Tuesday, February 16, 2016

EGMR: Ärztekammer Wien und Dorner / Österreich - Begriff "Heuschrecke" als unethische Herabsetzung eines Wettbewerbers

Darf die Wiener Ärztekammer - als gesetzliche Standesvertretung - in einem Rundschreiben an ihre Mitglieder eine Kapitalgesellschaft, die Radiologiepraxen übernehmen möchte, als "Heuschrecken-Unternehmen" bezeichnen? Wenn die Behauptung nicht im Kern wahr ist, nicht - so entschieden die österreichischen Gerichte (letztinstanzlich: Beschluss des OGH vom 22.01.2008, 4 Ob 236/07w im EV-Verfahren, Beschluss vom 14.07.2009, 4 Ob 22/09b im Hauptsacheverfahren). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat darin in seinem heute ergangenen Urteil im Fall Ärztekammer für Wien und Dorner gegen Österreich (Appl. no. 8895/10) keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art 10 EMRK gesehen.

Zum Ausgangsfall
Der Präsident der Ärztekammer Wien hatte in einem Rundschreiben der Ärztekammer und auf deren Website die Tätigkeit von Kapitalgesellschaften im ambulanten Bereich kritisiert. Zwei namentlich genannte Unternehmen bezeichnete er (mittelbar) als "Heuschrecken-Unternehmen", deren Ziel die "Herrschaft über den ärztlichen Berufsstand" sei. Die Standesvertretung werde mit allen rechtlichen und politischen Mitteln gegen diese "desaströse Entwicklung" vorgehen. Denn dadurch würde die Qualität der Behandlung nicht mehr vom Arzt bestimmt, sondern von "Managern und Controllern".

Auf Antrag eines der namentlich genannten Unternehmen wurde der Ärztekammer und ihrem Präsidenten (unter anderem) die Behauptung untersagt, das Unternehmen sei ein "Heuschrecken-Unternehmen", eine Heuschrecke und/oder ein „Heuschrecken-Fonds".

Der OGH bestätigte die unterinstanzlichen Entscheidungen. Zwar würden die Beklagten an einer Debatte teilnehmen, die öffentliche Interessen betraf, allerdings sei auch ihre Absicht deutlich hervorgetreten, den Wettbewerb freiberuflich tätiger Ärzte gegenüber zwei auf den Markt drängenden Kapitalgesellschaften zu fördern.

Der Begriff "Heuschrecke" sei im gegebenen Zusammenhang als Tatsachenbehauptung zu verstehen; er bezeichne im jüngeren politisch-ökonomischen Sprachgebrauch nicht bloß expandierende Kapitalgesellschaften, an denen (auch) institutionelle Anleger beteiligt seien. Vielmehr würden die angesprochenen Kreise darunter Unternehmen verstehen, die nur den kurzfristigen, durch alsbaldige Weiterveräußerung zu realisierenden Profit anstreben und die Belange der Mitarbeiter, Geschäftspartner und Kunden diesem Interesse unterordnen ("abfressen und weiterziehen"). Wörtlich hieß es im OGH-Beschluss (im EV-Verfahren):
Wird - wie hier - ein bestimmtes Unternehmen, das bereits im umkämpften Geschäftsfeld tätig ist, als "Heuschrecke" bezeichnet, so enthält das den Vorwurf eines solchen Verhaltens. Daher muss diese Äußerung, um erlaubt zu sein, auch unter Berücksichtigung der Meinungsäußerungsfreiheit einen sachlich richtigen Kern haben. Diesen Beweis haben die Beklagten nicht erbracht. [...]
Zwar besteht zweifellos ein öffentliches Interesse an der Debatte über die Zukunft des Gesundheitswesens. Das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit schlösse es daher aus, eine entferntere, bloß mögliche Deutung der beanstandeten Formulierungen zur Ermittlung des für ihre rechtliche Beurteilung relevanten Tatsachenkerns heranzuziehen [...]. Hier geht es aber nicht um eine solche entferntere Deutung, sondern gerade um den Kern des von den Beklagten verwendeten Begriffs. Die damit konkludent aufgestellten Tatsachenbehauptungen, die das Unternehmen der Klägerin - nach zumindest vertretbarer Ansicht - herabsetzen und nicht erweislich wahr sind, können mit dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung nicht gerechtfertigt werden [...].
Eine gewisse Distanz zeigte der OGH im Beschluss, mit dem die außerordentliche Revision der Beklagten im Hauptsacheverfahren zurückgewiesen wurde:
Unter den besonderen Umständen des Einzelfalls ist die Entscheidung der Vorinstanzen trotz der Teilnahme der Beklagten an einer Debatte über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses nicht unvertretbar. Denn auch in solchen Debatten müssen es konkret genannte Unternehmen [...] nicht hinnehmen, dass über sie unwahre kreditschädigende Tatsachenbehauptungenaufgestellt werden. Die von den Beklagten beabsichtigte Warnung vor den Gefahren des Auftretens von Kapitalgesellschaften auf dem Markt für ärztliche Dienstleistungen wird durch das Verbot nicht unmöglich; die Beklagten haben es lediglich zu unterlassen, über konkrete Mitbewerber der von der Erstbeklagten vertretenen Ärzte unwahre Tatsachenbehauptungen aufzustellen

