Tuesday, April 03, 2012

Forschungsgeheimnis, Informationsfreiheit und Privatsphäre: Große Kammer des EGMR zum Fall Gillberg

Das Forschungsgeheimnis könnte so etwas wie das Redaktionsgeheimnis der Wissenschaft sein: eine Möglichkeit (oder gar ein Recht?), vertrauliche Forschungsunterlagen vor dem Zugriff des Staates zu schützen, um - vor allem in der medizinischen Forschung - sensible Daten, die unter Zusicherung der Verschwiegenheit gesammelt wurden, nicht zB den Strafverfolgungsbehörden preisgeben zu müssen.

Der heute von der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entschiedene Fall Gillberg gegen Schweden (Appl. no 41723/06) wurde von den Vertretern des Beschwerdeführers denn auch auf diese Frage zugespitzt: darf man einen Psychiatrie-Professor, der den Eltern der von ihm in einer Langzeitstudie beforschten Kinder absolute Vertraulichkeit der Daten zugesichert hatte, strafrechtlich verurteilen, weil er die Studienunterlagen vernichtet hat, um die Herausgabe zu verhindern? Der Streit wurde wacker geführt (wer Zeit und Interesse hat, kann sich die Aufzeichung der mündlichen Verhandlung ansehen), aber er ging am Kern der Sache vorbei: auch die Große Kammer konnte sich - wie zuvor schon die Dritte Kammer in ihrem Urteil vom 02.11.2010 - nämlich im Wesentlichen darauf zurückziehen, dass der die Unterlagen betreffende Herausgabeanspruch gar nicht mehr Gegenstand des Verfahrens war, sondern es "nur" mehr um die Verurteilung von Prof. Gillberg wegen Amtsmissbrauchs für das Zerstören der Unterlagen ging.

Zum Sachverhalt:
An der Universität Göteborg wurde von 1977 bis 1992 eine Studie zu ADHD/DAMP durchgeführt. Christopher Gillberg, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie, war an diesem Forschungsvorhaben zunächst beteiligt, später übernahm er die wissenschaftliche Verantwortung für die Forschung. Er sicherte den Probanden bzw dessen Eltern absolute Vertraulichkeit ihrer Daten zu. Zwei Kritiker der Forschungen (K. und E.) verlangten im Jahr 2002 von der Universität Zugang zu den Originaldaten (umfangreiche Aufzeichnungen, Testergebnisse, Fragebögen und Ton- und Videobänder), was ihnen auf der Grundlage des schwedischen Sekretesslagen (Geheimnisgesetz) durch eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung gewährt wurde. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel der Universität blieben erfolglos (in Folgeverfahren wurde dann noch über Details des Zugangs gestritten); auch Prof . Gillberg erhob ein Rechtsmittel, das aber mangels Parteistellung zurückgewiesen wurde.

Der Beschwerdeführer weigerte sich dennoch, entgegen einer ausdrücklichen Anordnung des Vizekanzlers der Universität, die Daten entsprechend den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen herauszugeben. Schließlich wurden die Originalunterlagen von drei Kollegen des Beschwerdeführers vernichtet. In der Folge kam es auf Antrag des parlamentarischen Ombudsmanns zu einem Strafverfahren u.a. gegen den Beschwerdeführer, in dem dieser wegen Amtsmissbrauch zu einer bedingten Strafe sowie einer Geldstrafe von etwa 4.000 € verurteilt wurde. Rechtsmittel dagegen blieben erfolglos.

Beschwerde an den EGMR
Prof. Gillberg wandte sich (erst) wegen dieser Verurteilung an den EGMR und machte eine Verletzung seiner Rechte auf Schutz des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) und auf freie Meinungsäußerung (Art 10 EMRK) geltend. Er berief sich dabei u.a. auf seine Verschwiegenheitspflicht, die - wie beim Quellenschutz für Journalisten - geschützt werden müsse. Schon die Dritte Kammer des EGMR hielt dem in ihrem Urteil vom 02.11.2010 entgegen, dass der Beschwerdeführer nicht wegen der Verletzung einer Zeugenpflicht verurteilt wurde, sondern wegen Amtsmissbrauch, und dass das Verfahren nicht mehr das Interesse des Beschwerdeführers am Schutz des Berufsgeheimnisses betraf, da dieser Punkt bereits durch die vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen erledigt war (immerhin zwei Richterinnen der Dritten Kammer erachteten in ihrer abweichenden Meinung allerdings die strafrechtliche Verurteilung als unverhältnismäßig und hätten darin eine Verletzung des Art 8 EMRK gesehen).

