Thursday, November 28, 2013

Informationsfreiheit: EGMR zum Recht auf Zugang zu Behördenentscheidungen nach Art 10 EMRK

Österreich hat durch die Weigerung, einer NGO Zugang zu (anonymisierten) Entscheidungen der Tiroler Landes-Grundverkehrskommission zu geben, deren nach Art 10 EMRK geschützte Freiheit der Meinungsäußerung verletzt - zu diesem Ergebnis ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem heute ergangenen Urteil Österreichische Vereinigung zur Erhaltung, Stärkung und Schaffung eines wirtschaftlich gesunden land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes gegen Österreich (Appl. no. 39534/07; Pressemitteilung des EGMR) gekommen*). Das ist ein wesentlicher (weiterer) Schritt des EGMR zur Anerkennung des Rechts auf Informationszugang nach Art 10 EMRK, der auch für die - diesbezüglich bislang eher restriktive - Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes Änderungen erwarten lässt.

Die beschwerdeführende NGO befasst sich mit den Auswirkungen des land- und forstwirtschaftlichen Grundverkehrs auf die Gesellschaft und bringt sich dabei auch mit Stellungnahmen in den Gesetzgebungsprozess ein. Sie untersucht dazu auch die Entscheidungen der Grundverkehrsbehörden und erhielt von allen in letzter Instanz entscheidenden Landes-Grundverkehrsbehörden deren (anonymisierte) Entscheidungen - außer in Tirol. Die Tiroler Landes-Grundverkehrskommission (mittlerweile übrigens aufgelöst) weigerte sich grundsätzlich, trotz angebotenem Kostenersatz, ihre Entscheidungen zu anonymisieren und der NGO zur Verfügung zu stellen. Der dagegen angerufene Verfassungsgerichtshof konnte - nach einem interessanten Verfahrensgang, den ich mit dem Ausgangsfall hier näher beschrieben habe - keine Verletzung des Art 10 EMRK erkennen; er sprach vielmehr aus, "dass aus Art 10 EMRK keine Verpflichtung des Staates resultiert, den Zugang zu Informationen zu gewährleisten" (02.12.2011, B 3519/05, VfSlg 19.571/2011).

Der EGMR sieht dies nun (mit 6 zu 1 Stimmen, abweichendes Votum des Richters Møse) anders:

NGO erfüllt "watchdog"-Funktion
Zunächst hält der EGMR - wie schon im Fall Társaság a Szabadságjogokért - fest, dass auch NGOs die Rolle eines "watchdog" ausüben können und ihnen damit ein ähnlicher Schutz zuteil werden müsse wie der Presse - für die wiederum anerkannt ist, dass das Sammeln von Informationen ein wesentlicher Vorbereitungsschritt in der journalistischen Arbeit und daher Teil der Pressefreiheit ist. Zur hier beschwerdeführenden NGO sagt der EGMR (Hervorhebung hinzugefügt):
35. The applicant association is a non-governmental organisation the aim of which is to research the impact of transfers of ownership of agricultural and forest land on society. It also contributes to the legislative process by submitting comments on draft laws falling within its field of expertise. In the present case it wished to obtain information about the decisions of the Commission, that is to say the appellate authority approving or refusing transfers of agricultural and forest land under the Tyrol Real Property Transactions Act. The aims pursued by that Act – namely preserving land for agricultural and forestry use and avoiding the proliferation of second homes – are subjects of general interest.
36. The applicant association was therefore involved in the legitimate gathering of information of public interest. Its aim was to carry out research and to submit comments on draft laws, thereby contributing to public debate. Consequently, there has been an interference with the applicant association’s right to receive and to impart information as enshrined in Article 10 § 1 of the Convention [...].
Legitimes Interesse an der Informationsverweigerung?
Der EGMR erkennt an, dass der Schutz der Rechte anderer (der von den Entscheidungen Betroffenen) ein legitimes Ziel für die Verweigerung des Zugangs sein kann. Es müsse daher geprüft werden, ob die Verweigerung des Zugangs zum Schutz dieses Interesses notwendig sei.

