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Thursday, December 12, 2013

EuGH-Generalanwalt zur Vorratsdatenspeicherung: RL mit Grundrechtecharta unvereinbar, aber Ziel legitim

Pedro Cruz Villalón, Erster Generalanwalt am EuGH, hat heute seine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C-293/12 Digital Rights Ireland und C-594/12 Seitlinger ua erstattet (Schlussanträge, Pressemitteilung des EuGH). Zur Entscheidung steht in diesen zwei Verfahren im Kern die Frage, ob die Richtlinie 2006/24 über die Vorratsspeicherung von Daten mit der Grundrechtecharta vereinbar - und damit gültig - ist (siehe im Blog dazu bisher am 9.5.2010, am 18.6.2012, am 19.6.2012, am 18.12.2012 und am 14.6.2013).

Der Generalanwalt kommt zum Ergebnis, dass die Richtlinie in ihrer Gesamtheit mit Art 52 Abs 1 der Grundrechtecharta unvereinbar ist, da sie nicht bereits selbst die unabdingbaren Grundsätze enthält, die die Mitgliedstaaten zur Beschränkung des Zugangs zu den Daten und ihrer Auswertung garantieren müssen.

Außerdem ist nach Ansicht des Generalanwalts Art 6 der RL 2006/24 mit den Art 7 und 52 Abs 1 GRC unvereinbar, soweit er eine Speicherdauer von bis zu zwei Jahren vorschreibt.

Der Generalanwalt schlägt dem EuGH auch vor, die zeitlichen Wirkungen eines (ihm in der Frage der Gültigkeit folgenden) Urteils zu beschränken, was eine Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene "in angemessener Frist" unter Berücksichtigung des Urteils ermöglichen würde. Die Richtlinie würde demnach nicht gleich aus dem Rechtsbestand eliminiert, sondern wäre weiter gültig bis zur Neuregelung.

Eine erste Einschätzung (Details zu den Schlussanträgen weiter unten)
Der Entscheidungsvorschlag klingt auf den ersten Blick spektakulärer, als er im Ergebnis ist. Die VDS-RL würde zwar fallen, aber die Vorratsdatenspeicherung wäre damit nicht tot, sondern im Grundsatz als geeignetes Mittel für das legitime Ziel der Verfolgung schwerer Straftaten anerkannt. Auswüchse - insbesondere lange Speicherdauer und Datenzugriff wegen minderschwerer Delikte - müssten freilich zurückgefahren und Rechtschutzgarantien ausgebaut werden.

Denn der Generalanwalt bestätigt in seinen Schlussanträgen die Kritiker der Vorratsdatenspeicherung zwar darin, dass es sich um "einen besonders qualifizierten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens" handelt, erkennt aber auch ein legitimes Ziel für die Vorratsdatenspeicherung an, dem durch eine entsprechend "schonende" Ausgestaltung Rechnung getragen werden könnte. Dazu wäre auf Unionsebene eine präzise Regelung des Zugangs zu den Daten und der Verwendung der Daten und eine maximale Speicherdauer von weniger als einem Jahr erforderlich.

Generalanwalt Cruz Villalón, der in Telekomsachen zB auch schon die Schlussanträge in den Rechtssachen C-70/10 Scarlet Extended ("Internetsperren"; siehe hier) und jüngst C-314/12 UPC Telekabel Wien ("kino.to"; siehe hier) geschrieben hat (und der auch in die Schlussanträge zum bislang wohl wichtigsten Urteil des EuGH zur Grundrechtecharta, C-617/10 Åkerberg Fransson - im Blog dazu hier - verfasst hat), hat damit eine klassische grundrechtliche Analyse vorgenommen, in der er zunächst eine Grundrechtseinschränkung durch die Vorratsdatenspeicherung aufgrund der VDS-RL feststellt, und dann schon im zweiten Prüfschritt - ob die Einschränkung im Sinne des Art 52 Abs 1 GRC "gesetzlich vorgesehen" ist - zum Ergebnis kommt, dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage fehlt (weil die RL nicht ausreichend präzis ist, was den Zugang zu den Daten und deren Auswertung betrifft).

