Tuesday, January 14, 2014

Wenn die Ex-Freundin über das Liebesleben mit dem Regierungschef schreibt: EGMR zu den Grenzen des "kiss and tell"

Dass Beziehungsgeschichten von Präsidenten die Presse interessieren, muss nicht nur Frankreichs Präsident Hollande zur Kenntnis nehmen - auch der österreichische Bundespräsident wehrte sich schon gerichtlich gegen ein - damals im Standard aufgeschriebenes - "bürgerliches Gerücht", das letztlich auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beschäftigte (4. Juni 2009, Standard Verlags GmbH gegen Österreich (Nr. 2)).

Keine Gerüchte, sondern unbestritten die Wahrheit über ihre neun Monate dauernde Beziehung mit dem damaligen finnischen Premierminister erzählte hingegen Susan Ruusunen in einem gemeinsam mit dem Verleger Kari Ojala verfassten Buch ("Die Braut des Premierministers"), das heute zu zwei Urteilen des EGMR führte, in denen der Gerichtshof die Grenzen des "Kiss and Tell"-Journalismus aufzeigt: Ojala und Etukeno Oy gegen Finnland (Appl no. 69939/10) und Ruusunen gegen Finnland (Appl. no. 73579/10). Kurz zusammengefasst: "kiss and tell" im engeren Wortsinn kann zulässig sein, "f**k and tell" aber nicht.

Zum Ausgangsfall
In ihrem Buch schilderte die Ex-Freundin des Premiers neun Monate ihres Lebens, in denen sie sich mit dem damals gerade erst geschiedenen Regierungschef verabredete und eine Liebesbeziehung aufnahm. "The book made references to their intimate interactions", heißt es im Urteil des EGMR etwas verschämt.

Der Staatsanwalt leitete Verfahren gegen die Autorin, den Verleger und den Verlag ein. Nach einem bis zum Obersten Gerichtshof Finnlands geführten Verfahren wurde der Verleger zu einer Geldstrafe von 60 Tagsätzen (insgesamt 840 Euro) und zum Ersatz der Kosten des Premierministers, der sich am Verfahren beteiligt hatte (in der Höhe von insgesamt 10.500 €) verurteilt, die Ex-Freundin des Premier zu 20 Tagsätzen (insgesamt 300 €) - am Verfahren gegen seine Ex-Freudin hatte sich der Premier nicht beteiligt. Der Verlag, gegen den sich das Strafverfahren auch richtete, wurde nicht verurteilt und erhielt Kostenersatz für das Verfahren zugesprochen (auch der Verlag beschwerte sich beim EGMR; im Urteil Ojala und Etukeno Oy wurde seine Beschwerde aber - mangels Opferstatus - als unzulässig beurteilt).

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs hielt fest, welche Teile des Buchs unzulässige Informationen zum Privatleben des Premiers enthielten:
The court enumerated in particular seven parts of the book which contained information about the start of the sex life in the beginning of their relationship, descriptions of their brief and passionate intimate moments as well as giving massages to each other, and accounts of their sexual intercourse.
Die Urteile des EGMR
Unstrittig war, dass durch die Urteile der finnischen Gerichte in das Recht der Autorin und des Verlegers auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK eingegriffen worden war. Der Gerichtshof hält fest, dass diese Eingriffe auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage erfolgten und einem legitimen Ziel, dem Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK, dienten. Näher zu prüfen war dann, ob dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Die (in beiden Urteilen weitgehend idente) Begründung verweist zunächst auf die ständige Rechtsprechung, insbesondere auch zu den weiteren Schranken bei Kritik an Politikern und anderen "public figures". Unter bestimmten Umständen können aber auch Personen des öffentlichen Interesses legitimerweise auf den Schutz ihrer Privatsphäre vertrauen. In der Folge verweist der EGMR auf seine jüngere Rechtsprechung zu den relevanten Grundsätzen, wenn die Notwendigkeit eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit im Interesse des Schutzes des guten Rufs oder der Rechte anderer zu beurteilen ist. In solchen Fällen ist es Aufgabe des EGMR zu verifizieren, dass die nationalen Gerichte einen fairen Ausgleich gefunden haben ("the Court may be required to verify whether the domestic authorities struck a fair balance when protecting two values guaranteed by the Convention which may come into conflict with each other in certain cases, namely, on the one hand, freedom of expression protected by Article 10 and, on the other, the right to respect for private life enshrined in Article 8").