Keine generelle Verpflichtung des Staates, alle Entscheidungen der Grundverkehrsbehörde zu publizieren
Eine generelle Verpflichtung, der NGO Zugang zur Datenbank zu geben oder alle Entscheidungen zu publizieren, sieht der EGMR nicht:
42. In the present case the applicant association requested paper copies of all decisions issued by the Commission from 1 January 2000 to mid-2005. It argued in essence that the State had an obligation either to publish all decisions of the Commission in an electronic database or to provide it with anonymised paper copies upon request. The Court does not consider that a general obligation of this scope can be inferred from its case-law under Article 10. However, its task in the present case is to examine whether the reasons given by the domestic authorities for refusing the applicant association’s request were “relevant and sufficient” in the specific circumstances of the case and whether the interference was proportionate to the legitimate aim pursued.
Generelle Ablehnung des Informationszugangs ist jedoch unverhältnismäßig
Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles kommt der EGMR allerdings zum Ergebnis, dass der Zugang hier nicht rundheraus hätte verweigert werden dürfen, denn die NGO hatte einerseits den Ersatz der Kosten angeboten, andererseits handelte es sich bei der Tiroler Landes-Grundverkehrskommission um ein Tribunal, das über "civil rights" zu entscheiden hatte, und dieses Tribunal hatte sich zudem geweigert, überhaupt Entscheidungen zu publizieren. Und schließlich hatte die NGO von allen anderen Grundverkehrsbehörden solche Entscheidungen ohne besondere Probleme bekommen. Vor diesem Hintergrund erwies sich die Verweigerung des Zugangs als unverhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig:
45. The Court notes that the applicant association, by requesting anonymised copies of the Commission’s decisions, accepted that the decisions at issue contained personal data which would have to be removed before the decisions could be made available. It also understood that the production and mailing of the requested copies involved a certain cost, which it proposed to reimburse. Nevertheless, the applicant association’s request met with an unconditional refusal.
46. Given that the Commission is a public authority deciding disputes over “civil rights” within the meaning of Article 6 of the Convention (see, Eisenstecken v. Austria, no. 29477/95, § 20, ECHR 2000-X, with further references), which are, moreover, of considerable public interest, the Court finds it striking that none of the Commission’s decisions was published, whether in an electronic database or in any other form. Consequently, much of the anticipated difficulty referred to by the Commission as a reason for its refusal to provide the applicant association with copies of numerous decisions given over a lengthy period was generated by its own choice not to publish any of its decisions. In this context the Court notes the applicant association’s submission - which has not been disputed by the Government - that it receives anonymised copies of decisions from all other Regional Real Property Commissions without any particular difficulties.
47. In sum, the Court finds that the reasons relied on by the domestic authorities in refusing the applicant association’s request for access to the Commission’s decisions - though “relevant” - were not “sufficient”. While it is not for the Court to establish in which manner the Commission could and should have granted the applicant association access to its decisions, it finds that a complete refusal to give it access to any of its decisions was disproportionate. The Commission, which, by its own choice, held an information monopoly in respect of its decisions, thus made it impossible for the applicant association to carry out its research in respect of one of the nine Austrian Länder, namely Tyrol, and to participate in a meaningful manner in the legislative process concerning amendments of real property transaction law in Tyrol. The Court therefore concludes that the interference with the applicant association’s right to freedom of expression cannot be regarded as having been necessary in a democratic society.
48. There has accordingly been a violation of Article 10 of the Convention.
Abweichende Meinung des Richters Møse
Die Feststellung der Verletzung des Art 10 EMRK erfolgte mit 6:1 Stimmen; der norwegische Richter Erik Møse verfasste eine dissenting opinion. Er hebt darin hervor, dass es im vorliegenden Fall - im Unterschied zum Fall Társaság a Szabadságjogokért - nicht um den Zugang zu einem unmittelbar verfügbaren Dokument ("ready and available") ging, sondern dass die nachgefragten Entscheidungen nicht versandfertig waren. Es ging zudem um mehrere hundert Entscheidungen (die Landes-Grundverkehrskommission hat in den Jahren 2000 bis 2005 jeweils zwischen 65 und 109 Entscheidungen getroffen). Die Grundverkehrskommission hatte auch (hilfsweie) argumentiert, dass die Anonymisierung wesentliche Ressourcen binden und die Erfüllung der Aufgaben der Behörde gefährden würde (vergleiche § 3 Abs 2 Tiroler Auskunftspflichtgesetz: "Die Verpflichtung zur Erteilung von Auskunft besteht nicht, wenn [...] c) die Erteilung der Auskunft Erhebungen, Berechnungen oder Ausarbeitungen erfordern würde, die die ordnungsgemäße Erfüllung der übrigen Aufgaben des Organs erheblich beeinträchtigen würden").