Das Verfahren vor dem EGMR
Sowohl die Ärztekammer Wien als auch deren Präsident - beiden waren die Behauptungen untersagt worden - erhoben Beschwerde an den EGMR.

- Ärztekammer ist keine nicht-staatliche Organisation
Die Beschwerde der Ärztekammer wurde vom EGMR ratione personae (aus in der Person gelegenen Gründen) als unzulässig erklärt: Der EGMR kann nach Art 34 EMRK "von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe" angerufen werden. Die Ärztekammer ist durch Gesetz und nicht durch Privatrechtsakt eingerichtet, es besteht Zwangsmitgliedschaft und die Beziehung zwischen Mitgliedern und den Verwaltungsorganen ist öffentlich-rechtlich ausgestaltet. Die Kammer nimmt auch hoheitliche Aufgaben wahr und untersteht dabei der staatlichen Aufsicht. Zudem wird sie durch Pflichtbeiträge aller Ärzte finanziert. Der EGMR sah auch die verfahrensgegenständliche Äußerung nicht als Ausübung der öffentlichen Aufgabe der Kammer an ("exercising the chambers public function"), sodass die Ärztekammer nicht als nichtstaatliche Organisation beurteilt wurde (der EGMR verweist dazu auf eine frühere Entscheidung der Menschenrechtskommisison zur Wirtschaftskammer und auf die abweichende Beurteilung für den ORF; siehe im Blog dazu hier).

Die Beschwerde des Präsidenten der Ärztekammer Wien ist hingegen zulässig, da er eine natürliche Person ist und ihm persönlich von den Gerichten bestimmte Behauptungen untersagt worden waren.

- Eingriff, vom Gesetz vorgesehen, legitimes Ziel
Unstrittig war, dass die Untersagung einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt, und dass der Eingriff ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer verfolgte. Bestritten wurde hingegen, dass der Eingriff im Sinne der Rechtsprechung des EGMR "vom Gesetz vorgesehen" war, da § 7 UWG (Herabsetzung eines Unternehmens), auf den sich die nationalen Gerichte stützten, nicht ausreichend klar sei. Der EGMR teilte diese Ansicht nicht; § 7 UWG sei ausreichend präzise, auch die Rechtsfolgen seien darin klar genannt.

- unentbehrlich in einer demokratischen Gesellschaft
Damit blieb zu beurteilen, ob der Eingriff im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK "in einer demokratischen Gesellschaft [...] unentbehrlich" war. Der EGMR verweist dabei zunächst auf die Kriterien zur Abwägung der widerstreitenden Interessen nach Art 8 und Art 10 EMRK, die er in Von Hannover (Nr 2) (im Blog dazu hier) und zuletzt etwa in Couderc entwickelt hat. Weiters weist er darauf hin, dass die Grenzen zulässiger Kritik bei "large public companies" zwar weiter seien, dem öffentlichen Interesse an einer offenen Debatte über Geschäftspraktiken allerdings auch das damit in Widerstreit stehende Interesse am Schutz des wirtschaftlichen Erfolges und der Lebensfähigkeit von Unternehmen gegenüberstehe. Die Konventionsstaaten hätten daher einen Beurteilungsspielraum. der allerdings wieder eingeschränkt sei, wenn es nicht nur um ein rein "wirtschaftliches" Statement gehe, sondern um die Teilnahme an einer Debatte von allgemeinem Interesse, wie zum Beispiel im Bereich des Gesundheitswesens.

