Gestern habe ich ad hoc und recht knapp über die im Vermittlungsausschuss zwischen Europäischem Parlament und Rat erzielte Einigung zur sogenannten "Internet-Freiheit" - Art 1 Abs 3a der geänderten RahmenRL - berichtet (hier). Entgegen den Medienmitteilungen (Kommission, Parlament) habe ich mich dabei von der Bedeutung dieser neuen "Freiheit" nicht überzeugt gezeigt. Mittlerweile habe ich dazu auch zwei Mail-Anfragen erhalten und einen Kommentar, der - über den Hinweis auf einen Beitrag des Parlamentsabgeordneten Engström - wohl meinen Ausführungen auch skeptisch gegenübersteht (zur Diskussion siehe auch im Beck-Blog; weiters bei RA Thomas Stadler, Chris Marsden und LaQuadrature). Daher hier ein kurzer Versuch der Erklärung:
1. Politische Bedeutung vs. juristische Bedeutung
Die "neue Freiheit" war heiß umkämpft, sie stand im Brennpunkt zivilgesellschaftlichen Erwachens gegen einen zu recht als intransparent empfundenen Gesetzgebungsprozess in einer Zeit, in der in verschiedenster Form Einschränkungen des freien Zugangs zum Internet zur Debatte standen und zu erwarten waren. In wohl beispielloser Weise gelang es dabei, die trotz aller Konflikte zwischen Parlament und Rat de facto meist gut geölte Kompromisserzeugungsmaschine zumindest vorübergehend außer Betrieb zu setzen: die Abweichung des Parlaments in zweiter Lesung vom informell in kleinerer Verhandlungsgruppe mit dem Rat schon akkordierten Text war ein Meilenstein des europäischen Parlamentarismus und ein in dieser Form höchst ungewöhnliches Signal für den Rat. Dass nun auch noch im Vermittlungsausschuss wesentliche Parlamentspositionen aufrecht erhalten werden konnten, zeigte dem Rat (und indirekt auch der Kommission) die "Gefahren" wirklicher parlamentarischer Mitentscheidung. Zusammengefasst: die politische Bedeutung dieses Gesetzgebungsprozesses kann man wohl gar nicht hoch genug einschätzen.
Das muss aber nicht zwangsläufig auch bedeuten, dass der dabei akkordierte Richtlinientext auch juristisch gelungen oder bedeutend ist. Meine Einschätzung bezog sich nur auf diesen Aspekt: was heißt der neue Text für die Rechtsanwendung - und diesbezüglich bleibe ich im Wesentlichen bei meiner ersten Einschätzung: der normative Neuigkeitswert ist zumindest sehr gering (siehe aber unten Punkt 3.)
2. Jeder Richtlinientext ist wichtig - oft in schwer vorhersehbarer Form
Eine Zwischenbemerkung vor der Inhaltsanalyse: wir werden nun in absehbarer Zeit eine Richtlinienbestimmung haben, die nicht nur (wie das "Amendment 138") mit zweifelhafter Bedeutung in den Zielbestimmungen bzw regulatorischen Grundsätzen angeordnet ist, sondern die tatsächlich auf die Harmonisierung materieller mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften abzielt. Allein das Vorhandensein eines solchen ausdrücklichen Texts wird dazu führen, dass sich die Mitgliedstaaten damit auseinandersetzen müssen, ob sie allenfalls konkrete Umsetzungsmaßnahmen vornehmen sollen, und die Kommission wird auch diese Bestimmung in ihre Listen (zur Überprüfung der Umsetzung) eintragen und in den Implementation Reports darüber berichten. Allein das wird zu gewisser legistischer Bewegung oder zumindest zu entsprechenden Debatten führen.
Und man sollte auch nie unterschätzen, dass solche Texte auch in anderen oder etwas entfernteren Zusammenhängen wieder auftauchen können - beispielsweise wenn ein Generalanwalt einmal etwas weiter ausholen möchte ...
