Kammerpräsident Rozakis (Griechenland) und Richterin Vajić (Kroatien) hatten in ihrer abweichenden Meinung betont, dass unbestritten die Plakate selbst weder etwas Verbotenes enthalten hatten noch die Öffentlichkeit hätten schockieren können; die Vereinigung selbst sei nicht verboten und müsse daher ihre Ideen und Meinungen frei und ungehindert auf den Wegen verbreiten können, die die Gesellschaft ihren Angehörigen biete. Es sei problematisch, dass die Schweizer Behörden einerseits die Vereinigung zugelassen, andererseits aber neutrale Werbung durch die Vereinigung verboten hatten. Eine Tendenz, die Freiheit der Meinungsäußerung zugunsten des Beurteilungsspielraums des Staates einzuschränken, scheine weder mit der Rechtsprechung des EGMR, noch mit den Aktivitäten des Europarats im Bereich der Förderung neuer Technologien vereinbar. In unserer Zeit scheine es - angesichts der Bedeutung und der Rolle direkter Kommunikation mit Mobiltelefonen und Internet - schwierig zu verstehen, dass eine legale Vereinigung mit einer legalen Website nicht den öffentlichen Raum nützen könne, um auf die selben Ideen wie auf ihrer Website (und auf die Website) hinzuweisen.
Auf Antrag der Raëlischen Bewegung wurde die Angelegenheit nun mit Beschluss vom 20.6.2011 an die Große Kammer des EGMR verwiesen (Pressemitteilung des EGMR). Die Fallkonstellation ist zwar etwas "außerirdisch", aber die Große Kammer könnte einige wichtige Fragen zum Recht auf freie Meinungsäußerung im Zusammenhang mit dem Internet ansprechen. Immerhin scheint die Mehrheitsmeinung im EGMR-Kammerurteil gerade den Umstand, dass das Internet allgemein zugänglich ist und einen großen Multiplikatoreffekt hat, als eher bedrohlich - und potentiell einen Eingriff rechtfertigend - gesehen zu haben, auch da von der Website (auf die im Plakat verwiesen wurde) auch auf eine weitere Website (mit Angeboten für in der Schweiz unzulässige Dienstleistungen) verlinkt wurde; insofern steht also auch die Frage im Raum, wie weit sich ein Websitebetreiber den Inhalt verlinkter Seiten zurechnen lassen muss. Wörtlich heißt es in Nr. 54 des Kammerurteils:
"[...] la Cour ne saurait ignorer le fait que figure également sur l'affiche, en caractères plus gras, l'adresse du site internet de l'association, ainsi qu'un numéro de téléphone. Le site de l'association renvoie à celui de Clonaid, où cette société offre des services précis au public en matière de clonage. A la lumière du principe selon lequel la Convention et ses Protocoles doivent s'interpréter à la lumière des conditions d'aujourd'hui [...], la Cour estime qu'il convient d'examiner la mesure litigieuse en tenant compte des moyens modernes de diffusion d'informations. Partant, il s'agit notamment d'évaluer, dans l'appréciation de la conformité de la mesure litigieuse avec l'article 10, non seulement l'affiche, mais aussi le cadre plus global dans lequel elle se situe, notamment les idées propagées dans les ouvrages et le contenu du site internet de l'association requérante ainsi que de celui de Clonaid. Or, ces sites étant per se accessibles à tous, y compris aux mineurs, l'impact des affiches sur le public se serait vu multiplié et l'intérêt de l'Etat à interdire la campagne d'affichage était d'autant plus grand [...]" (Hervorhebung hinzugefügt)Gerade diese Passage wurde übrigens schon von EuGH-Generalwanwalt Cruz Villalón in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C-70/10 Scarlet Extended (Internetsperren) zitiert (siehe dazu hier).
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