Im konkreten Fall hält der EGMR fest, dass die nationalen Gerichte die Aussagen in ihrer Gesamtheit beurteilt haben und zum Ergebnis gekommen sind, dass sie in einem klar wirtschaftlichen Kontext gefallen seien, in dem Arztpraxen mit Kapitalgesellschaften, die dieselben Dienste anbieten, in Wettbewerb stehen. Die nationalen Gerichte hatten auch berücksichtigt, dass in einer Debatte von öffentlichem Interesse der Freiheit der Meinungsäußerung höheres Gewicht zukomme, dass aber der Begriff "Heuschrecke" praktisch ausschließlich negativ besetzt sei und zu einer unethischen allgemeinen Herabsetzung ("unethical general vilification") des Wettbewerbers geführt habe. Der Begriff hätte beim Leser den Eindruck erweckt, dass die betroffene Kapitalgesellschaft bereits ein unethisches Verhalten gesetzt habe, das die Interessen von Ärzten und Patienten geschädigt habe. Dies habe die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens schädigen können und sei auch nicht als wahr nachgewiesen worden.

Für den EGMR ist daher auch keine abschließende Klärung erforderlich, ob die Aussage (wie von den österreichischen Gerichten gesehen) eine Tatsachenbehauptung war oder doch eher ein Werturteil, da auch im Fall eines Werturteils eine ausreichende Tatsachengrundlage erforderlich wäre. Die Untersagung der Behauptungen gegenüber dem Präsidenten der Wiener Ärztekammer sei daher auf relevante und ausreichende Gründe gestützt. Auch Art und Schwere der Sanktion (Untersagung, Veröffentlichung) sei moderat geblieben, Der Eingriff sei daher im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, sodass keine Verletzung des Art 10 EMRK festzustellen war.

Anmerkungen

- Zur Beschwerdelegitimation
Zunächst wirkt die Sache insofern etwas merkwürdig, als die Ärztekammer selbst vor dem EGMR nicht beschwerdeberechtigt ist, der Präsident der Ärztekammer - der die Aussagen wohl ausschließlich in seiner Funktion getätigt hat und nicht als Privatperson oder als selbständiger Arzt unabhängig von seiner Kammerfunktion - hingegen schon. Das ist aber die Konsequenz der in Art 34 EMRK vorgesehenen Einschränkung des Beschwerderechts, die staatlichen Organisationen das Beschwerderecht versagt, dieses Recht allerdings natürlichen Personen unbeschränkt einräumt, auch wenn es um ihre Rolle als Funktionäre einer staatlichen Organisation geht. Voraussetzung ist natürlich immer, dass man als natürliche Person Opfer des Eingriffs wurde - was hier aber klar auf der Hand lag, da vor den nationalen Gerichten ausdrücklich auch der Präsident der Ärztekammer Beklagter war und zur Unterlassung verurteilt wurde (eine Konsequenz der weiten Passivlegitimation nach dem UWG).

