Saturday, October 12, 2013

EGMR: Inhaber einer politisch geschaffenen hochdotierten Managementfunktion muss Kritik an deren Einrichtung aushalten

In seinem Urteil vom 10. Oktober 2013 im Fall Jean-Jacques Morel gegen Frankreich (Appl. no. 25689/10) hatte sich der EGMR wieder einmal mit den Grenzen zulässiger politischer Kritik auseinanderzusetzen. Ein Stadtrat hatte dem Bürgermeister die Schaffung eines unnotwendigen, aber hochdotierten Postens vorgeworfen, wodurch sich aber nicht der kritisierte Bürgermeister, sondern der Inhaber der angeblich unnötigen Stelle in seiner Ehre verletzt sah.

Ausgangsfall
Der Beschwerdeführer vor dem EGMR war Stadtrat von Saint-Denis de La Réunion, und aus der Partei, die den Bürgermeister stellte, ausgeschieden. In einer Pressekonferenz kritisierte er den Bürgermeister wegen der neu geschaffenen Stelle des Generaldirektors in einem Verein, der im Auftrag der Stadt öffentliche Dienstleistungen erbrachte. Über diese Pressekonferenz wurde in einer Lokalzeitung unter der Überschrift "Jean-Jacques Morel rechnet ab" berichtet; demnach habe der Bürgermeister von heute auf morgen den Posten des Generaldirektors geschaffen, obwohl der Verein sehr gut ohne Generaldirektor funktioniert habe. Seiner Ansicht nach handle es sich um eine Scheinbeschäftigung ("emploi factice") mit einer Bezahlung von 12.000 € im Monat für ein paar Stunden Arbeit pro Woche. Das sei Misswirtschaft und Verschwendung. 

Der Generaldirektor klagte, und nach einem wechselvollen Verfahrensgang wurde der Beschwerdeführer schließlich wegen übler Nachrede zu einer Geldstrafe von 1.000 € und einer Entschädigung von 3.000 € verurteilt.

Urteil des EGMR
Vor dem EGMR war unstrittig, dass die Verurteilung einen Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung darstellte, auf Gesetz beruhte und dem Schutz eines legitimen Ziels diente. 

Zur Frage der "Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft hielt der EGMR - nach Darlegung der allgemeinen Grundsätze - bezogen auf den konkret vorliegenden Fall fest, dass die kritisierten Statements im Rahmen einer Debatte von allgemeinem Interesse gemacht worden waren, nämlich zur Kritik der Beschäftigung und Bezahlung des Generaldirektors des stadtnahen Vereins, und damit den Umgang mit öffentlichen Geldern ansprachen. 

Weiters waren die Äußerungen auf einer Pressekonferenz gefallen, die der Beschwerdeführer in seiner Funktion als Stadtrat und Vertreter einer Minderheitsgruppe gegeben hat. Damit handelt es sich um Äußerungen eines Oppositionspolitikers, bei denen der Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten sehr beschränkt ist. 

Die Äußerungen bezogen sich auch nicht auf den Generaldirektor des Vereins, sondern kritisierten den Bürgermeister, der diese Stelle geschaffen und für den Stelleninhaber so vorteilhaft ausgestaltet hatte. Die Äußerungen seien mehr Werturteil als Tatsachenmitteilung gewesen, und auch wenn der Beschwerdeführer nicht habe nachweisen können, dass es sich tatsächlich um eine fiktive Beschäftigung gehandelt habe, so habe er doch gezeigt, dass die Kritik auf realen Umständen hinsichtlich der Bezahlung beruhte und damit den Umgang mit öffentlichen Geldern betraf. Es habe daher eine ausreichende Tatsachengrundlage für die Werturteile gegeben.

Dem Beschwerdeführer sei auch kein Sorgfaltsverstoß vorzuwerfen; er habe niemandem ausdrücklich ein strafbares Verhalten vorgeworfen und den Stelleninhaber auch nicht persönlich in die Angelegenheit hineingezogen. Auch wenn die Äußerungen polemisch gewesen seien, so seien sie doch innerhalb der Grenzen zulässiger Übertreibung oder Provokation geblieben. 

Damit kommt der EGMR zum Ergebnis, dass kein fairer Ausgleich zwischen der Notwendigkeit, den Ruf des betroffenen Generaldirektors zu schützen, und dem Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung gefunden worden war und die nationalen Gerichte keine relevanten und ausreichenden Gründe für den Eingriff gegeben hätten, die einem dringenden sozialen Bedürfnis ("besoin social impérieux") entsprächen. Die Geldstrafe von 1.000 € und die Entschädigung von 3.000 € sei auch nicht vernachlässigbar. Die Verurteilung könne daher einen "chilling effect" ("effet dissuasif") auf die freie Meinungsäußerung haben und stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff dar. 

Der EGMR kam damit einstimmig zur Feststellung einer Verletzung des Art 10 EMRK. Dem Beschwerdeführer wurden seine Kosten und die Aufwendungen für die Strafe und die Entschädigung zugesprochen, allerdings - dies nur mehrheitlich mit 6:1 Stimmen - keine Entschädigung für immateriellen Schaden. Die irische Richterin Power-Forde hält dazu in ihrer abweichenden Meinung fest, dass der Beschwerdeführer, der sich immerhin in einem Strafverfahren verteidigen musste und zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, zu mehr als bloß einem moralischen Sieg berechtigt gewesen wäre. 

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