Thursday, May 10, 2012

EGMR: positive Verpflichtung zum Schutz journalistischer Berufsausübung nach Art 10 EMRK - Vollstreckung einer Gerichtsentscheidung

In seinem heute verkündeten Urteil im Fall Frasila und Ciocirlan gegen Rumänien (Appl. no. 25329/03; Pressemitteilung) hat der EGMR entschieden, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK auch dadurch verletzt werden kann, dass staatliche Behörden Gerichtsentscheidungen, die zugunsten von Journalisten ergangen sind, nicht wirksam durchsetzen und damit die journalistische Berufsausübung hindern.

Der dem Urteil zugrundeliegende Sachverhalt zeigt ein bemerkenswertes Sittenbild von Medien, Wirtschaft und Politik im Rumänien des beginnenden 21. Jahrhunderts, vor allem im Jahr 2002. Wie in den vom EGMR zitierten Berichten von NGOs und der Europäischen Kommission auch aufgezeigt wurde, war es damals offenbar nicht ungewöhnlich, dass "lokale Barone" auf kritische Berichte über ihre wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten mit Druck auf die Medieninhaber reagierten. Erleichtert wurde die Druckausübung dadurch, dass viele Medien hohe Abgabenschulden hatten und auf den guten Willen der rumänischen Behörden angewiesen waren.

Der Erstbeschwerdeführer hatte eine privates Rundfunkunternehmen (mit zwei Gesellschaften) aufgebaut und kritisch über einen "lokalen Baron" berichtet. Dieser drohte ihm an, für den Konkurs der Gesellschaften zu sorgen, und tatsächlich kam es wenig später zu einer unangekündigten Kontrolle der Finanzbehörde (deren Chef übrigens damals Partner des "Barons" in mehreren kommerziellen Gesellschaften war). Schließlich verkaufte der Beschwerdeführer - warum wohl? - eine der Gesellschaften ("Tele M.") an den "Baron" und an ein Unternehmen der Ehefrau des Sohns des Chefs der Finanzbehörde. Für den Fortbetrieb des Radiosenders wurde jedoch ein Vertrag zwischen den beiden Gesellschaften geschlossen, nach dem offenbar "Radio M. Plus" (die noch dem Erstbeschwerdeführer gehörte; die Zweitbeschwerdeführerin war Programmdirektorin) die wesentliche Programmleistung erbringen sollte. In der Folge kam es aber zu "Missverständnissen" zwischen den Gesellschaften, und den BeschwerdeführerInnen wurde von Vertretern der Tele M. der Zugang zu den Redaktionsräumen verwehrt.

Die BeschwerdeführerInnen erreichten eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, wonach ihnen Zutritt zu den Räumlichkeiten zu gewähren war. Die Vollstreckung dieser Entscheidung scheiterte aber trotz dreier Versuche; der Gerichtsvollzieher unternahm keine weiteren Anstrengungen, die Entscheidung durchzusetzen, insbesondere forderte er auch keine Untersützung durch die Polizei an.

Der Gerichtshof hielt fest, dass Rumänien keine direkte Verantwortung für das Handeln der Tele M trage, da es sich dabei um eine private Gesellschaft handelt. Der Beschwerdefall betrifft auch nicht die Unmöglichkeit der Verbreitung von Information und Ideen, sondern die Art der Ausübung eines Berufs, dem nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine wesentliche Funktion in einer demokratischen Gesellschaft - die des Wachhunds - zukommt. Auch die Art der Berufsausübung ist aber nach Art 10 EMRK geschützt.

Dass die BeschwerdeführerInnen trotz Verweigerung des Zugangs zu den Radio-Redaktionsräumen journalistisch - durch Veröffentlichung von Artikeln in Printmedien - tätig sein konnten, half der Regierung nichts: es liegt weder am Gerichtshof noch an den nationalen Behörden, die journalistische Entscheidung für eine bestimmte Technik zu substitutieren; zudem können audiovisuele Medien oft einen viel unmittelbareren und stärkeren Eindruck machen als die Presse.