Die dafür relevanten Kritierien hat der EGMR vor allem in den Urteilen der Großen Kammer Von Hannover Nr 2 (im Blog dazu hier) und Axel Springer AG (im Blog dazu hier) ausgearbeitet - ich nenne sie der Einfachkeit halber "Caroline-Kriterien":
  • Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse,
  • Bekanntheit der Person, über die berichtet wird und Gegenstand des Berichts,
  • früheres Verhalten der Person,
  • Methode der Informationsbeschaffung und Wahrheitsgehalte /Umstände, unter denen Fotos aufgenommen wurden,
  • Inhalt, Form und Folgewirkungen der Veröffentlichung,
  • Schwere der Sanktionen.
Details der Abwägung:

In der Folge nimmt der EGMR aber weder selbst eine systematische Abwägung dieser Kriterien vor, noch beschränkt er sich darauf, zu überprüfen, ob die nationalen Gerichte diese Abwägung vorgenommen haben; auch die Reihenfolge der Kriterien wird nicht "schulmäßig" abgehandelt. Die Begründung ist im Ergebnis wie auch in jedem einzelnen Argumentationsschritt zwar durchaus stimmig, aber in der Darstellung merkwürdig unsystematisch.

Zunächst hält der EGMR fest, dass es im Buch nicht nur um eine Beschreibung des Privatlebens der Autorin ging: "The book also described [..] a situation in which two different realities of present day Finnish society met: a wealthy party leader and Prime Minister on the one hand, and a single mother with everyday money problems on the other hand."

Wahrheit, guter Glaube/Methode der Informationsbeschaffung: Niemand hatte behauptet, dass das Buch Unwahrheiten enthalten hätte, und sogar der EGMR stellte fest, dass es bestritten, dass die Fakten im Buch "mitfühlend" dargestellt wurden ("in a compassionate manner") und der Stil weder provozierend noch übertrieben war. Es gab auch keinerlei Hinweise auf einen fehlenden guten Glauben der Autorin oder des Verlegers. Es gab auch keinen Hinweis, dass die Autorin zu den im Buch dargestellten Informationen auf illegitime Weise gekommen wäre, eher im Gegenteil: der Premier hatte auch der Verwendung des Titelfotos, auf dem er mit der Autorin abgebildet ist, zugestimmt.

Bekanntheit der Person: Es überrascht nicht, dass der Premierminister als Person öffentlichen Interesses beurteilt wurde.

Im nächsten Schritt wendet sich der EGMR dann der von den nationalen Gerichten vorgenommen Abwägung zu. Er hält fest, dass er zur "Notwendigkeit" der Beschränkung der Meinungsäußerung prüft, ob die vom nationalen Gericht dargelegten Gründe für die Verurteilung relevant und ausreichend sind, ob der richtige Ausgleich zwischen den Interessen gefunden wurde und die dem Art 10 EMRK entsprechenden Standards angewendet wurden.

Debatte von öffentlichem Interesse?
The Court considers that even though the emphasis in the book was on the girlfriend’s private life, it nevertheless contained elements of public interest. The Supreme Court considered, contrary to the Appeal Court, that the information about how and when the former Prime Minister had met the girlfriend and how quickly their relationship had developed had relevance to general public discussion as these issues raised the question of whether in this respect he had been dishonest and lacked judgment. The Supreme Court also found that the information concerning the great differences in the standard of living between the girlfriend and the former Prime Minister, his lifestyle, the data protection concerns and the protection of the highest political authorities in general had relevance to general public discussion. The Court agrees with this. From the point of view of the general public’s right to receive information about matters of public interest, there were thus justified grounds for publishing the book. (Hervorhebung hinzugefügt)
Früheres Verhalten des Betroffenen: Vieles, was im Buch über den Premier geschrieben wurde, war bereits weit bekannt. Der Premier hatte Informationen über seine Familie und sein Privatleben, auch über seine Beziehung zu seiner Freundin, offengelegt. Er hatte sogar selbst (im Jahr 2005) eine Autobiographie geschrieben (und, wie das nationale Erstgericht festgestellt hatte, auch gebloggt!). Informationen über sein Sexualleben und "intime Ereignisse" ("intimate events") hatte er aber noch nie offengelegt.

