Zum Ausgangsfall:
Am 9. September 2006 fand in Helsinki ein "Asia-Europe-Meeting" statt, gegen das mit einer "Smash ASEM"-Kundgebung demonstriert wurde. Für Journalisten war von den Sicherheitskräften ein eigener Bereich abgegrenzt worden, von dem aus sie die Kundgebung beobachten und fotografieren konnten.
Zu Beginn der Demo wurden Flaschen, Steine und mit Farbe gefüllte Gläser auf die Polizei und umstehende Personen geworfen. Als die Demonstranten die Polizeiabsperrungen durchbrechen wollten, löste die Polizei die gewalttätig gewordene Kundgebung auf und forderte die Demonstranten auf, den Platz zu verlassen. Nachdem hunderte Demonstranten den Platz freiwillig verlassen hatten, wurden die restlichen Demonstranten eingezirkelt; die Polizei erlaubte ihnen, den Platz zu verlassen, stellte aber ihre Identität fest. Eine Kerngruppe von rund zwanzig Demonstranten verblieb jedoch auf dem Platz, obwohl die Polizei angekündigt hatte, sie festzunehmen, wenn sie den Platz nicht verlassen. Unter diesen auf dem Platz verbliebenen Demonstranten war auch der Beschwerdeführer vor dem EGMR, der Pressefotograf Markus Pentikäinen. Er wurde - mit den anderen Demonstranten - festgenommen und blieb fast 18 Stunden in Polizeigewahrsam.
Im nachfolgenden Gerichtsverfahren wegen Nichtbefolgung einer polizeilichen Anordnung wurde der Beschwerdeführer schuldig gesprochen; von der Verhängung einer Strafe wurde jedoch im Hinblick auf die Stellung des Beschwerdeführers als Journalist abgesehen; er habe sich mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert gesehen, einerseits von der Polizei, die ihn zum Verlassen, und andererseits von seinem Dienstgeber, der ihn zum Bleiben aufgefordert hatte. Das Gericht hielt auch fest, dass nach Zeugenaussagen der Beschwerdeführer nicht zu erkennen gegeben habe, dass er Journalist sei, und dass zwei weitere Foto-Journalisten den Platz unmittelbar vor der Festnahme des Beschwerdeführers unbehelligt verlassen konnten.
Das Urteil des EGMR
Der EGMR beurteilte die Beschwerde einstimmig als zulässig, stellte aber - mit 5:2 Stimmen - keine Verletzung des Art 10 EMRK fest.
Eingriff: auch wenn keine Strafe ausgesprochen wurde, so waren die Festnahme und der Schuldspruch doch die Folge des Verhaltens des Beschwerdeführers als Journalist, sodass die Vermutung eines Eingriffs in sein Recht auf freie Meinungsäußerung besteht (Abs 35 des Urteils).
Gesetzliche Grundlage und legitimes Ziel: Die Festnahme und Verurteilung wegen Nichtbefolgung einer polizeilichen Anweisung hatte eine klare und ausreichende Grundlage in den nationalen Rechtsvorschriften und diente mehreren legitimen Zielen, insbesondere dem Schutz der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung (Abs 36).
Notwendigkeit in eier demokratischen Gesellschaft: Der EGMR hält zu den konkreten Umständen des Falles zunächst fest, dass der Beschwerdeführer wegen Nichtbefolgung einer polizeilichen Anweisung im Zusammenhang mit einer Demonstration, an der er als Fotograf und Journalist teilgenommen hatte, festgenommen und verurteilt wurde. Eine gesonderte, sichere Zone war für die Presse reserviert gewesen, der Beschwerdeführer hatte es aber vorgezogen, diese nicht zu nutzen, sondern bei den Demonstranten zu bleiben. Der Beschwerdeführer war in keiner Weise am Fotografieren gehindert worden, seine Kamera wurde nicht konfisziert und er konnte die Bilder ohne Einschränkung verwenden.
Der EGMR hält weiter fest, dass die Polizei den Kundgebungsplatz (erst) nach den Gewaltausschreitungen abgeriegelt und die Teilnehmer zum Verlassen des Platzes aufgefordert hat, wofür sie - wie die nationalen Gerichte feststellten - gerechtfertigte Gründe hatte. Die Polizei hatte den Medienvertretern auch gestattet, das abgesperrte Gebiet zu verlassen.
Der Beschwerdeführer hatte, so der EGMR, auf sein Recht, den abgesicherten gesonderten Pressebereich zu nutzen, verzichtet und sich entschlossen, auch nach der polizeilichen Auflösung der Kundgebung bei den Demonstranten zu bleiben. Von der polizeilichen Anordnung, den Platz zu verlassen, war er informiert, und er hätte den Platz ohne Konsequenzen verlassen können. Der Beschwerdeführer hat auch nicht einmal behauptet, dass er seine beruflichen Aufgaben vom gesicherten Pressebereich aus nicht hätte wahrnehmen können, und er habe damit bewusst das Risiko auf sich genommen, wegen Widersetzlichkeit festgenommen zu werden (Abs 45).