Die weiteren Ausführungen zu den Fragen, ob die Einschränkungen einem legitimen Ziel iSd Art 52 Abs 1 GRC dienen und ob sie verhältnismäßig sind, wären daher an sich gar nicht mehr notwendig gewesen, können aber für eine gegebenenfalls vom Unionsgesetzgeber vorzunehmende Neuregelung Hinweise geben. Außerdem sind diese Überlegungen gewissermaßen die "fall back"-Position, falls der EuGH der viel grundsätzlicheren Hauptargumentationslinie nicht folgen möchte.

Die juristisch interessante Neuerung der Schlussanträge ist die zentrale Argumentationslinie des Generalanwaltes, wonach es nicht ausreicht, wenn der Unionsgesetzgeber in der - einen Grundrechtseingriff bewirkenden - Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet, die dafür notwendigen grundrechtlichen Garantien zu schaffen, sondern selbst bereits in der Richtlinie zumindest die Grundprinzipien festlegen muss.

Bei den vom Generalanwalt - nur beispielhaft - verlangten Garantien für eine Beschränkung des Zugangs zu Vorratsdaten ist hervorzuheben, dass es nicht nur um ganz allgemeine Regeln geht (insbesondere eine engere Fassung der Straftatbestände, für die ein Datenzugriff zulässig ist), sondern explizit auch die Möglichkeit von Ausnahmen verlangt wird, die neben den vom Generalanwalt erwähnten Ärzten wohl zB auch Rechtsanwälten, Priestern oder Journalisten zugute kommen könnten.

Wie geht es weiter?
Die Schlussanträge des Generalanwalts dienen der Entscheidungsvorbereitung des EuGH und enthalten einen Entscheidungsvorschlag, binden den EuGH aber natürlich nicht. Die Eigenständigkeit einer in diesen Rechtssachen entscheidenden Großen Kammer und eines in der Sache engagierten Berichterstatters am Gerichtshof sollte man nicht unterschätzen. Ich würde nicht ausschließen, dass der EuGH die zentrale Argumentationslinie des Generalanwalts verlässt und sich mehr auf die Prüfung dessen einlässt, was in der Richtlinie steht (statt - wie der Generalanwalt - den Mangel vor allem darin zu finden, was nicht in der RL steht), sich also vor allem mit der Speicherdauer befasst und vielleicht auch mit dem Grundkonzept der (ausnahmslosen) Vorratsdatenspeicherung.

Wetten würde ich überhaupt auf kein Ergebnis eines Gerichtsverfahrens, aber wenn ich zwei Dinge als sehr unwahrscheinlich fast ausschließen würde, dann einerseits, dass der EuGH die Höchstspeicherdauer von zwei Jahren akzeptieren wird, und andererseits, dass er der Vorratsdatenspeicherung eine grundsätzliche (System-)Absage erteilen könnte. Irgendwo dazwischen - mit kürzerer Frist, mehr Ausnahmen und mehr Kautelen für die Datenverwertung - wird das Ergebnis wohl zu liegen kommen. Mit einem Urteil rechne ich noch im ersten Halbjahr 2014.

Auswirkungen für Österreich
Sollte der EuGH dem Generalanwalt folgen, so wären die Auswirkungen auf Österreich vergleichsweise gering - die sechsmonatige Speicherdauer wäre in Ordnung, dem System nach auch das Auskunftsverfahren nach der StPO (wohl nicht mehr nach dem SPG). Anzupassen wäre gegebenenfalls die Aufzählung der Gründe für einen Datenzugriff in § 135 Abs 2 Z 2 bis 4 StPO, jedenfalls wenn der EuGH deutlicher wird, wie die Straftatbestände, die den Zugang zu Vorratsdaten rechtfertigen, präzisiert werden sollen. Neu zu schaffen wären insbesondere Ausnahmen für bestimmte geschützte Geheimnisträger und auch Informationspflichten und Löschpflichten für die Empfänger der Vorratsdaten. Aber alles in allem würde dies eher eine Anpassung als eine Revolution sein.