Abwägung durch das nationale Gericht anhand der Standards des Art 10 EMRK: Wie ich schon zum Urteil Von Hannover Nr 2 geschrieben habe, könnte eine Maxime des EGMR im Zusammenhang mit der Abwägung der gegenläufigen Interessen nach Art 10 und Art 8 EMRK auch lauten: "Not only must the balancing exercise be done; it must also be seen to be done." Der EGMR vergewissert sich, dass die nationalen Gerichte die Standards des Art 10 EMRK geprüft haben und das auch in ihren Urteilen erkennbar ist. Hier waren die finnischen Gerichte diesmal überzeugend:
56. [...] The domestic courts examined the case in conformity with principles embodied in Article 10 and the criteria laid down in the Court’s recent case-law. All domestic courts, and especially the Supreme Court, balanced in their reasoning the first applicant’s right to freedom of expression against the former Prime Minister’s right to reputation, by considering them from the point of view of “pressing social need” and proportionality. The Supreme Court also narrowed down the scope of the problematic passages in the book. It enumerated only certain parts of the book which it considered to contain information falling within the core area of the private life of the former Prime Minister (see paragraph 14 above). The Supreme Court found that such information and hints and their unauthorised publication was conducive of causing the former Prime Minister suffering and contempt. According to the Supreme Court, it was thus necessary to restrict the applicants’ freedom of expression in this respect in order to protect the former Prime Minister’s private life.
57. The Court finds this reasoning acceptable. The restrictions of the exercise of the applicants’ freedom of expression were established convincingly by the Supreme Court, taking into account the Court’s case-law. The Court recalls its recent case-law according to which the Court would require, in such circumstances, strong reasons to substitute its view for that of the domestic courts (see Von Hannover v. Germany (no. 2) [GC], cited above, § 107; and Axel Springer AG v. Germany [GC], cited above, § 88).
Schwere der Sanktionen: Der EGMR fand die - immerhin strafrechtlichen - Sanktionen angemessen; es war kein Eintrag ins Strafregister erfolgt und lediglich eine Geldstrafe ergangen. Interessant ist, dass der EGMR die Verurteilung des Verlegers zum Ersatz der Kosten des Premierministers für dessen Beteiligung am Strafverfahren auf der Seite des Staatsanwalts als nicht angemessen beurteilte. Dies allein sei aber noch kein ausreichender Grund für ein anderes Gesamtergebnis.

Die finnische Regierung hatte im Fall des Verlegers geltend gemacht, dass dieser bloß "insignificant damage" erlitten habe und die Beschwerde deshalb unzulässig sei. Bemerkenswert ist, dass der EGMR dazu ausdrücklich nicht Stellung nahm - was jedenfalls erwarten lässt, dass auch (geringe) strafrechtliche Verurteilungen vom EGMR allenfalls als "insignificant damage" beurteilt werden könnten, was zur Unzulässigkeit einer Beschwerde führen würde.

Ergebnis: Der EGMR kam damit - einstimmig - zum Ergebnis, dass die von den nationalen Gerichten herangezogeen Gründe relevant und ausreichend waren, um zu belegen, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Die nationalen Gerichte hatten einen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Inteessen gefunden und ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten haben, sodass keine Verletzung des Art 10 EMRK festzustellen war.

Schlussfolgerungen:
Wie schon oben geschrieben: die Urteile sind nicht das Ende von "kiss and tell". Der EGMR hatte zwar (sachverhaltsbezogen) nicht zu beurteilen, ob schon Berichte über Küsse mit dem Premierminister zu weit gehen, aber solange solche Küsse nicht allzu sinnlich und damit vielleicht schon als Bestandteile von "intimate events" anzusehen sind, scheint mir das Urteil ein "kiss and tell" im engeren Wortsinne durchaus offen zu lassen.

"How I Met Your Prime Minister" wäre nach dem Urteil zulässig, "How I Massaged Your Prime Minister" nicht.

PS: Wenn jemand aus aktuellem Anlass wissen möchte, was der französische Präsident jetzt an juristischen Optionen (nach französischem Recht) hat, möge Presidential affair: a close friend, a Closer enemy von Alexia Bedat auf Inforrm's Blog lesen.

Update: siehe dazu nun auch den Beitrag von Dominic Crossley auf Inforrm's Blog.

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