In seinem heutigen Urteil im Fall Nagla gegen Lettland (Appl. no.73469/10; siehe auch die Pressemitteilung des EGMR) hat der EGMR wieder einmal betont, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung auch den adäquaten Schutz journalistischer Quellen umfasst.
Zum Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin vor dem EGMR, die lettische Fernsehjournalistin Ilze Nagla, hatte von einer anonymen Quelle ("Neo") Informationen über Sicherheitsmängel in einer Datenbank der nationalen Steuerverwaltung bekommen, wodurch es möglich war, unautorisiert auf elektronische Steuererklärungen Zugriff zu bekommen. Die Journalistin überprüfte die Informationen und informierte auch die Steuerverwaltung über die Sicherheitsmängel. Nach Angaben von "Neo" würden die Daten auch belegen, dass die höchstbezahlten Amtsträger von den strengen Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst verschont geblieben seien. Die Journalistin berichtete darüber in einer Sendung am 14. Februar 2010. Eine Woche später begann "Neo", einige Einkommensdaten auf Twitter zu veröffentlichen (bis zum 18. April 2010).
Die Journalistin wurde schon am 19. Februar 2010 als Zeugin in dem gegen "Neo" eingeleiteten Strafverfahren vernommen. Dabei berief sie sich auf das Recht, ihre Quelle nicht zu benennen, wie es auch im nationalen Medienrecht vorgesehen war. Knapp drei Monate später fand die Polizei heraus, zu wem eine IP-Adresse gehörte, von der aus die Daten aus de Steuer-Datenbank abgerufen wurde; diese Person, I.P.(!), hatte auch mehrfach mit der Journalistin telefoniert. I.P. wurde am 11. Mai 2010 gegen sieben Uhr abends festgenommen (Update 18.07.2013: es handelt sich um Ilmārs Poikāns, der laut diesem Zeitungsbericht auch selbst Beschwerde an den EGMR erhoben hat; für eine nähere Darstellung des Verfahrens gegen I.P. in Lettland siehe auch die 2011 verfasste "case analysis" von Martins Birks).
Ebenfalls am 11. Mai 2010, ab etwa 21:30 Uhr, erfolgte eine Durchsuchung der Wohnung der Journalistin auf Grundlage eines vom Staatsanwalt in einem Dringlichkeitsverfahren genehmigten Durchsuchungsbeschlusses. Bei der Durchsuchung wurden ein Laptop, eine externe Festplatte, eine Speicherkarte und vier Flash-Drives sichergestellt und später ausgewertet. Am 12. Mai 2010 bewilligte die Untersuchungsrichterin die Durchsuchung rückwirkend und ohne weitere Begründung. Nach einer Beschwerde der Journalistin wurde diese Entscheidung (letztinstanzlich) vom Gerichtspräsidenten bestätigt (und erstmals inhaltlich begründet).
Eine Überprüfung der Angelegenheit durch den Ombudsmann kam zum (rechtlich die Behörden nicht bindenden) Ergebnis, dass die Notwendigkeit der Durchsuchung nicht ausreichend geprüft und dass das Recht der Journalistin auf freie Meinungsäußerung verletzt worden sei.
Verfahren vor dem EGMR
Schutzbereich des Art 10 EMRK
Da die lettische Regierung eingewendet hatte, dass die Durchsuchung nicht mit dem Ziel durchgeführt worden sei, eine journalistische Quelle zu identifzieren, behandelt der EGMR zunächst recht ausführlich die Frage, ob die Durchsuchung überhaupt in den Anwendungsbereich des Art 10 EMRK fiel. Auch wenn die Quelle zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits bekannt war (I.P. wurde mehr als zwei Stunden vor der Durchsuchung festgenommen), so hätten mit den sichergestellten Datenträgern auch andere journalistische Quellen identifiziert werden können; der EGMR sieht schon aus diesem Grund den Schutzbereich des Art 10 EMRK eröffnet.
Eingriff, gesetzliche Grundlage und legitimes Ziel
Dass die Durchsuchung und Beschlagnahme in das Recht auf freie Meinungsäußerung eingegriffen hat, wurde nicht bestritten.