3. Die Verletzung EMRK-verbürgter Rechte kann zugleich mangelhafte Umsetzung von sekundärem Gemeinschaftsrecht sein
Das ist wohl der normative Mehrwert des Art 1 Abs 3a neu, sodass ich meine apodiktische Behauptung ("normativer Gehalt: null") etwas revidieren bzw klarstellen muss. Natürlich ist die nun proklamierte "Internet-Freiheit" bereits jetzt durch die EMRK - die alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben - verbürgt. In Österreich bedeutet das durch die besondere Form der Inkorporation der EMRK in nationales Verfassungsrecht sogar, dass man sich vor dem Verfassungsgerichtshof darauf berufen kann, denn die EMRK-Rechte sind verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte.
Mit Art 1 Abs 3a neu werden nun auch in der RahmenRL bestimmte Anforderungen an Grundrechtseingriffe statuiert, die sich sonst aus der EMRK ergeben - und damit kann die Kommission bei Nichteinhaltung dieser Anforderungen Vertragsverletzungsverfahren einleiten; überhaupt stehen Betroffenen dann die Möglichkeiten der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsdurchsetzung offen. Es ist sicher wirksamer, wenn die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen unziemlich in die "Internet-Freiheit" eingreifenden Mitgliedstaat führt und dazu den EuGH anruft, als wenn einzelne Betroffene nach Ausschöpfung aller innerstaatlicher Rechtsschutzmöglichkeiten sich mit einer Beschwerde an den EGMR wenden und dort in aller Regel einmal fünf Jahren auf eine Entscheidung warten müssen.
4. Was ist mit dem Vertragsrecht?
Art 1 Abs 3a neu der RahmenRL wendet sich gegen Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Christian Engström meint, durch die Formulierung des zweiten Absatzes werde auch sichergestellt, dass die Mitgliedstaaten nicht die Internet Service Provider zwingen können, ihre Kunden abzuschalten, statt diese unangenehme Arbeit selbst (durch Behörden) zu erledigen. Das mag sein: aber nichts in diesem Text hindert ISPs, die sich vielleicht mit der Unterhaltungsindustrie - zB nach einer Klage - einigen und gut vertragen wollen, solche Abschaltungen aus eigenem vorzunehmen. Das muss auch nicht vertragswidrig sein - entsprechende Vertragsbestimmungen lassen sich durchaus formulieren. Die "neue Internet-Freiheit" bleibt vom Goodwill der ISPs abhängig (nicht zu vergessen: auch nach der geänderten Universaldienst-RL gibt es keinen aus dem Unviersaldienst ableitbaren Anspruch auf einen Breitband-Internetzugang, sondern bloß auf einen Festnetz-Telefonanschluss, der "Datenkommunikation mit Übertragungsraten ermöglichen [muss], die für einen funktionalen Internetzugang ausreichen").
5. Show, don't tell
Was mich am Text des Art 1 Abs 3a neu RahmenRL überdies irritiert, ist die gleich dreimalige Anrufung der EMRK innerhalb von nur zwei Unterabsätzen. Das erweckt den Eindruck, als habe man diese Hinweise auf die EMRK besonders nötig, als wäre es nicht möglich, selbst einen Text zu formulieren, der inhaltlich diesen Ansprüchen genügen würde, oder als würde es einem ohnehin niemand abnehmen, dass man mit den in der EMRK verbürgten Rechten besonders viel am Hut habe und müsse deshalb so nachdrücklich darauf hinweisen. Ich weiß, das ist ein eher ästhetischer Einwand - aber irgendwie wäre ich beruhigter, hätte man den Text gleich so konkret gefasst, dass es nicht mehr notwendig wäre, die EMRK gleich dreimal in der Art eines Schutzheiligen anzurufen.
Friday, November 06, 2009
Nochmals: zur neuen "Internet-Freiheit"
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