Tuesday, April 29, 2014

EGMR zu Grenzen des Spekulationsjournalismus: Unterstellungen in der Schlagzeile lassen sich durch Fragezeichen am Ende nicht ausgleichen

Es ist so etwas wie die hohe Schule des Spekulationsjournalismus: einen Eindruck zu erwecken, für den die Fakten nicht ausreichen, dabei aber doch keine wirklich falschen Tatsachenbehauptungen zu schreiben. Dass auch das nicht immer vor einer Verurteilung wegen Rufschädigung hilft, zeigt das Beispiel einer finnischen Journalistin, über deren Beschwerde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte heute entschieden hat (Salumäki gegen Finnland, Appl. no.23605/09).

Bericht über einen (Auftrags?)Mord
Ausgangspunkt des Verfahrens war ein Artikel über einen Mordfall. Das Mordopfer stand im Verdacht, zwei Jahre zuvor Geldsäcke von Estland nach Finnland geschmuggelt zu haben, von denen angenommen wurde, dass sie einem bekannten finnischen Unternehmer (K.U.) gehörten. Sowohl gegen das Mordopfer als auch gegen K.U. wurden Ermittlungen wegen dieses Wirtschaftsdelikts geführt, zum Zeitpunkt des Mordes hatte der Staatsanwalt noch nicht über eine Anklageerhebung entschieden.

Im Zeitungsartikel wurden alle Fakten richtig dargestellt; ua wurde auch berichtet, dass die Polizei einen Angehörigen einer Motorrad-Bande als Mordverdächtigen festgenommen hatte, der in keiner Verbindung zu K.U. stand. Dennoch stellte die Berichterstattung eine mögliche Verbindung zwischen K.U. und dem Mord in den Mittelpunkt. Auf der Titelseite der Zeitung fand sich ein Foto von K.U. unter der Schlagzeile: "Cruel killing in Vantaa: The executed man had connections with K.U.?" (englische Übersetzung des finnischen Originals durch den EGMR) Der Artikel im Inneren des Blattes stand unter der Überschrift: "The victim of the Vantaa homicide had connections with K.U.?" Im Artikel selbst wurde geschrieben, dass das Mordopfer Verbindungen zu K.U. gehabt haben könnte. Außerdem wurde berichtet, dass möglicherweise ein Auftragsmord vorlag. Abgerundet wurde das Ganze mit einer Informationsspalte über K.U., in der eine frühere Verurteilung für Wirtschaftsverbrechen genannt wurde, sowie mit einem Foto, das K.U. bei der Verteidigung seiner Dissertation zeigte.

Nationales Urteil
Wegen dieser Berichterstattung wurde die Journalistin zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen (insgesamt 720 €) sowie zu einer Entschädigung von 2.000 € und zur Tragung der Kosten von K.U. verurteilt. Das Erstgericht hielt fest, dass es sich bei K.U. um eine Person öffentlichen Interesses (public figure) handelte und dass der Artikel keine falschen Tatsachen enthielt. Der Artikel habe aber ein mehrdeutiges Bild der Verbindung zwischen den zwei Fällen (Mord einerseits und Wirtschaftsdelikt, in das K.U. verwickelt war, andererseits) gezeichnet. K.U. sei durch die Überschriften und die näheren Informationen zu seiner Person als wesentliches gemeinsames Element der beiden Verbrechen herausgestellt worden. K.U. sei damit mit auf eine Weise mit dem Mord in Zusammenhang gebracht worden, die eine Verbindung zu einem Auftragsmord unterstellt habe, was ihn in seiner Ehre verletzt habe. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil, der Oberste Gerichtshof nahm ein weiteres Rechtsmittel nicht an.

Urteil des EGMR
Vor dem EGMR stand außer Streit, dass die Verurteilung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK darstellte. Der Eingriff war auch gesetzlich vorgesehen und diente einem legitimen Ziel (Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer).

