Sunday, January 22, 2012

EGMR: nochmals zur identifizierenden Berichterstattung, diesmal: Täter

Am 17.01.2012 hat der EGMR nicht nur in den Fällen Krone und Kurier über den Schutz eines Verbrechensopfers vor identifizierender Berichterstattung entschieden (dazu hier), sondern auch im Fall Lahtonen gegen Finnland (Appl. no. 29576/09) über den Schutz des Beschuldigten einer Straftat (und eine Woche zuvor im Fall Standard gegen Österreich Nr. 3 über den Schutz eines in unklarer Rolle in einen Bankenskandal involvierten Managers; dazu hier).

Ausgangspunkt des Falls Lahtonen war eine ungewöhnliche Straftat. Ein Polizist, der zu diesem Zeitpunkt außer Dienst war, hatte ein Auto angehalten, seinen Dienstausweis vorgezeigt und das Auto - angeblich wegen eines Notfalls - in Besitz genommen. Nach einer Panne wollte er ein zweites Auto auf diese Weise requirieren, stieß dabei aber auf zwei Polizisten in Zivil, denen er Gewalt androhte. Er raste dann mit weit überhöhter Geschwindigkeit weiter, wurde aber schließlich von der Polizei gestellt und in der Folge angeklagt.

Bald nach seiner Festnahme gab der Polizist (J.) einem Magazin - gegen Entgelt - ein Exklusivinterview. Das Magazin nannte seinen Namen nicht, zeigte aber ein Profilfoto und erwähnte, dass er sich zu dieser Zeit einer nicht freiwilligen Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzog. J. bot auch dem Magazin "Alibi", dessen Chefredakteur Herr Lahtonen war, ein Interview gegen Geld ab, was von Lahtonen abgelehnt wurde. Bald darauf veröffentlichte die Zeitschrift Alibi einen Artikel über den Fall, der sich auf die öffentlich zugänglichen Informationen aus den Gerichtsdokumenten in diesem Fall stützte. J. wurde mit seinem Namen und Geburtsjahr genannt. Der Artikel enthielt etwas Information zum persönlichen Background und aktuellen Arbeitsplatz von J., außerdem einen Bericht über die konkreten Straftaten und dass J. selbst eine psychiatrische Untersuchung gewünscht hatte. J. wurde in der Folge schuldig gesprochen, erhielt aber keine Strafe, da er für sein Handeln (wohl wegen seines psychischen Zustands) nicht verantwortlich gewesen war.

J. wandte sich an den finnischen Presserat, der gegenüber dem Journalisten eine Verwarnung aussprach, da er durch die Nennung des Namens von J. sowie durch die Information über die psychiatrische Untersuchung die gute journalistische Praxis verletzt hatte (hier die Entscheidung des Presserats). In der Folge beantragte J. die Verfolgung von Herrn Lahtonen wegen der Verbreitung von Informationen, durch die das Privatleben verletzt wurde (ein in Finnland gerichtlich strafbares Delikt nach Kapitel 24, § 8 des finnischen Strafgesetzbuchs). Nach längerem Verfahren über mehrere Instanzen wurde Herr Lahtonen zu einer Strafe von 30 Tagessätzen (insgesamt 1.170 €) und - gemeinsam mit dem Medieninhaber - zu einer Entschädigung von 5.000 € sowie zum Kostenersatz von im Ergebnis etwas über 10.000 € verurteilt.

Vor dem EGMR bestand Einigkeit über das Vorliegen eines Eingriffs in das Recht auf freie Meinungsäußerung. Zur gesetzlichen Grundlage für den Eingriff machte der Beschwerdeführer geltend, dass diese nicht ausreichend bestimmt gewesen sei. Dem folgte der EGMR nicht und argumentierte - wie schon im Fall Reinboth (dazu hier), ohne diesen dabei ausdrücklich zu zitieren -, dass der Beschwerdeführer als Journalist zumindest die Richtlinien der journalistischen Berufsausübung, die strenger als das Gesetz waren, kennen hätte müssen (wie ich schon in meinem Beitrag zum Fall Reinboth geschrieben habe, überzeugt mich das nicht).

Erfolg hatte der Beschwerdeführer aber beim Test, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der EGMR betont, dass die Fakten in objektiver Weise dargestellt worden waren, dass ihre Richtigkeit nie bestritten wurde und dass die Informationen auch nicht in unzulässiger Weise beschafft worden waren (anders als im "Caroline"-Fall!). Da J. ein erfahrener Polizist war und - auch wenn er in der Freizeit gehandelt hatte - seine Autorität als Polizist missbraucht hatte, sei es schwer zu sehen, wie diese Taten nicht als Angelegenheit von öffentlichem Interesse gesehen werden könnten. Dem Journalisten war zudem im Hinblick auf die Unschuldsvermutung kein Vorwurf zu machen. Und schließlich war noch die - unverhältnismäßige - Schwere der Sanktionen zu berücksichtigen. Der Gerichtshof kam daher einstimmig zum Ergebnis, dass eine Verletzung des Art 10 EMRK vorlag.

No comments :