Die Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien bleiben aufrecht - nachdem schon 2022 die Klage eines sanktionierten Unternehmens abgewiesen wurde, scheiterten nun auch drei niederländische Internet Service Provider, die vor dem EuG (unter anderem) geltend machten, dass durch die Sanktionen ihr Grundrecht auf Verbreitung von Informationen verletzt worden wäre. Das EuG hat diese Argumentation verworfen, ob die ISPs nun Rechtsmittel an den EuGH ergreifen, ist noch unklar.
Die Vorgeschichte
Der Rat der Europäischen Union hat mit Beschluss (GASP) 2022/351 und Verordnung (EU) 2022/350, jeweils vom 1. März 2022, die im Jahr 2014 nach der Annexion der Krim verhängten Sanktionen gegen Russland erstmals auch auf Medieninhalte ausgeweitet. Auch davor waren schon einzelne Medienunternehmen und Medienpersönlichkeiten von typischen Sanktionen wie Reisebeschränkungen oder Einfrieren von Geldern betroffen. Neu an der Verordnung vom 1. März 2022 war aber, dass Wirtschaftsakteuren ("Betreibern") innerhalb der Union verboten wurde, Medieninhalte bestimmter staatsnaher russischer Medien zu verbreiten, und dass sämtliche Rundfunklizenzen sowie (private) Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen "ausgesetzt" wurden (siehe im Blog dazu vor allem hier).
Von Anfang an wurde heftig diskutiert (siehe zB hier oder hier), ob damit die Medienfreiheit (Art. 11 GRC: Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit) unzulässig eingeschränkt wurde, insbesondere weil nicht auf einzelne problematische Sendungen oder Inhalte, sondern pauschal auf den Absender (zunächst RT und Sputnik, mittlerweile zahlreiche weitere, siehe hier) abgestellt wurde, und weil unter "Betreibern" auch Internet Service Betreiber zu verstehen waren, die den Zugang zu Websites mit diesen Inhalten bloß ermöglichten .
Die Sanktionierung wurde gerichtlich zunächst von RT France bekämpft; diese Klage wurde vom EuG im beschleunigten Verfahren behandelt und mit einem in Großer Kammer ergangenen Urteil vom 27. Juli 2022, T-125/22, abgewiesen (siehe dazu hier); das zunächst dagegen erhobene Rechtsmittel wurde nach der Insolvenz von RT France wieder zurückgenommen, zu einer Entscheidung des EuGH ist es daher nicht gekommen.
Gegen die Sanktionen war aber nicht nur RT France als direkt betroffenes Medienunternehmen gerichtlich vorgegangen. Auch drei niederländische Internet Service Provider, unterstützt auch von einer niederländischen Journalistenorganisation, erhoben Nichtigkeitsklage beim EuG.
Das Urteil des EuG
Nun - nach rund dreijähriger Verfahrensdauer - hat das EuG mit Urteil vom 26. März 2025, T-307/22, A2B Connect u.a. / Rat, auch über diese Klage entschieden. Berichter (Rapporteur) war - wie bereits in der Rechtssache RT France - wieder Roberto Mastroianni.
GASP-Beschlüsse
Das EuG verwirft die Klage zunächst insoweit, als sie sich gegen den Beschluss (GASP) 2022/351 (und einen Folgebeschluss) richtet. Dieser Beschlüsse stellten zwar restriktive Maßnahmen gegen die darin individualisierten Unternehmen dar, nicht aber gegenüber den darin nicht genannten ISPs - das Gericht habe daher keine Jurisdiktion, um über die Rechtmäßigkeit dieser Beschlüsse im vorliegenden Verfahren zu entscheiden (Rn. 32).
Verordnungen: Zuständigkeit und Zulässigkeit
Die bekämpften Verordnungen (2022/350 und 2022/879) hingegen wurden auf Grundlage des Art. 215 Abs. 2 AEUV erlassen und unterliegen der vollen Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Unionsgerichte (Rn. 33).
