Monday, August 09, 2021

Eine Frage der Ehre: die Funktion als Mitglied des ORF-Stiftungsrats

Morgen entscheidet der ORF-Stiftungsrat über den nächsten ORF-Generaldirektor bzw. die nächste ORF-Generaldirektorin. Im Vorfeld gibt es die üblichen Diskussionen, auch unter Beteiligung diverser Verfassungsrecht- und Schadenersatz oder umgekehrt-Experten, und ich habe mich aus guten Gründen da eher zurückgehalten (abgesehen von einigen schlichten Hinweises auf Dinge, die ich in diesem Blog vor 15 oder 10 Jahren schon geschrieben habe - ich werde alt, und die meisten Debatten sind in der Sache nicht wirklich neu). 

Ich lasse die wichtigen Fragen hier aus und stürze mich auf eine Marginalie: § 19 Abs. 3 ORF-Gesetz. Diese Bestimmung lautet: 

"Die Funktion als Mitglied des Stiftungsrates und des Publikumsrates ist ein Ehrenamt. Die Mitglieder haben Anspruch auf angemessenen Ersatz der angefallenen Kosten."

Das heißt: anders als Aufsichtsratsmitglieder in vergleichbaren Unternehmen bekommen Mitglieder des Stiftungsrats für ihre Tätigkeit kein Entgelt. Für die - zuletzt etwa hier - kolportierten 50 € Pauschale pro Monat und 100 € Sitzungsgeld gibt es übrigens keine gesetzliche Grundlage, lediglich die "angefallenen Kosten" dürfen - und müssen - den Stiftungsratsmitgliedern ersetzt werden (im jüngsten Jahresabschluss weist der ORF "Bezüge" von insgesamt 55.300 € an die Mitglieder des Stiftungsrates aus; Peanuts, ich weiß, aber - soweit es sich nicht um den Ersatz tatsächlich angefallener Kosten handelt - ohne gesetzliche Grundlage). 

Ich halte die Ehrenamtlichkeit der Funktion eines Mitglieds des ORF-Stiftungsrates für ein strukturelles Problem. 

Nun bin ich zwar kein Anhänger des „if you pay peanuts, you get monkeys“, nicht nur weil es affenfeindlich ist, sondern weil es auch empirisch nicht stimmt: einerseits wird viel großartige Arbeit ehrenamtlich oder gering bezahlt geleistet, und andererseits kommt mir vor, dass manchmal Jobs, für die es wesentlich mehr als peanuts gibt, gerade von jenen erreicht werden, die man nach der erwähnten Redewendung eher dort vermuten würde, wo peanuts gezahlt werden (wobei es hilft, wenn man zB die Ausschreibung selbst formulieren und die Leute, die einen auswählen sollen, selbst auswählen kann).

Aber sind im ORF-Stiftungsrat (überwiegend) Personen, denen man abnimmt, diese Funktion aus reinem zivilgesellschaftlichem Engagement ehrenamtlich und - wie von der Verfassung gefordert - in voller Unabhängigkeit, damit auch frei von fremden Interessen, auszuüben? Das mag in einzelnen Fällen so sein, aber ich habe Zweifel, ob dies durchgängig der Fall ist.  

Füllt man die Funktion eines Stiftungsratsmitglieds nämlich angemessen aus (wovon man - auch entgegen manch empirischer Evidenz - ausgehen sollte), so erfordert sie – schon wegen des rechtlichen (wenngleich praktisch eher theoretischen) Haftungsrisikos und der Verantwortung – einiges an zeitlichem Aufwand. Der Stiftungsrat des ORF ist dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft nachgebildet, sowohl strukturell als auch von den Aufgaben her. Eine relativ aktuelle Erhebung hat für Aufsichtsratsmitglieder in Österreich einen Arbeitsaufwand von zwischen 12 bis 24 Arbeitstagen für ein normales Mitglied und von 36 bis 54 Tagen für den Vorsitzenden ergeben. Nun kann man einwenden, dass die ungewöhnlich große Anzahl von Stiftungsratsmitgliedern im Vergleich zu einem typischen Aufsichtsrat den Aufwand der einzelnen Mitglieder eher verringert, aber auch unter diesem Gesichtspunkt verbleibt noch eine recht beträchtliche zeitliche Belastung, die man sich erst einmal leisten können muss. 

Im Stiftungsrat des ORF sehen wir zB Unternehmens-, Politik-, Strategie- oder Kommunikationsberater, den Geschäftsführer einer Verwertungsgesellschaft, einen Musikmanager, die PR-Verantwortliche eines Museums, usw. (ich lasse im gesamten Blogpost übrigens die besondere - arbeitsverfassungsrechtlich geprägte - Rolle der vom Zentralbetriebsrat bestellten Mitglieder außer Betracht). Ich gehe davon aus, dass sie alle sich mindestens zwei Wochen unbezahlte Arbeit für den ORF schon leisten werden können, aber die Frage muss schon erlaubt sein: welche Interessen haben sie jeweils bewogen, diese Funktion zu übernehmen? Geld kann es ja - Strichwort: Ehrenamtlichkeit - nicht sein. 

