie Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten … nur dann, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“.Das mag hier ein wenig abstrakt klingen, aber am konkreten Anlassfall zeigt sich, dass damit ein sehr weites Feld für die Grundrechtsjudikatur des EuGH eröffnet wird: Herr Åkerberg Fransson hatte Mehrwertsteuer-Erklärungen nicht abgegeben und wurde dafür von der Finanzverwaltung mit einem Strafzuschlag zu der von ihm zu leistenden Steuer belegt; später wurde ein gerichtliches Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung gegen ihn eingeleitet. Strittig war vor dem EuGH, ob dieser Sachverhalt dem Doppelbestrafungsverbot (Art 50 der Charta) unterliegt. Für den EuGH reichte es im Wesentlichen aus, dass das Strafverfahren "teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer" stand und dass die Mitgliedstaaten nach Unionsrecht verpflichtet sind, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen:
21 Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte. [Hervorhebung hinzugefügt]
27 Folglich sind steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer, wie im Fall des Angeklagten des Ausgangsverfahrens, als Durchführung von Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112 (früher Art. 2 und 22 der Richtlinie 77/388) sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen.Auch das Finanzstrafrecht ist daher, wenn es im Zusammenhang mit einem Mehrwertsteuerdelikt zur Anwendung kommt, "Durchführung des Unionsrechts" und an der Grundrechtecharta zu messen.
28 Die Tatsache, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die den steuerlichen Sanktionen und dem Strafverfahren zugrunde liegen, nicht zur Umsetzung der Richtlinie 2006/112 erlassen wurden, vermag dieses Ergebnis nicht in Frage zu stellen, da durch ihre Anwendung ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll. [Hervorhebung hinzugefügt]
Durchsetzung der Grundrechtecharta durch nationale Gerichte
Nicht überraschend und auch nicht wirklich neu, aber doch klarstellend sind die Aussagen des EuGH zur Frage, wie die Unionsgrundrechte von nationalen Gerichten gegen entgegenstehendes nationales Recht oder Gerichtspraxis durchgesetzt werden können. Im Falle eines Widerspruchs zwischen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts und den durch die Charta verbürgten Rechten ist das nationale Gericht gehalten, "für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste"
Damit stellt der EuGH - erstmals ausdrücklich auch zur Grundrechtecharta - klar, dass die nationalen Gerichte (und das betrifft alle Gerichte, vom Bezirksgericht bis zu den Höchstgerichten!) nationale Rechtsvorschriften, die mit der Grundrechtecharta unvereinbar sind, erforderlichenfalls unangewandt lassen müssen (bei Zweifeln über die Auslegung der Charta ist zuvor natürlich eine Vorabentscheidung durch den EuGH einzuholen). Eine Verpflichtung, zuvor die nationale Rechtsvorschrift durch ein verfassungsgerichtliches Verfahren aus dem nationalen Rechtsbestand zu beseitigen, besteht nicht. In Österreich prüft der Verfassungsgerichtshof neuerdings - seit seinem Erkenntnis vom 14.03.2012, U 466/11 und U 1836/11 - zwar nationale Rechtsvorschriften im Anwendungsbereich des Unionsrechts auch am Maßstab (mancher Bestimmungen) der Grundrechtecharta und kann damit eine gewisse Bereinigungsfunktion wahrnehmen. Eine Verpflichtung anderer Gerichte, Rechtsnormen wegen eines Widerspruchs zur Grundrechtecharta anzufechten, besteht freilich nicht - und dürfte nach der Melki-Rechtsprechung des EuGH, die nun auch für die Charta bestätigt wurde, auch nicht eingeführt werden. Zitat aus dem heutigen Urteil:
46 Mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen ist nämlich jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar, die dadurch zu einer Schwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führt, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).PS (update 01.03.2013): Der österreichische Oberste Gerichtshof hat mit Beschluss vom 17.12.2012, 9 Ob 15/12i, dem EuGH eine Vorlagefrage im Zusammenhang mit Art 47 GRC gestellt, die im Hinblick auf das oben dargestellte Urteil C-617/10 Åkerberg Fransson meines Erachtens nicht schwer zu beantworten ist (beim EuGH anhängig zu C-112/13 Aliyev (update 02.04.2014: mittlerweile zu "A." anonymisiert). Dem OGH will (in seiner ersten Frage) wissen, ob für das österreichische System - in dem die ordentlichen Gerichte eine gegen manche Bestimmungen der GRC verstoßende nationale Bestimmung beim Verfassungsgerichtshof anfechten können - aus dem "Äquivalenzprinzip" abzuleiten ist, "dass die ordentlichen Gerichte beim Verstoß eines Gesetz es gegen Art 47 GRC während des Verfahrens auch den Verfassungsgerichtshof zur allgemeinen Aufhebung des Gesetzes anrufen müssen und nicht bloß das Gesetz im konkreten Fall unangewendet lassen können."