Große Kammer
Die Große Kammer kam nun einstimmig zum Ergebnis, dass weder Art 8 noch Art 10 EMRK auf den Fall anwendbar sind (siehe auch die Pressemitteilung des EGMR). Das Vorbringen des Beschwerdeführers, das sich gegen die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen richtete, war schon von der Kammer als verspätet und damit unzulässig beurteilt worden, sodass auch die Große Kammer darauf nicht mehr einzugehen hatte.

Zur Frage einer möglichen Verletzung des Art 8 EMRK nimmt die Große Kammer von Beginn weg sehr deutlich darauf Bedacht, den Sachverhalt klar abzugrenzen: "The Court recalls that the applicant was a public official researcher exercising public authority at a public institution, namely the University of Gothenburg. He was not the children’s doctor or psychiatrist and he did not represent the children or the parents." (Abs. 64, Hervorhebung hinzugefügt).

Eine Berufung auf Art 8 EMRK sei nicht möglich, um sich über den Verlust an Ansehen zu beklagen, der die vorhersehbare Folge einer strafgerichtlichen Verurteilung ist. Im konkreten Fall sei die Verurteilung auch nicht unvorhersehbar gewesen und sie habe keinen Bezug zum Privatleben des Beschwerdeführers, da es um einen Missbrauch seines öffentlichen Amts als Universitätslehrer ging. Dass der Beschwerdeführer - wie er vorgebracht hat - wegen des Strafverfahrens mindestens fünf Bücher nicht habe schreiben können(!), sei völlig unsubstantiiert; zudem seien derartige wirtschaftliche Konsequenzen eine vorhersehbare Folge des Begehens einer Straftat. Die Rechte des Beschwerdeführers nach Art 8 EMRK seien daher von seiner Verurteilung nicht berührt worden.

Zu Art 10 EMRK hält die Große Kammer fest, dass der Beschwerdeführer nicht an der Ausübung seines positiven Rechts auf Empfang und Weitergabe von Information verletzt worden sei. Zur negativen Informationsfreiheit gäbe es nur spärliche Rechtsprechung; verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission im Fall Strohal gegen Österreich vom 7.4.1994 (no. 20871/92), in der wiederum Bezug auf den Bericht der Europäischen Menschenrechtskommission im Fall K. gegen Österreich vom 13.10.1992 (16002/90) Bezug genommen wird ("In this respect, the Commission recalls that the right to freedom of expression by implication also guarantees a "negative right" not to be compelled to express oneself, i.e. to remain silent [see K. v. Austria, Comm. Report 13.10.92, para. 45, loc. cit.]."). Andererseits habe der EGMR im Fall Ezelin gegen Frankreich ausgesprochen, dass eine Aussageverweigerung als solche nicht in den Anwendungsbereich von Art 10 (oder Art 11) EMRK falle.

Eine endgültige Antwort gibt der EGMR auch heute nicht, aber er schließt jedenfalls nicht aus, dass ein negatives Recht auf Äußerungsfreiheit unter Art 10 EMRK geschützt sein kann (Abs. 86). Im konkreten Fall sei zu berücksichtigen, dass das Material der Universität gehört habe und dort aufbewahrt worden sei. Es habe sich daher um öffentliche Dokumente gehandelt, die (nach schwedischem Recht) dem Grundsatz auf "public access" unterlegen seien. Demnach sei es auch unmöglich gewesen, im Vorhinein Vereinbarungen mit Dritten zu schließen, wonach bestimmte öffentliche Dokumente vom Recht auf Dokumentenzugang ausgeschlossen würden. Dennoch habe Prof. Gillberg (mehrfach) solche Vertraulichkeit zugesichert und sei damit über das nach schwedischem Recht Zulässige hinausgegangen. Solche Zusagen könnten aber nicht Vorrang vor dem Gesetz beanspruchen. Die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen hätten zudem ein- für allemal die Frage erledigt, ob und unter welchen Bedingungen die Dokumente K. und E. zugänglich zu machen waren.

Ein Berufsgeheimnis als Mediziner - auch nach der "Helsinki Declaration" der World Medical Association - kam nicht in Betracht, da Prof. Gillberg nicht von den Teilnehmern der Studie beauftragt worden sei und auch nicht deren Arzt oder Psychiater gewesen sei. Prof. Gillberg sei daher durch keine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht und durch keine Anordnung seines Dienstgebers daran gehindert gewesen, den verwaltungsgerichtlichen Urteilen nachzukommen. Die Weigerung, das Forschungsmaterial herauszugeben, sei nur durch seine persönliche Anschauung begründet gewesen, dass die verwaltungsgerichtlichen Urteile falsch wären (Abs. 91).

