Tuesday, November 19, 2013

Gibt Art 10 EMRK ein Recht auf Zugang zu (anonymisierten) Behördenentscheidungen? EGMR-Urteil zu österreichischem Fall am 28. 11.

Lässt sich aus dem in Art 10 EMRK verbrieften Recht auf freie Meinungsäußerung auch ein Recht auf Zugang zu Informationen öffentlicher Stellen ableiten? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dies - insbesondere im Urteil Társaság a Szabadságjogokért gegen Ungarn (siehe dazu im Blog hier) - grundsätzlich anerkannt. Dieses Zugangsrecht kann allerdings eingeschränkt werden, etwa zum Schutz der Rechte Dritter oder aus Gründen der nationalen Sicherheit (siehe die Nichtzulassungsentscheidung Sdružení Jihočeské Matky gegen Tschechische Republik). Keinen Anspruch auf Informationszugang sah der EGMR in Fällen, in denen die nachgefragten Informationen von der ersuchten öffentlichen Stelle erst beschafft werden müssten (Urteil Guerra ua gegen Italien: keine positiven Verpflichtungen des Staates, von sich aus Informationen zu sammeln und zu verbreiten).

Der österreichische Verfassungsgerichtshof - der Art 10 EMRK als nationales Verfassungsrecht judiziert - hat hingegen in seiner Rechtsprechung einen Anspruch auf Informationszugang bislang nicht anerkannt (siehe dazu zuletzt im Blog näher hier). Zum Antrag einer NGO "auf Übermittlung anonymisierter Ausfertigungen von Bescheiden der [Tiroler] Landes-Grundverkehrskommission, die von dieser seit 1. Jänner 2000 erlassen wurden" hat der Verfassungsgerichtshof vor knapp zwei Jahren ausdrücklich wieder die Ansicht vertreten, "dass aus Art 10 EMRK keine Verpflichtung des Staates resultiert, den Zugang zu Informationen zu gewährleisten" (02.12.2011, B 3519/05, VfSlg 19.571/2011).

Wie der EGMR diesen Fall beurteilt, wird er in dem für 28.11.2013 angekündigten Urteil über die Beschwerde der Österreichischen Vereinigung zur Erhaltung, Stärkung und Schaffung eines wirtschaftlich gesunden land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes gegen Österreich (no. 39534/07) darlegen.

 Das "statement of facts" des EGMR zu diesem Fall warf unter anderem die Frage auf, in welchem Umfang die Aufgaben und Verpflichtungen, die sich aus den Aktivitäten der NGO ergeben, für ihren Anspruch und den Beurteilungsspielraum des Konventionsstaates relevant sind ("[...] to what extent are the duties and responsibilities inherent in the applicant association's activities relevant to its claim and the State's margin of appreciation in this field?"). Damit ist auch eine mögliche "social watchdog"-Funktion der NGO angesprochen, die sich mit der Erforschung des land- und forstwirtschaftlichen Grundverkehrs und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft befasst (womit - im Sinne des Urteils  Társaság a Szabadságjogokért [Abs 27] - wohl auch das Ziel einer "informed public debate" verfolgt wird).

Man kann gespannt sein, ob der EGMR diesen Fall eher - im Sinne des Urteils Guerra - als einen beurteilt, in dem die Behörde die Informationen erst - wegen der erforderlichen Anonymisierung - beschaffen hätte müssen, oder ob die Abwägung zugunsten der NGO als wissenschaftlicher Organisation oder "social watchdog" ausgeht und eine positive Verpflichtung des Staates zur Informationsbereitstellung angenommen wird. In jedem Fall könnte das Urteil des EGMR wichtige Anstöße für das österreichische Auskunftspflichtrecht geben, dessen Weiterentwicklung zu einem Informationsfreiheitsgesetz oder "Transparenzgesetz" ja schon vor der Wahl Thema war.

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Für österreichische JuristInnen ist der nun zur Entscheidung stehende Fall übrigens auch aus anderen Gründen bemerkenswert:

Die Tiroler Landes-Grundverkehrskommission hatte in ihren Bescheid, mit dem das Auskunftsersuchen der NGO abgewiesen wurde, den Hinweis aufgenommen, dass dagegen die Beschwerde sowohl an den Verwaltungsgerichtshof als auch an den Verfassungsgerichtshof zulässig sei. Das war hinsichtlich des VwGH falsch, denn die (mittlerweile aufgelöste) Tiroler Landes-Grundverkehrskommission war eine sogenannte "Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag" nach Art 133 Z 4 B-VG, gegen deren Bescheid eine Beschwerde an den VwGH nur zulässig war, wenn dies gesetzlich ausdrücklich angeordnet wurde, was jedoch nicht der Fall war. Die von der NGO erhobene Beschwerde an den VwGH wurde daher auch mit Beschluss vom 21.09.2006, 200/02/0311, zurückgewiesen.

Der VfGH, an den ebenfalls Beschwerde erhoben wurde, lehnte die Behandlung der Beschwerde aber dennoch mit Beschluss vom 27.02.2007 (vorerst) ab - was nach Art 144 Abs 2 B-VG unzulässig ist, wenn es sich (wie hier) um einen Fall handelt, der nach Art 133 Z 4 B-VG von der Zuständigkeit des VwGH ausgeschlossen ist.

Auf Antrag der NGO hat der VfGH schließlich mit Erkenntnis vom 02.12.2011, KI-2/10, seinen Beschluss vom 27.02.2007 aufgehoben und ausgesprochen, dass der VfGH nicht berechtigt war, die Beschwerde abzulehnen. Da er damit aber wieder zur Entscheidung verpflichtet war, hat er sodann inhaltlich über die Beschwerde entschieden und mit dem oben bereits zitierten Erkenntnis vom 02.12.2011, B 3519/05, VfSlg 19.571/2011, die Beschwerde abgewiesen.

Dieses Erkenntnis erging erst nach Einbringung der Beschwerde beim EGMR und es bleibt abzuwarten, wie der EGMR damit umgeht. Die von der NGO auch geltend gemachte Verletzung des Art 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde), da weder VwGH noch VfGH inhaltlich auf die Beschwerde eingegangen waren, könnte damit vom Tisch sein. Für die Frage, ob eine Verletzung des Art 10 EMRK vorliegt, wird wohl auch das nach Beschwerdeeinbringung ergangene Erkenntnis des VfGH noch berücksichtigt werden.

Update 28.11.2013: siehe zum Urteil des EGMR (Verletzung des Art 10 EMRK, keine Verletzung des Art 13 EMRK nun im Blog hier).

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