Zur Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, verweist der EGMR zunächst ausführlich auf seine (mehr oder weniger) einschlägige Rechtsprechung: Freheit der Meinungsäußerung ist auch Freiheit für schockierende oder störende Aussagen, enge Auslegung der Ausnahmen nach Art 10 Abs 2 EMRK, Erforderlichkeit eines "zwingenden sozialen Bedürfnisses" für den Eingriff, Verhältnismäßigkeitsprüfung, Bedeutung der Presse in einer demokratischen Gesellschaft, Zulässigkeit der Übertreibung oder Provokation im Rahmen der journalistischen Freiheit, weitere Grenzen für Kritik an "public figures". Dann geht er auf die in jüngerer Zeit entwickelte Rechtsprechung ein, die bei Eingriffen in die Meinungsäußerungsfreiheit mit dem Ziel des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer ein Abwägungsschema entwickelt hat, insbesondere in den Urteilen Axel Springer AG [im Blog dazu hier] und Von Hannover (Nr 2) [im  Blog dazu hier].

Angewandt auf den konkreten Fall spricht in dieser Abwägung zunächst alles für die Journalistin: der Artikel behandelte ein Thema von allgemeinem Interesse (Ermittlungen in einem Mordfall), K.U. war eine "public figure", die Informationen stammten von der Polizei und von K.U. selbst und wurden nicht auf unlautere Weise erlangt, alle Fakten waren unstrittig, es gab nicht einmal den Vorwurf, dass Tatsachenbehauptungen nicht gestimmt hätten oder die Journalistin nicht in gutem Glauben gehandelt hätte.

Dennoch sieht der EGMR in der Verurteilung der Journalistin keine Verletzung des Art 10 EMRK, was letztlich nur mit den Schlagzeilen und der Aufmachung des Artikels begründet wird.

Der Titel des Artikels hat nach Ansicht der nationalen Gerichte - trotz der Formulierung als Frage - eine Verbindung zwischen dem Mord und K.U. unterstellt. Auch wenn diese Unterstellung im Artikel gemildert wurde (K.U. könnte damit in Verbindung stehen), so stand das eben nur im Text des Artikels; auch dass der Mordverdächtige keine Verbindung zu K.U. hatte, stand erst gegen Ende des Artikels. Das nationale Gericht war zum Ergebnis gekommen, die Journalistin hätte es als wahrscheinlich ansehen müssen, dass der Artikel eine falsche Andeutung enthielt und dies zu einem Nachteil für K.U. führen könnte. Dazu verweist der EGMR auf den Grundsatz der Unschuldsvermutung nach Art 6 Abs 2 EMRK: dieser kann auch im Kontext des 10 EMRK von Bedeutung sein, auch wenn keine klaren Behauptungen (der Schuld) aufgestellt werden, sondern nur darauf angespielt wird. Mit anderen Worten: auch Anspielungen können die Unschuldsvermutung verletzen (und daher einen Grund für einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellen). Zusammenfassend wertet der EGMR dann die Aussagen im Artikel - nachdem er zunächst nur die Wertung durch die nationalen Gerichte referiert hat - selbst wie folgt (Abs 59 des Urteils):
In sum, the juxtaposition of two unrelated criminal investigations, with headlines which clearly suggested to the ordinary reader that there was more to P.O.’s murder than what was actually being stated in the text of the articles, was defamatory, implying that K.U. was somehow responsible for P.O.’s murder. It amounted to stating, by innuendo, a fact which was highly damaging to the reputation of K.U. At no time did the applicant attempt to prove the truth of the insinuated fact, nor did she plead that the insinuation was a fair comment based on relevant facts.
Das Nebeneinanderstellen der beiden nicht zusammenhängenden Ermittlungen und die Schlagzeilen, die bei einem Durchschnittsleser der Eindruck erweckten, dass mehr an der Sache dran sei, als tatsächlich im Text gesagt wurde, war rufschädigend für K.U.

Der EGMR betont, dass das Berufungsgericht die konfligierenden Interessen der Presssefreiheit und des Schutzes des Privatlebens abgewogen habe, unter Bezugnahme sowohl auf die finnische Verfassung als auch Art 10 EMRK. Die nationalen Gerichte, so der EGMR, haben daher dem Recht der Journalistin auf freie Meinungsäußerung ausreichende Bedeutung beigemessen und sie adäquat gegen das Recht von K.U. auf Schutz seines guten Rufes abgewogen. Der EGMR stößt sich schließlich auch nicht an der gerichtlichen Strafe, zumal es lediglich eine Geldstrafe ist und sie im Straferegister nicht aufscheint. Damit kommt der EGMR einstimmig zum Ergebnis, dass keine Verletzung des Art 10 EMRK vorliegt.