Der EGMR hält fest, dass die Rolle des Staates als höchter Garant der Vielfalt, vor allem bei audiovisuellen Medien, noch "unverzichtbarer" ("plus indispensable" - ist das nicht eine unzulässige Steigerung?) wird, wenn die Unabhängigkeit der Presse von außen von politisch und wirtschaftlich Mächtigen unter Druck gesetzt wird. Die konkrete Situation in Rumänien war daher besonders zu berücksichtigen:
64. En outre, la Cour rappelle que l’État est l’ultime garant du pluralisme, surtout pour ce qui est des médias audiovisuels dont les programmes se diffusent souvent à très grande échelle (Informationsverein Lentia et autres c. Autriche, 24 novembre 1993, § 38, série A no 276). Ce rôle devient d’autant plus indispensable lorsque l’indépendance de la presse souffre de pressions extérieures exercées par des politiciens et des détenteurs du pouvoir économique. En conséquence, il faut donc attacher une importance particulière au contexte de la liberté de la presse en Roumanie à l’époque des faits. Or, d’après les rapports établis par plusieurs organisations nationales et internationales, la situation de la presse en Roumanie pendant la période 2002-2004 n’apparaît pas comme ayant été satisfaisante [...]. Ces rapports soulignent, entre autres, que la presse locale se trouvait directement ou indirectement, sous le contrôle des responsables politiques ou économiques de la région. La Cour ne saurait ignorer que, dans la présente affaire, le requérant affirme avoir subi des pressions politiques et économiques qui ont abouti à la vente d’une partie de sa participation dans une société de télévision [...]. Dans ces conditions, les mesures que l’État devait prendre, vu son rôle de garant du pluralisme et de l’indépendance de la presse, sont d’une réelle importance.
Die nationalen Behörden hätten daher effektive Maßnahmen setzen müssen, um die BeschwerdeführerInnen bei der Durchsetzung der zu ihren Gunsten ergangenen Entscheidung zu unterstützen. Das "juristische Arsenal", das den BeschwerdeführerInnen zur Verfügung stand, hat sich allerdings als inadäquat und nicht effektiv erwiesen. Indem die nationalen Behörden die notwendigen effektiven Maßnahmen zur Unterstützung der BeschwerdeführerInenn bei der Vollstreckung der Gercihsentscheidung unterlassen haben, haben sie die Garantien des Art 10 EMRK jeder nützlichen Wirkung (effet utile) beraubt und die Ausübung des journalistischen Berufs in Frage gestellt: 
Or, l’essentiel de l’arsenal juridique mis à la disposition des requérants pour faire exécuter la décision qui leur était favorable, à savoir le système des huissiers de justice, s’est montré inadéquat et inefficace. De plus, en s’abstenant de prendre des mesures efficaces et nécessaires pour assister les requérants dans l’exécution de la décision judiciaire définitive et exécutoire précitée, les autorités nationales ont privé les dispositions de l’article 10 de la Convention de tout effet utile et ont remis en cause l’exercice de la profession de journaliste de radio par les requérants.
PS: juristisch interessant an diesem Fall ist auch noch die Frage der - von Rumänien betrittenen, vom Gerichtshof aber akzeptierten - Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel, die ich hier aber nicht vertiefen möchte.
Schließlich wäre auch noch die Rolle der nationalen Rundfunkbehörde untersuchenswert, die (im Jahr 2008) ausgesprochen hat, dass Radio M Plus 2002 bis 2004 keinen Sendebetrieb ausgeübt hat. Ob eine aufrechte Lizenz bestanden hat oder nicht war aber nicht Gegenstand des EGMR-Verfahrens.

Update 25.09.2012: der EGMR hat nun auch eine kurze Zusammenfassung des Urteils veröffentlicht

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