- "margin call"
Der wohl wesentlichste Begriff im Urteil des EGMR ist "margin of appreciation", der gleich fünfmal im entscheidenden Teil des Urteils strapaziert wird. Wenn der EGMR so laut und deutlich auf den Beurteilungsspielraum hinweist, dann mag das auch ein Zeichen dafür sein, dass er selbst in seiner Beurteilung vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommen könnte - aber eben den nationalen Spielraum akzeptiert. Hier verweist der EGMR - nach eher allgemeinen Ausführungen zum "margin" in Abs 63 - zunächst auf den Spielraum, den die Mitgliedstaaten dabei haben, inwieweit sie Unternehmen Rechte einräumen, gegen Vorwürfe vorzugehen, die ihren Ruf schädigen könnten:
the State enjoys a margin of appreciation as to the means it provides under domestic law by which a company can challenge the truth and limit the damage of allegations which risk harming its reputation
Dieser Beurteilungsspielraum ist noch größer, wenn es um Angelegenheiten des unlauteren Wettbewerbs geht:
Furthermore, the Court emphasises that a wider margin of appreciation entrusted to the States is essential in the complex and fluctuating area of unfair competition
Er wird aber wieder kleiner, wenn es nicht nur um eine wirtschaftliche Auseinandersetzung geht, sondern um eine Debatte von allgemeinem Interesse:
it is necessary to reduce the extent of the margin of appreciation when what is at stake is not an individual’s purely "commercial" statement, but his participation in a debate of general interest,
Und dann besteht noch ein Beurteilungsspielraum, ob eine Aussage als Tatsache oder Werturteil qualifiziert wird:
The classification of a statement as one of fact or as a value judgment is a matter which, in the first place, falls within the margin of appreciation of the national authorities – in particular, the courts
Österreich hat den Beurteilungsspielraum genützt: auch der Ruf von Unternehmen ist gesetzlich geschützt, besonders umfangreich im Bereich des UWG (wo eben der Spielraum der Konventionsstaaten noch größer ist). Und die Gerichte haben dem EGMR keinen Ansatzpunkt geboten, korrigierend einzugreifen, weil sie - was im Urteil deutlich zum Ausdruck kommt - die notwendigen Abwägungen nachvollziehbar vorgenommen haben; insbesondere haben sich die Gerichte das Art 10 EMRK-Problem gestellt und ausargumentiert, weshalb sie trotz Debatte von öffentlichem Interesse - was den Beurteilungsspielraum wieder einschränkt - zum Ergebnis gekommen sind, dass die Behauptungen zu unterlassen sind. Ich hätte "Heuschrecke" ja eher als Werturteil gesehen, aber hier hilft nicht nur der Beurteilungsspielraum, sondern auch die Rechtsprechung, die für Werturteile eine Tatsachengrundlage verlangt, die - von den Gerichten festgestellt - nicht gegeben war.

- ein Grenzfall, der die Bedeutung des "margin of appreciation" anschaulich macht
Zusammenfassend: es war sicher ein Grenzfall, in dem sich aber zeigt, dass der EGMR nicht immer, wie ihm oft vorgeworfen wird, als "weiteres Instanzgericht" tätig wird, sondern den Mitgliedstaaten echte Beurteilungsspielräume einräumt.

Es ist wohl zulässig, in einem kleinen Gedankenexperiment zu überlegen, wie die Sache ausgegangen wäre, wären die österreichischen Gerichte zu einem anderen Ergebnis gekommen (dass sich eine Kapitalgesellschaft, die in den Gesundheitsmarkt einsteigen will, eine Bezeichnung als Heuschrecke gefallen lassen müsse), und hätte sich das Unternehmen dann unter Berufung auf Art 8 EMRK an den EGMR gewandt. In diesem Fall müsste die Beurteilung ja grundsätzlich zum selben Ergebnis kommen, wie der EGMR in ständiger Rechtsprechung betont, auch im heutigen Urteil in Abs 62:
The Court has reiterated many times, that in cases which require the right to respect for private life to be balanced against the right to freedom of expression, the outcome of the application should not, in theory, vary according to whether it has been lodged with the Court under Article 8 of the Convention by the person who was the subject of the statement, or under Article 10 by the person who made the statement.
Dennoch ist gut vorstellbar, dass hier auch das gegenteilige Ergebnis vor dem EGMR hätte bestehen können: "Heuschrecke" wäre auch als Werturteil zu argumentieren gewesen, mit einem Faktenkern, der bloß auf Kapitalgesellschaften abstellt, an denen (wie hier) institutionelle Anleger beteiligt sind, die in neue Geschäftsfelder drängen. Hätten die nationalen Gericht dies ausargumentiert und zusätzlich noch die Bedeutung der Debatte über das Gesundheitssystem unterstrichen und dies wiederum unter Heranziehung der EGMR-Rechtsprechung abgewogen, so wäre durchaus denkbar, dass der EGMR dies als im Beurteilungsspielraum gelegen akzeptiert hätte, ohne eine Verletzung des Art 8 EMRK festzustellen.

Update 23.02.2016: siehe zu diesem Urteil auch den Beitrag von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.

No comments :