Anmerkung
Aus meiner Sicht ein Grenzfall: da wird jemand ermordet, der unter Verdacht steht, zusammen mit einem bekannten Unternehmer in ein größerers Wirtschaftsdelikt verwickelt zu sein (und von dem feststeht, dass er persönlich mit dem Unternehmer bekannt war). Auch die Polizei hatte bestätigt, dass ein möglicher Zusammenhang Teil der Ermittlungen im Mordfall war (aber auch mitgeteilt, dass der festgenommene Mordverdächtige nicht in Verbindung mit K.U. stand). Und dann soll ein faktengetreuer Bericht dasüber deshalb rufschädigend sein, weil in der Schlagzeile prominent die Frage nach einem möglichen Zusammenhang in den Raum gestellt wird?

Allein nach Lektüre des Urteils (bzw des darin wiedergegebenen Sachverhalts) könnte man das vielleicht auch anders bewerten - aber letztlich geht es dem EGMR wohl gerade auch darum: die Bewertung der konkreten Umstände ist nicht Aufgabe des EGMR, sondern der nationalen Gerichte, die dabei einen Beurteilungsspielraum haben, in den der EGMR in der Regel nicht hineinpfuschen will (die oft geäußerte Kritik an Straßnburg als "vierter Instanz" nimmt sich der EGMR in letzter Zeit erkennbar zu Herzen). Wohl aber muss der EGMR nachvollziehen können, dass die nationalen Gerichte die Grundsätze seiner Rechtsprechung erkannt und sie auch angewandt haben, hier in der Abwägung der konfligierenden Interessen. War das der Fall, dann ist der EGMR bei der Beurteilung, welcher Eindruck durch die konkrete Aufmachung einer Zeitungsgeschichte (Schlagzeile, Fotos, Formulierungen) entsteht, zurückhaltend und versucht kein "second guessing" der nationalen Instanz. Im vorliegenden Fall ist das in den Absätzen 57 bis 59 des Urteils erkennbar, wo sich der EGMR zunächst auf die Beurteilung durch die nationalen Gerichte bezieht und diese Beurteilung dann praktisch übergangslos zu seiner eigenen macht, bevor er ausdrücklich darauf hinweist, dass das nationale Gericht Bezug auf Art 10 EMRK und indirekt (über zitierte Rechtsprechung des finnischen Obersten Gerichtshofes, der wieder den EGMR zitierte) auch auf die Rechtsprechung des EGMR genommen hat.

Für "Schlagzeilenredakteure" ist das Urteil aber auch ein Warnhinweis, dass man nicht alle Anspielungen, die man in eine reißerische Schlagzeile verpackt, mit einem Fragenzeichen an ihrem Ende entschärfen kann.

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PS: ich schreibe nicht zu jedem Urteil oder jeder Entscheidung des EGMR in Art 10 EMRK-Fällen ein Blogpost - das hängt von vielen Umständen ab, vor allem auch, ob ich gerade Zeit dazu finde (was nicht immer mit der Bedeutung des Falls zu tun hat). Ich versuche aber alle einschlägigen Urteile und Entscheidungen auf meiner Übersichtsseite anzuführen (und zu verlinken), in der Regel mit ein paar Stichworten, worum es dabei jeweils geht. Ich empfehle daher, bei Interesse an diesen Fällen gelegentlich auch auf der Übersichtsseite vorbeizuschauen. Seit meinem letzten Blogpost zum Fall Tešić gegen Serbien sind immerhin folgende Fälle dazugekommen: Mladina D.D. Ljubljana gegen Slowenien, Brosa gegen Deutschland, Hasan Yazıcı gegen Türkei, Amorim Giestas und Jesus Costa Bordalo gegen Portugal, Bayar gegen Türkei (Nr. 1, Nr 2, Nr 3, Nr 4, Nr 5, Nr 6, Nr 7 und Nr 8), Jelševar ua gegen Slowenien, Dilipak und Karakaya gegen Türkei und Jalbă gegen Rumänien.

Update 27.05.2014: siehe zu diesem Urteil nun auch den Blogpost von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog

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