Die entscheidende Frage sei daher, ob der Beschwerdeführer als öffentlich Bediensteter ein unabhängiges negatives Recht im Sinne des Art 10 EMRK gehabt habe, Forschungsmaterial nicht zugänglich zu machen, obwohl dieses Material nicht ihm, sondern seinem öffentlichen Dienstgeber gehörte und dieser den verwaltungsgerichtlichen Urteilen habe nachkommen wollen (aber daran durch das Verhalten des Bescherdeführers gehindert war). Diese Frage wird vom EGMR klar verneint, mit einem bemerkenswerten Hinweis auf entgegenstehende Konventionsrechte:
93. In the Court’s view, finding that the applicant had such a right under Article 10 of the Convention would run counter to the property rights of the University of Gothenburg. It would also impinge on K’s and E’s rights under Article 10, as granted by the Administrative Court of Appeal, to receive information in the form of access to the public documents concerned, and on their rights under Article 6 to have the final judgments of the Administrative Court of Appeal implemented [...]
94. Accordingly, the Court cannot endorse the applicant’s view that he had a “negative” right within the meaning of Article 10 to refuse to make the research material belonging to his public employer available, thereby denying K and E their right to access to it as determined by the Administrative Court of Appeal.
Schließlich befasst sich die Große Kammer eher knapp mit dem vom Beschwerdeführer nachdrücklich vorgebrachten Argument, seine Situation sei der eines Journalisten vergleichbar, der sich auf das Redaktionsgeheimnis berufen könne. Dazu hält der Gerichtshof fest, dass die einschlägige Rechtsprechung das positive Recht der Journalisten auf freie Meinungsäußerung betreffe. Zudem sei beim Redaktionsgeheimnis die Information in der Regel im Eigentum des Journalisten oder des Mediums, während es im Beschwerdefall um öffentliche Dokumente der Universität gehe:
The disputed research material was therefore subject to the principle of public access to official documents under the Freedom of the Press Act and the Secrecy Act, which specifically allowed for the public, and the media, to exercise control over the State, the municipalities and other parts of the public sector, and which in turn contributed to the free exchange of opinions and ideas and to the efficient and correct administration of public affairs. By contrast, the applicant’s refusal in the present case to comply with the judgments of the Administrative Court of Appeal, by denying K and E access to the research material, hindered the free exchange of opinions and ideas on the research in question, notably on the evidence and methods used by the researchers in reaching their conclusions, which constituted the main subject of K’s and E’s interest. In these circumstances the Court finds that the applicant’s situation cannot be compared to that of journalists protecting their sources.
Schließlich sei die Situation des Beschwerdeführers auch nicht mit der eines Anwalts vergleichbar, der sich auf die Vertraulichkeit der ihm von seinem Mandanten anvertrauten Information berufen könne. Auch hier verweist der EGMR darauf, dass kein Klientenverhältnis und daher auch keine ärztliche Verschwiegenheitspflicht vorlag, und dass der Beschwerdeführer außerdem nie zu einer Aussage verhalten worden war. Zusammenfassend kam der EGMR daher zum Ergebnis, dass auch die Rechte des Beschwerdeführers nach Art 10 EMRK durch seine Verurteilung nicht berührt wurden.

Das Ende des Forschungsgeheimnisses?
Nicht erst seit sich die Große Kammer der Sache angenommen hat, wurde der Fall Gillberg als "leading case" für das heikle Verhältnis zwischen dem Anspruch auf Transparenz und Zugang zu Dokumenten öffentlicher Einrichtungen einerseits und dem Schutz des Forschungsgeheimnisses andererseits angesehen. Die konkrete Fallkonstellation macht es aber schwer, allzu weitreichende Aussagen aus dem Urteil abzuleiten. Die Große Kammer des EGMR hat jedenfalls deutlich gemacht, dass eine persönliche wissenschaftsethische Überzeugung, Daten von Probanden schützen zu müssen, nicht ausreicht, um rechtskräftige Gerichtsentscheidungen über Zugangsansprüche Dritter ignorieren zu können. Und auch die vom Beschwerdeführer erhoffte Anerkennung eines "Forschungsgeheimnisses" in Analogie zum Redaktionsgeheimnis hat der EGMR mit ziemlich klaren Worten abgelehnt.

Update (04.04.2012): in einem Beitrag auf Strasbourg Observers befassen sich Dirk Voorhoof und Rónán Ó Fathaigh vor allem mit der Frage, ob dieses Urteil ein durch Art 10 EMRK geschütztes Recht auf Zugang zu Informationen anerkennt; ihr Ergebnis: die Frage bleibt offen.
Eine Antwort des EGMR zur Frage, ob ein Recht auf Zugang zu staatlich gehaltenen Informationen nach Art 10 EMRK geschützt ist, erwarte ich übrigens im Fall Bubon gegen Russland (Appl. no 63898/09) - siehe das Statement of Facts zu diesem Fall.

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