Es sei nicht ganz klar, wann die Polizei erfahren habe, dass der Beschwerdeführer Journalist sei; erst als er zum Arrestantenbus gebracht worden sei (also nach der Festnahme), habe er einen Presseausweis vorgezeigt. Der EGMR stellt fest, dass es der Beschwerdeführer unterlassen habe, klare Anstrengungen zu machen, sich als Journalist zu identifzieren, was den vorliegenden Fall vom Fall Najafli gegen Aserbaidschan unterscheide (Abs 46). In Abs 47 des Urteils differenziert der EGMR schließlich im Hinblick auf die polizeiliche Anordnung überhaupt nicht mehr zwischen dem Journalisten und anderen dort anwesenden Personen (Hervorhebung hinzugefügt):
The Court further considers that the applicant was not as such prevented from exercising his freedom of expression and reporting the event. Moreover, he was offered the alternative to follow the demonstration from the secured area reserved to the press. His arrest and conviction only related to disobeying the police as he failed to obey their orders. As the Government pointed out, the fact that the applicant was a journalist did not give him a greater right to stay at the scene than the other people.Die knapp 18-stündige Anhaltung sei vor allem darauf zurückzuführen, dass nach finnischem Recht eine Vernehmung zur Nachtzeit nicht zulässig sei; der Beschwewrdeführer sei auch - wegen seines Status als Journalist - als einer der ersten entlassen worden. Der EGMR kommt damit zum Ergebnis, dass der Eingriff in die journalistische Freiheit des Beschwerdeführers - im Hinblick auf die ihm offen gestandenen Möglichkeiten, über das Ereignis adäquat zu berichten - nur von begrenztem Ausmaß gewesen sei. Das Verhalten, das zur Verurteilung geführt habe, sei nicht die journalistische Arbeit gewesen, sondern die Weigerung, einer polizeilichen Anordnung zu folgen.
Die Demo war Gegenstand legitimen öffentlichen Interesses und es war daher gerechtfertigt, darüber zu berichten. Die Behörden, so der EGMR, hätten dies auch anerkannt und daher den sicheren abgegrenzten Pressebereich eingerichtet. Das Ereignis habe große Aufmerksamkeit der Medien hervorgerufen, der Beschwerdeführer sei aber der einzige gewesen, der eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit behauptet habe.
Der EGMR hält fest, dass das finnische Gericht die Angelegenheit unter dem Gesichtspunkt des Art 10 EMRK behandelt und dabei die beteiligten Interessen abgewogen habe; es war zum Ergebnis gekommen, dass es ein zwingendes soziales Bedürfnis ("pressing social need") für die bekämpften Maßnahmen gegeben habe. Vor allem sei es aus Sicherheitsgründen notwendig gewesen, die Kundgebung aufzulösen, weil es zu Gewalttätgkeiten und zur Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gekommen war. Der EGMR berücksichtigt auch, dass keine Strafe ausgesprochen wurde und dass keine Eintragung im Strafregister erfolgte.
Abweichende Meinung
Der zypriotische Richter Nicolaou verfasste eine abweichende Meinung, der sich der maltesische Richter De Gaetano anschloss. Die abweichende Meinung macht ein Problem besonders deutlich: die Abhängigkeit des EGMR von der Sachverhaltsdarstellung der Beteiligten. Denn die beiden "abweichenden" Richter bieten eine ganz andere Erzählung der Angelegenheit - hier ist nicht von der Notwendigkeit die Rede, eine gewalttätige Demonstration aufzulösen und auch nicht von der Unklarheit, ob sich der Beschwerdeführer als Journalist zu erkennen gegeben hat. Nach der Darstellung in der abweichenden Meinung gab es zum Zeitpunkt Auflösung der Kundgebung keine Ausschreitungen mehr (was tatsächlich bei rund 20 Demonstranten gegen einen Übermacht von Poliziei schwer vorstellbar wäre): "There is no indication that there was, at that stage, a threat to public order; the riot had already been quelled. That is not to say, of course, that the police orders ceased to have relevance as regards the demonstrators. But the applicant was not one of them. And it has never been suggested that he did anything inconsistent with his journalistic duties."
Die abweichende Meinung kritisiert - meines Erachtens sehr zu Recht - auch die Bedeutung, die die Mehrheit dem abgegrenzten sicheren Pressebereich zumisst, und sie betont die Notwendigkeit, unmittelbar vom Inneren der Demo zu berichten (Hervorhebung hinzugefügt):
Where a demonstration is peaceful, the journalist’s function is essentially one of collecting and transmitting information and, quite often, adding comment. But when tension builds up and violence breaks out, whereupon the authorities resort to suppressive control measures, the journalist assumes the role of "public watchdog" and his task then acquires even greater significance: as to this role of the press, see, for example, Barthold v. Germany, 25 March 1985, Series A no. 90. He is entitled to be in the very thick of things until the very end, and sometimes does so at considerable risk to himself. The reason is because in a democratic society the public have the right to know what happens during such difficult times.Die abweichende Meinung zweifelt auch daran, dass die Polizei nicht erkennen hätte müssen, dass der Beschwerdeführer als Journalist tätig war - bei nur rund zwanzig verbliebenen Personen. In jedem Fall aber sei seine Identität als Journalist noch bekannt geworden, bevor er in den Polizeibus verfrachtet wurde: "There is a nagging question and it is this: Did the police really care whether the applicant was a journalist or not? The fact that he was prosecuted tends to suggest that they did not."