Da sich die Klage als unbegründet erweist, geht das EuG auf die - vom Rat (mit meines Erachtens teilweise guten Gründen) bestrittene - Zulässigkeit gar nicht ein, sondern lässt diese offen und behandelt die Sache gleich in merito.
Kompetenz des Rates zur Erlassung der Verordnungen
Um die in der Klage bestrittene Kompetenz des Rates zur Erlassung der Verordnungen zu prüfen, muss das EuG zunächst doch auf die Kompetenz des Rates zur Erlassung der Beschlüsse im Rahmen der GASP eingehen, die sich auf Art. 29 EUV (Bestimmung des Standpunkts der Union zu bestimmten Fragen) stützen. Nur wenn die Beschlüsse rechtmäßig zustande gekommen sind, können auch die Verordnungen rechtmäßig sein, da die restriktiven Maßnahmen nach Art. 215 Abs. 2 AEUV nur verhängt werden können, wenn dies ein im Rahmen der GASP [rechtmäßig] erlassener Beschluss vorsieht. Diese Kompetenzfrage wird - im Wesentlichen entlang der schon im Urteil RT France vorgezeichneten Argumentation - bejaht. Dabei wird wieder auf die gerade auch von Medienrechtlern gerne vorgebrachten Argumente eingegangen, wonach die Regulierung von Medieninhalten Sache der Mitgliedstaaten sei (siehe etwa hier), die das EuG wenig überraschend nicht beeindrucken: nicht nur dass aus nationalen Zuständigkeiten natürlich in keiner Weise Beschränkungen der Unionszuständigkeiten abgeleitet werden können, die nationalen Maßnahmen verfolgen auch ganz andere Zwecke (Rn. 56f). Auch dass andere Unionszuständigkeiten für die Regulierung von Medien bestehen, ändert an den Kompetenzen im Rahmen der GASP - und daran anknüpfend für die Erlassung restriktiver Maßnahmen nach dem AEUV - nichts: diese schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind komplementär, mit jeweils eigenem Anwendungsbereich und unterschiedlichen Zielrichtungen (Rn. 60). Dass schließlich die Erlassung von Sanktionen auf Unionsebene besser geeignet ist, das Ziel einer einheitlichen Anwendung dieser Sanktionen zu erreichen als ein Handeln auf Ebene der Mitgliedstaaten, ist für das EuG auch klar (Rn. 62).
Recht auf eine gute Verwaltung
Die Kläger machten auch eine Verletzung des in Art. 41 GRC garantierten Rechts auf eine gute Verwaltung geltend - ein typischerweise eher schwaches Argument, das auch hier vom EuG routiniert abgehandelt wird: eigentlich geht es den klagenden ISPs nur um das Recht auf eine Begründung der getroffenen Entscheidung, und da ist zu bedenken, dass es sich hier nicht um einen Rechtsakt handelt, der individuell an die ISPs gerichtet ist. Vor diesem Hintergrund sieht das EuG die Verordnungen wenig überraschend als ausreichend begründet an (Rn 81).
Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
Die spannendste Frage handelt das EuG am Schluss ab: den Eingriff in die nach Art. 11 GRC geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit.
Das EuG betont zunächst, dass die Grundrechte bei allen Handlungen der Union zu beachten sind, einschließlich bei Rechtsakten, durch die Beschlüsse im Rahmen der GASP umgesetzt werden (Rn. 101). Die in Art. 11 GRC - der unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK auszulegen ist (Rn. 106) - garantierten Rechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen , sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (Rn. 104).
Die ISPs machen eine Verletzung sowohl in ihrem Recht auf Verbreitung von Informationen geltend als auch im Recht ihrer Nutzer auf Erhalt von Informationen. Das EuG zieht zunächst in Zweifel, ob die ISPs überhaupt Grundrechtsträger sein können, die eine Verletzung in ihrem Recht auf Verbreitung von Nachrichten geltend machen können, zumal sie sich darauf stützen, dass die eine neutrale Rolle in der Verbreitung von Inhalten einnehmen. Diese Frage lässt das EuG ausdrücklich offen, da die Klage auch erfolglos bleibt, wenn man die Grundrechtsträgereigenschaft annimmt (Rn. 110).