Die Ehrenamtlichkeit lässt zumindest die Sorge zu, dass jemand eine Funktion als Mitglied des Stiftungsrates auch annimmt, weil er/sie 

  • damit für den Job, den er/sie eigentlich ausübt, etwas erreichen will und kann; das heißt aber, dass die Funktion als Mitglied des Stiftungsrates mehr im Interesse des eigenen Dienstgebers bzw. der eigentlichen Haupttätigkeit liegt, als im Interesse des ORF, oder 
  • darum gebeten wird, und weil er/sie vielleicht jemandem etwas schuldig ist, oder zumindest möchte, dass jemand ihm/ihr etwas schuldig ist. 

Dabei können die verfolgten Interessen legitim sein, etwa wenn sich der Geschäftsführer einer Verwertungsgesellschaft dafür einsetzt, dass die österreichische Musikwirtschaft im ORF gut bedient wird. Und das mit dem "jemandem etwas schuldig sein" muss man sich nicht als einfaches „do ut des“ vorstellen - aber es reicht die atmosphärische Verbindung, das Gefühl des potentiellen Stiftungsratsmitglieds: ich sollte das doch machen (zB für die Partei, für xy…) oder auf der anderen Seite: jetzt ist der/die für uns den in den Stiftungsrat gegangen, das rechnen wir ihm/ihr zumindest moralisch an – und vielleicht auch für den nächsten Auftrag, die nächste bezahlte Funktion, etc. 

Das alles ist natürlich schwer fassbar, und ich gehe davon aus, dass die Mitglieder des Stiftungsrates sich nach bestem Wissen und Gewissen darum bemühen, die Tätigkeit von ihren sonstigen (beruflichen) Interessen und wirtschaftlichen, politischen, freundschaftlichen Beziehungen zu trennen. Aber in der Praxis leistet die Konstruktion als Ehrenamt einem schlampigen Umgang mit Interessenkonflikten Vorschub: nehmen wir zB an, der ÖGB würde eine engagierte Betriebsrätin oder Funktionärin in den Publikumsrat schicken, die dann vom Publikumsrat in den Stiftungsrat entsandt würde: für die Tätigkeit im Publikums- und Stiftungsrat müsste sie sich jeweils Urlaub oder Zeitausgleich nehmen, was bei ihrem Arbeitgeber vielleicht nicht immer leicht durchsetzbar wäre, und sie würde dafür einen nicht unwesentlichen Teil ihres Jahresurlaubs verwenden. Läge es da nicht näher, vielleicht einen Berufsfunktionär zu entsenden, der die Tätigkeit mehr oder weniger in seine berufliche Tätigkeit "integrieren" kann? Bei dem der Dienstgeber vielleicht großzügiger mit Zeitausgleich oder Urlaub für diese Tätigkeit ist oder es gar hinnimmt, wenn diese Tätigkeit während der Arbeitszeit ausgeübt wird? Ähnliches gilt für die von Kammern nominierten Personen oder jene, die beruflich bei politischen Akademien tätig sind. 

Und damit bin ich an einem Punkt, an dem es rechtlich heikel wird. Wird die Tätigkeit eines Stiftungsratsmitglieds in der Arbeitszeit seines (fremden) Dienstgebers ausgeübt, so ist die verfassungsrechtlich geforderte Unabhängigkeit nicht mehr gegeben. Denn wenn der jeweilige Dienstgeber die Auffassung vertritt, die Tätigkeit als Publikums- oder Stiftungsratsmitglied sei (auch) in seinem Interesse gelegen und daher (von ihm) zu entlohnen, besteht keine völlige Ungebundenheit des Stiftungs- oder Publikumsratsmitglieds von Interessen Dritter. Dasselbe gilt natürlich, wenn im Rahmen einer selbständigen Tätigkeit Aufwendungen im Zusammenhang mit der Tätigkeit als Stiftungsratsmitglied steuerlich geltend gemacht werden, etwa indem Ressourcen des Unternehmens ohne "Herausrechnung" genutzt werden. 

Die Mitglieder des Stiftungsrates werden zu einem wesentlichen Teil von der Bundesregierung und den Ländern sowie auf Vorschlag der politischen Parteien bestellt; sie haben im Stiftungsrat aber nicht die Interessen jener zu vertreten, von denen sie ernannt oder vorgeschlagen wurden, sondern sie müssen die Funktion in völliger Unabhängigkeit ausüben. Damit ist unvereinbar, für die Tätigkeit als Stiftungsratsmitglied von dritter Seite entlohnt zu werden.

Was tun? Bloß die Ehrenamtlichkeit gesetzlich zu streichen und stattdessen eine angemessene Entlohnung für die Tätigkeit als Stiftungsratsmitglied vorzusehen, wird die faktischen (und teilweise, wie gerade erwähnt, auch rechtlichen) Probleme mangelnder Unabhängigkeit nicht lösen. Aber es wäre zumindest ein Schritt in Richtung mehr Ehrlichkeit.

[Disclosure: ich wurde in der Vergangenheit in zwei Fällen gefragt, ob ich eine Funktion als Stiftungsratsmitglied annehmen möchte; ich konnte jeweils schon deshalb ablehnen, weil dies mit meiner hauptberuflichen Tätigkeit unvereinbar ist - die Frage der Ehrenamtlichkeit war da also nicht entscheidend.]

PS (Ergänzung 9.8.2021, 20:30 Uhr): weil ich gerade darüber gestolpert bin, ein Auszug aus einem Artikel in der Presse aus 2011, von Anna-Maria Wallner, hier als Screenshot mit eigener Hervorhebung: Quod erat demonstrandum

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