Dass dieser Beschluss des OGH ein Akt besonderer Freundlichkeit gegenüber dem VfGH wäre, kann man nicht wirklich behaupten; das wird auch in seiner Bergründung (ab Punkt 5.5) deutlich, in der nicht nur die in der Rechtswissenschaft geübte Kritik am oben erwähnten "Grundechtecharta-Erkenntnis" des VfGH erwähnt wird, sondern dem VfGH auch, etwas verklausuliert, ein Verstoß gegen die Vorlageverpflichtung vorgeworfen wird. Freilich: dass umgekehrt der VfGH in letzter Zeit gegenüber dem OGH besonders freundlich gewesen wäre (siehe etwa das Erkenntnis vom 13.12.2011, G 137/11), ist genausowenig zu erkennen.
Update 02.04.2014: in seinen heute veröffentlichten Schlussanträgen kommt Generalanwalt Bot zu folgendem Ergebnis (zur hier interessierenden Frage):
Im Geltungsbereich des Unionsrechts verpflichtet der Äquivalenzgrundsatz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die nationalen Gerichte nicht, die Frage, ob ein nationales, ihrer Meinung nach gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßendes Gesetz mit der Charta vereinbar ist, einem Verfassungsgerichtshof zwecks genereller Aufhebung dieses Gesetzes vorzulegen.
Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine solche Verpflichtung vorsieht, verstößt nicht gegen Unionsrecht, sofern die Aufgabe des nationalen Richters, die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten, indem er erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, sowie seine Befugnis, den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung zu ersuchen, weder beseitigt noch ausgesetzt, geschmälert oder aufgeschoben werden.
1 comment :
Der VwGH hat zum selben Fragenkomplex kürzlich diese sehr interessante Entscheidung getroffen:
http://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Vwgh&Dokumentnummer=JWT_2010150196_20130123X00
In dieser Sache lag eine Beschwerde gegen einen Berufungsbescheid des UFS betreffend USt vor. Der Berufungswerber hatte eine mündliche Verhandlung beantragt. Diese wurde ausgeschrieben, die Zustellung der Ladung an den Berufungswerber war aber wegen dessen Ortsabwesenheit nicht wirksam. Nach dem Nichterscheinen der Partei vor dem UFS wurde die Berufung abgewiesen.
Rechtlich folgerte der VwGH, seit Wirksamwerden der GRC (1. 12. 2009) gelte deren Art.47 Abs. 2 unmittelbar in Österreich und räume ein Recht auf eine öffentliche, mündliche Verhandlung vor einem Gericht/Tribunal (zumindest bei der Rechtsmittelinstanz) ein, soweit der Anwendungsbereich des Unionsrechts betroffen sei.
Eine Verletzung dieser Bestimmung bilde – und das kommt nun einer kleinen Revolution gleich – auch ohne Relevanzprüfung einen Verfahrensmangel, der zu einer Aufhebung des Bescheids führe. Die Partei muss die Verhandlung nur nachweislich beantragt haben. Um dieses GRC-garantierte Verfahrensrecht sei der Beschwerdeführer mangels wirksamer Zustellung verkürzt worden; der Bescheid des UFS wurde daher aufgehoben.
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