Die Mehrheitsmeinung habe die Bedeutung der Notwendigkeit, die Kundgebung aufzulösen, vermengt mit der vom nationalen Gericht angenommenen Notwendigkeit, einer Polizeianweisung zu folgen, egal welchen Inhalts sie sei und welchen Zweck sie habe, was zu einer Verurteilung des Journalisten geführt habe, bloß weil er den Mut hatte, seiner Aufgabe zur Förderung des öffentlichen Interesses nachzugehen. Nach Ansicht der Richter Nicolaou und De Gaetano haben die nationalen Gerichte auch keine echte Abwägung der Interessen vorgenommen ("more by way of declaration than by reasoning").
Schlussfolgerungen
Wichtigste Lehre aus dem Pentikäinen-Urteil ist wohl, dass Journalisten sich so früh als möglich und jedenfalls beim ersten "ernsten" Polizeikontakt als solche zu erkennen geben sollten. Auch wenn die Mehrheitsmeinung besonderen Wert darauf legt, dass sich der Journalist gewissermaßen freiwillig in Gefahr begeben hat, obwohl ihm auch ein sicherer Pressebereich zur Verfügung gestanden hätte, glaube ich nicht, dass man aus dem Urteil eine Einschränkung des Rechts herauslesen könte, als Journalist auch "in the very thick of things" dabei zu sein und zu berichten - der etwas unklare Sachverhalt erlaubt keine wirklich weitreichenden Schlüsse. Die Aussage aber, dass die Stellung als Journalist dem Beschwerdeführer kein größeres Recht gab, am Ort des Geschehens zu bleiben als den anderen Anwesenden (Abs. 47), scheint mir jedenfalls zu weitgehend und böte Anlass, die Verweisung der Sache an die Große Kammer zu beantragen.
Vergeich mit dem Platzverbot beim "Akademikerball" in Wien?
Das Urteil ist aus Wiener Sicht natürlich gerade vor dem Hintergrund des jüngst ausgesprochenen Platzverbots (nach § 36 SPG) anlässlich des sogenannten "Akademikerballs" von Interesse. Von diesem Platzverbot waren auch Journalisten nicht ausgenommen, ihnen wurde - Medienberichten zufolge - angeboten, nur in einem engen Zeitfenster (eine halbe Stunde, bei einem mehrstündgen Platzverbot) das Sperrgebiet zu betreten, und dies nur in Begleitung von Polizeiorganen.
Der vom EGMR entschiedene Fall ist damit nur sehr eingeschränkt vergleichbar, ging es bei diesem doch um die Auflösung einer bereits gewalttätig gewordenen Demonstration (nach österreichischer Rechtslage wäre das die Auflösung einer Versammlung nach § 13 VersammlungsG und die daran anküpfende Verpflichtung nach § 14 VersammlungsG, den Platz der Kundgebung sofort zu verlassen).
Beim "Akademikerball" war die Sperrzone hingegen eingerichtet worden, um zu verhindern, dass (gewaltbereite oder gewalttätige) Anti-Ball-Demonstranten den Ballgästen zu nahe kommen und es dadurch zu einer Gefährdung dieser Ballgäste bzw überhaupt der öffentlichen Sicherheit kommen könnte. Das durch das Platzverbot beeinträchtigte Berichterstattungsinteresse richtete sich aber - anders als im Sachverhalt des vom EGMR entschiedenen Falles - nicht (nur) auf die Demonstranten, sondern (auch) auf das durch das Platzverbot geschützte Ballereignis - von dem die Journalisten damit de facto (jedenfalls während des Großteils der Zeit) ausgeschlossen waren.
Dass von den Journalisten eine Gefahr für die Ballgäste ausgegangen wäre, ist nicht anzunehmen; einer solchen Gefahr hätte man wohl auch mit den üblichen Akkreditierungsmaßnahmen begegnen können. Schwer nachvollziehbar ist auch, dass Journalisten innerhalb der Platzverbotszone einer so großen Gefahr ausgesetzt gewesen wären, dass sie beim Betreten dieser Zone durch Polizisten geschützt werden müssten, zumal die Ballgäste offenbar nicht in den Genuss einer solchen zwingenden polizeilichen Begleitung gekommen sind (obwohl sie angesichts der Demonstrationen vielleicht mehr Grund zur Sorge hätten haben können). Das präventive Aussperren von Journalisten vom Ort eines Ereignisses, über das zu berichten im legitimen öffentlichen Interesse ist, schien mir daher in diesem Fall überzogen und im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig.
Update 24.03.2014: siehe nun auch den Beitrag von Dirk Voorhoof auf Strasbourg Observers.
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