Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte Helena Wojtas-Kaleta nun mehr Erfolg: der Gerichtshof stellte in seinem Urteil vom 16. Juli 2009, Wojtas-Kaleta v. Poland (Application no. 20436/02), einstimmig eine Verletzung des Artikel 10 EMRK fest. Der EGMR sah es nicht als notwendig an, in der Analyse zwischen den Rollen der Klägerin als Angestellte, als Gewerkschafterin und als Journalistin zu unterscheiden, zumal die Freiheit der Meinungsäußerung auch im Arbeitsleben gilt; er bemerkt aber, die Funktion als Journalistin und Gewerkschafterin müsse bei der Abwägung, ob der Eingriff in die Meinungsfreiheit im Sinne des Art 10 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, berücksichtigt werden.
Im Hinblick auf die Rolle der Journalisten in der Gesellschaft und ihre Verantwortung, zur öffentlichen Diskussion beizutragen und sie zu fördern, hält der Gerichtshof fest (Abs. 46), dass die Verpflichtung zur Verschwiegenheit und Zurückhaltung ("discretion and constraint") nicht in gleicher Weise auf Journalisten angewendet werden kann, da es in der Natur ihrer Aufgaben liegt, Informationen und Meinungen mitzuteilen.
Die Programmpolitik öffentlicher Medien ("public media"; in diesem Zusammenhang dürften damit eher öffentlich-rechtliche Medien bzw. Medien im öffentlichen Eigentum gemeint sein) ist, so der EGMR, eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses; Artikel 10 Abs 2 EMRK lässt daher wenig Raum für eine Einschränkung der Debatte.
Eher beiläufig und ohne direkte Herleitung aus der Rechtsprechung oder auch der EMRK trifft der EGMR dann eine durchaus grundsätzliche Aussage (Abs. 47): "Where a State decides to create a public broadcasting system, the domestic law and practice must guarantee that the system provides a pluralistic audiovisual service."
Und die Diskussion über die Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seine Rolle in der Gesellschaft ist jedenfalls eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses; die Verpflichtungen der Journalistin zur Loyalität und Zurückhaltung mussten daher gegen den öffentlichen Charakter des Unternehmens abgewogen werden, für das sie tätig war. Die bloße Teilnahme an einer öffentlichen Diskussion über die Programmpolitik und die Kritik an dieser Programmpolitik darf nicht zum Anlass arbeitsrechtlicher Maßnahmen genommen werden; die nationalen Gerichte hätten eine entsprechende Abwägung vornehmen müssen. Verleumderische Anschuldigungen ohne Grundlage oder in schlechtem Glauben sind durch die Meinungsfreiheit nicht geschützt; im konkreten Fall habe aber der Arbeitgeber gar nicht behauptet, dass die Kritik ohne Tatsachengrundlage sei. Außerdem habe es sich teilweise um Werturteile gehandelt, die einem Beweis nicht zugänglich sind. Und schließlich sei auch nie behauptet worden, dass die Kritik der Journalistin als grundloser persönlicher Angriff auf jemanden hätte gesehen werden können, oder dass sie in verletzender Absicht geäußert worden wäre. Der EGMR hielt auch fest, dass der Tonfall der Kritik maßvoll ("measured") war und keine persönlichen Beschuldigungen gegen namentlich genannte Mitglieder des Managements vorgebracht wurden.
Der EGMR kommt daher zum Schluss, dass Art 10 EMRK verletzt wurde (Abs. 52 und 53):
"Being mindful of the importance of the right to freedom of expression
on matters of general interest, of the applicant's professional obligations and
responsibilities as a journalist and of the duties and responsibilities of
employees towards their employers, and having weighed up the other different
interests involved in the present case, the Court comes to the conclusion that
the interference with the applicant's right to freedom of expression was not
'necessary in a democratic society'. Accordingly, there has been a violation of
Article 10 of the Convention."
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