Even assuming that internet service providers, such as the applicants, which after all describe themselves as operators providing internet access to individuals or businesses (see paragraph 3 above), may be regarded as holders of an autonomous right to freedom to impart information, despite relying on their neutral role in the broadcasting of content, the applicants’ arguments cannot succeed.
Danach prüft das EuG (unter der Annahme, dass ein Eingriff in das Grundrecht vorliegt), ob die Eingriffsschranken iSd Art. 52 GRC gewahrt sind:
"gesetzlich vorgesehen"
Der Eingriff hatte laut EuG eine rechtliche Grundlage in den Verträgen (Art. 29 EUV, Art. 215 AEUV; Rn. 112) und für die ISPs sei vorhersehbar gewesen, dass sie von solchen Sanktionen betroffen sein könnten (Rn. 114), sodass das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage gegeben ist (Rn. 115). Bei erster Lektüre lässt mich dieser Begründungsteil ein wenig ratlos zurück, da meines Erachtens die Frage, ob der Eingriff "gesetzlich vorgesehen" war, auch direkt auf die bekämpften Verordnungen abgestellt werden könnte und das vom EGMR entwickelte Kriterium der Vorhersehbarkeit sich eher auf die Frage beziehen würde, ob für die ISPs klar war, ob sie bzw. mit welchen Handlungen sie dem Eingriff unterliegen. Aber auch diese Betrachtungsweise würde wohl keinen Unterschied im Ergebnis machen.
"den Wesensgehalt achtend"
zur zweiten Voraussetzung, dass der Eingriff den Wesensgehalt des Rechts achten muss, verweist das EuG einerseits recht knapp darauf, dass nur wenige "media outlets" betroffen sind (Rn. 116; mittlerweile ist die Liste auf immerhin 32 angewachsen, aber auch das ist wohl noch eine vergleichsweise geringe Zahl, wenn man sie in Relation zu allen [online] "media outlets" setzt). Andererseits betont das EuG auch, dass die Einschränkungen nur zeitlich beschränkt und reversibel sind (Rn. 117f). Schließlich ist der Umstand, dass das Filtern der betroffenen Inhalte für die ISPs viel Arbeit und hohe Kosten verursacht, im Zusammenhang mit der Beurteilung, ob der Wesensgehalt des Grundrechts verletzt wird, irrelevant ist. Dieses Argument wäre eher im Zusammenhang mit Art. 16 GRC (Unternehmerische Freiheit) relevant, darauf haben sich die ISPs aber nicht gestützt (Rn. 119) - für mich völlig unverständlich, weil das gerade in der Leitentscheidung zu Netzsperren (EuGH 27.3.2014, C‑314/12, UPC Telekabel Wien) ein wesentliches Thema war.
"dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen"
Die Maßnahmen dienen (u.a.) dem Schutz der Werte der Union und ihrer Sicherheit, waren Teil der Verfolgung dieser Zielsetzungen, konsistent mit diesen und zielten darauf ab, den Kriegszustand und die Verletzungen des Humanitären Völkerrechts zu beenden, was ebenfalls ein Ziel von grundlegendem allgemeinem Interesse ist (Rn. 122).