Die Beschwerdeführerin meinte zudem, dass - im Sinne des Urteils Sanoma Uitgevers (siehe im Blog dazu hier) - keine ausreichende gesetzliche Grundlage vorhanden gewesen sei. Dem konnte der EGMR nicht folgen: dem Grundatz nach gebe es in Lettland ausreichende prozedurale Gewährleistungen durch eine vorherige richterliche Überprüfung bei Durchsuchungsbeschlüssen im ordentlichen Verfahren und auch durch die vorgesehene sofortige richterliche post factum-Kontrolle im Dringlichkeitsverfahren (bei Durchsuchungsbeschlüssen im Dringlichkeitsverfahren muss die richterliche Überprüfung am folgenden Tag erfolgen; das Gericht kann den Durchsuchungsbeschluss widerrufen, die so erlangten Beweise als unzulässig erklären und auch die Bekanntgabe einer journalistischen Quelle unterbinden).
Der EGMR kam daher zum Ergebnis, dass der Eingriff auf einer ausreichende gesetzlichen Grundlage beruhte und auch ein legitimes Ziel (Verhinderung von Verbrechen und Schutz der Rechte Dritter) verfolgte.
Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft
Dass die Identität der Quelle zum Zeitpunkt der Durchsuchung bereits bekannt war, ist für den EGMR nicht von Bedeutung, da dies der Journalistin nicht den Schutz des Art 10 EMRK nimmt. Der EGMR betont dann, dass die Berichterstattung der Journalistin in zweifacher Weise zur öffentlichen Debatte beitrug: einerseits weil über die Gehälter im öffentlichen Sektor in Zeiten von Sparmaßnahmen berichtet wurde, andererseits wegen der Aufdeckung von Sicherheitsmängeln in der Steuer-Datenbank. Dass die Quelle allenfalls strafrechtlich verfolgt werden kann, ändert nichts am Quellenschutz (Hinweis auf das Urteil Tillack, Abs 65) und stellt lediglich einen Faktor in Abwägungsentscheidung dar (Hinweis auf das Urteil Financial Times ua, Abs 63).
Besonders gewichtet der EGMR den Umstand, dass die Durchsuchung nach dem Dringlichkeitsverfahren beantragt wurde, obwohl fast drei Monate seit dem Bericht in der Fernsehsendung vergangen waren und seitdem auch keine Kommunikation zwischen der Journalistin und ihrer Quelle stattgefunden hatte. Die Begründung für das Dringlichkeitsverfahren hatte sich darauf beschränkt, dass die Durchsuchung dringend sei, um die Vernichtung, Verbergung oder Beschädigung von Beweismitteln zu verhindern, wobei für den EGMR nicht klar wurde, auf welche Gründe diese Behauptung gestützt war.
Der EGMR hält fest, dass es zwar nicht durchführbar sein könnte, ausführliche Begründungen für dringende Durchsuchungen zu geben; unter solchen Umständen müsse die notwendige Abwägung der konfligierenden Interessen später ausgeführt werden, jedenfalls aber bevor das beschlagnahmte Material ausgewertet wird. Im vorliegenden Fall habe weder die Untersuchungsrichterin noch der Gerichtspräsident, der über die Beschwerde der Journalistin zu entscheiden hatte, eine nähere Begründung gegeben. Beide hätten sich darauf beschränkt auszusprechen, dass die Durchsuchung sich nicht auf die Quellen der Journalistin bezogen hätte, sodass sie keine Abwägung der widerstreitenden Interessen vornahmen. Wörtlich führt der EGMR dann aus (Hervorhebung hinzugefügt):
101. The Court considers that any search involving the seizure of data storage devices such as laptops, external hard drives, memory cards and flash drives belonging to a journalist raises a question of the journalist’s freedom of expression including source protection and that the access to the information contained therein must be protected by sufficient and adequate safeguards against abuse. In the present case, although the investigating judge’s involvement in an immediate post factum review was provided for in the law, the Court finds that the investigating judge failed to establish that the interests of the investigation in securing evidence were sufficient to override the public interest in the protection of the journalist’s freedom of expression, including source protection and protection against the handover of the research material. The scarce reasoning of the President of the court as to the perishable nature of evidence linked to cybercrimes in general, as the Ombudsman rightly concluded, cannot be considered sufficient in the present case, given the investigating authorities’ delay in carrying out the search and the lack of any indication of impending destruction of evidence. Nor was there any suggestion that the applicant was responsible for disseminating personal data or was implicated in the events other than in her capacity as a journalist; she remained “a witness” for the purposes of these criminal proceedings. If the case materials did include any indication in that regard, it was the investigating judge’s responsibility to carry out the necessary assessment of the conflicting interests, which was not done.
102. The foregoing considerations are sufficient to enable the Court to conclude that “relevant and sufficient” reasons for the interference complained of were not given. There has therefore been a violation of Article 10 of the Convention.
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