Nach Ansicht des Richters Møse könne das Argument, dass die Erfüllung des Antrags auf Übersendung der anonymisierten Entscheidungen negative Auswirkungen auf die Erfüllung der Aufgaben der Behörde haben könnte, nicht als willkürlich angesehen werden. Nach seiner Ansicht seien daher die Gründe, die für die Ablehnung des Zugangsantrags gegeben worden seien, relevant und ausreichend.

Møse meint auch, dass die NGO nicht ohne jede Möglichkeit gelassen werde, Informationen über die Entscheidungen der Landes-Grundverkehrskommission zu erhalten. Eine gewisse Information sei aus dem Jahresbericht der Landesregierung (!) zu entnehmen. Zudem sei die Landes-Grundverkehrskommission nicht letztentscheidende Behörde; ihre Entscheidungen könnten noch beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden, dessen Entscheidungen üblicherweise eine Zusammenfassung der angefochtenen Entscheidung enthielten. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes wiederum seien im Rechtsinformationssystem des Bundes abrufbar. Daher sei der Eingriff in das Recht der NGO nach Art 10 EMRK auch verhältnismäßig.

Aus meiner Sicht scheinen die zuletzt genannten Argumente nicht tragfähig: die Entscheidungen der Landes-Grundverkehrskommission konnten zwar beim VfGH angefochten werden, aber nur soweit eine Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (oder eine Verletzung in Rechten wegen eines verfassungswidrigen Gesetzes/einer gesetzwidrigen Verordnung) behauptet wurde. In "einfachgesetzlichen" Rechtsfragen war die Kommission daher jedenfalls letztentscheidendes Tribunal. Zudem wurden natürlich bei weitem nicht alle Entscheidungen der Landes-Grundverkehrskommission beim VfGH angefochten, und die Zusammenfassungen in den Entscheidungen des VfGH sind in der Regel auf die für den VfGH entscheidungswesentlichen Fragen konzentriert und bilden damit nicht die ganze Breite der Entscheidungen ab. Und schließlich scheint es mir doch merkwürdig, wenn zur Information für die Entscheidungen eines Tribunals auf Berichte der Landesregierung verwiesen wird, der damit gewissermaßen eine Filter- oder Gatekeeperfunktion zwischen dem Tribunal und der Öffentlichkeit eingeräumt würde.

Kein Verstoß gegen Art 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde)
Die NGO machte auch eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde nach Art 13 EMRK geltend, da der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde abgelehnt hatte, obwohl - was für die Ablehnung Voraussetzung wäre - keine Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof zulässig war. Da aber nach einem entsprechenden Antrag der NGO der Verfassungsgerichtshof seinen ersten Beschluss wieder aufgehoben und in der Sache entschieden hat (wenn auch erst nach Einbringung der Beschwerde beim EGMR), sah der EGMR - diesbezüglich einstimmig - keine Verletzung des Art 13 EMRK. Dass das Rechtsmittel inhaltlich nicht erfolgreich war, ändert nichts daran, dass es als "wirksame Beschwerde" im Sinne des Art 13 EMRK anzusehen ist.

Update 29.11.2013: siehe zu diesem Urteil auch Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog und Maximilian Steinbeis auf Verfassungsblog; update 04.12.2013: siehe nun auch Dirk Voorhoof und Rónán Ó Fathaigh auf Strasbourg Observers.
Update 17.12.2013:der EGMR hat nun auch sein "legal summary" veröffentlicht.

*) Das Urteil ist nicht endgültig, innerhalb von 3 Monaten könnte die Verweisung an die Große Kammer beantragt werden.

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