Verhältnismäßigkeit
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit stellt sich die Frage etwas anders als im Fall RT France, da hier die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die ISPs zu prüfen is (Rn. 126). Die Maßnahmen entsprachen der Zielsetzung, maximalen Druck auf die russischen Machthaber auszuüben. Es war auch angemessen für den Rat, ISPs in gleicher Weise wie andere Weiterverbreiter von Inhalten in Betracht zu ziehen (Rn. 129). Dass die sanktionierten Inhalte in in der Union noch zugänglich sind, schadet nicht: Mögliche Schwierigkeiten in der Anwendung der bekämpften Verordnungen können nicht dazu führen, dass die Maßnahmen den anerkannten Zielsetzungen nicht tatsächlich entsprechen würden (Rn. 130):
The fact, claimed by the applicants, that the restrictive measures at issue are not suited to their purpose, because the website of the Russia Today newspaper can still be accessed everywhere in the European Union, cannot call into question the appropriateness of the broadcasting prohibition at issue. Possible difficulties in applying the contested regulations cannot render those measures inappropriate.
(Zur tatsächlichen Erreichbarkeit sanktionierter Inhalte - in Frankreich und Belgien - siehe übrigens einen aktuellen Befund hier)
Das EuG bejaht auch die Notwendigkeit der Maßnahmen im Hinblick auf die ISPs ("intrinsically necessary", Rn. 132); eine Beschränkung auf Rundfunk und On Demand-Abrufdienste wäre nicht ausreichend gewesen (Rn. 133).
Zur eigentlichen Abwägungsentscheidung betreffend die Verhältnismäßigkeit verweist das EuG auf die Bedeutung des größeren Ziels, Frieden und internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten, die auch beträchtliche negative Konsequenzen für Unternehmen, die für diese Situation keinerlei Verantwortung tragen, aufwiegt. Die ISPs sind nur hinsichtlich der Verbreitung der Inhalte relativ weniger Unternehmen beschränkt und können ansonsten Zugang zu allen anderen Inhalten herstellen - es liegt daher kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Freiheit, Informationen zu verbreiten, vor (Rn. 134)..
Zur Verletzung des Rechts der Internet-Nutzer auf Zugang zu Informationen
Die ISPs haben auch auf das Recht ihrer Kunden (Nutzer) hingewiesen, Zugang zu Informationen zu erhalten. Das EuG legt sich hier zunächst gar nicht fest, ob ein solches Recht der Nutzer überhaupt besteht ("Even assuming that those users ... were able to invoke an infringement of a right to freedom of expression and information ..."); selbst wenn es besteht (was meines Erachtens nicht zweifelhaft ist) könne es nämlich von den ISPs nicht geltend gemacht werden. Die ISPs hätten auch nicht dargelegt, aus welchem Grund sie berechtigt wären, sich auf dieses Recht gewissermaßen in Vertretung ihrer Kunden zu stützen (Rn. 138f).
In diesem Punkt überrascht mich, dass offenbar die ISPs kein substantiiertes Vorbringen erstattet haben, denn aus dem schon zitierten UPC Telekabel Wien-Urteil könnte man doch Hinweise entnehmen, dass ISPs auch Verantwortung für die Grundrechte ihrer Nutzer tragen, zumal es dort ( Rn. 55) heißt, dass ein ISP (dort als Adressat einer Anordnung zu einer Netzsperre) "auch für die Beachtung des Grundrechts der Internetnutzer auf Informationsfreiheit Sorge tragen" muss (dort ging es um die Wahl der Mittel, einer Sperrverfügung nachzukommen, aber es handelt sich doch um eine sehr ähnliche Situation, in der ein ISP nicht aus eigenem Willen, sondern aufgrund behördlicher oder gerichtlicher Entscheidung für seine Kunden den Zugang zu zuvor frei zugänglichen Inhalten unterbinden muss).
Wie geht es weiter?
Gegen das Urteil des EuG können die ISPs Rechtsmittel an den EuGH erheben. Ob sie das tun werden, ist noch nicht klar, die erste Reaktion der niederländischen Journalistenvereinigung, die eine treibende Kraft hinter der Klage war, klingt eher zurückhaltend.
Bis zu einem allfälligen EuGH-Urteil ist aber klargestellt, dass die Sanktionen gegen russische staatsnahe Medien Bestand haben und auch von Internet Service Betreibern einzuhalten sind.