Auswirkungen für Deutschland
An sich ändern die Vorabentscheidungsverfahren nichts an der Verpflichtung Deutschlands, die VDS-RL umzusetzen - diese Verpflichtung fiele erst weg, wenn der EuGH die Ungültigkeit der Richtlinie feststellen sollte. Sofern der EuGH aber die zeitlichen Wirkungen seines Ausspruchs so festsetzt wie vom Generalanwalt vorgeschlagen, bliebe trotz Ungültigerklärung die Pflicht zur Umsetzung sogar aufrecht. Dennoch gehe ich erst mal davon aus, dass das vor dem EuGH anhängige Zwangsgeldverfahren C-329/12 Kommission / Deutschland (im Blog dazu hier) wegen der Nichtumsetzung der RL jetzt noch bis zur Entscheidung des EuGH in den hier besprochenen Verfahren liegen bleiben wird.

Der Koalitionsvertrag der deutschen (wahrscheinlich) zukünftigen Regierungsparteien kündigt (auf S. 147) die Umsetzung der VDS-RL an, mit Beschränkung des Datenzugriffs (nur bei schweren Straftaten nach richterlicher Genehmigung bzw zur Abwehr akuter Gefahren für Leib und Leben) und Speicherverpflichtung auf Servern in Deutschland. Außerdem wollen die Koalitionsparteien auf EU-Ebene "auf eine Verkürzung der Speicherfrist auf drei Monate hinwirken". Damit klingt der Koalitionsvertrag schon sehr nach dem, was bei den Verfahren vor dem EuGH - und danach einer Neuregelung durch den Unionsgesetzgeber - im Ergebnis herauskommen könnte.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Schlussanträge des Generalanwalts eine Konfrontation mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht elegant vermeiden. Das BVerfG hatte ja die deutsche Umsetzung als grundgesetzwidrig aufgehoben, aber ausdrücklich keinen Anlass gesehen, Fragen zur Gültigkeit der VDS-RL nach Luxemburg vorzulegen; das BVerfG vertrat damit die Auffassung, dass die VDS-RL verfassungskonform umsetzbar sei. Folgt man dem Generalanwalt, dann könnte das auch stimmen: er verweist ja ausdrücklich auf die meist "maßvolle" Umsetzung durch die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Speicherfrist und weiters auf die Möglichkeit, dass die auf Unionsebene in der VDS-RL fehlenden Garantien für die Beschränkung des Zugangs zu Vorratsdaten "im Rahmen der von den Mitgliedstaaten erlassenen Umsetzungsmaßnahmen korrigiert worden sein" können. Auf diese Weise könnte sich eine gesichtswahrende Lösung für Karlsruhe abzeichnen.

(Ich halte diese Argumentation des Generalanwalts übrigens nicht für hundertprozentig stringent, da er unter den Grundprinzipien für die Beschränkung des Zugangs zB auch Ausnahmen für Ärzte verlangt, was aber zumindest nach dem Wortlaut der Richtlinie nicht mit dieser vereinbar ist - in diesem Punkt könnte also eine Korrektur der Richtlinienmängel auf Ebene des Mitgliedstaats nicht richtlinienkonform erfolgt sein.)

Nun zu den Schlussanträgen mehr im Detail:

Im Wesentlichen betroffenes Grundrecht: Art 7 Grundrechtecharta
Zu Art 11 GRC (Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit) hält der Generalanwalt fest, dass "das diffuse Gefühl des Überwachtwerdens, das die Umsetzung der VDS-RL erzeugen kann, geeignet ist, entscheidenden Einfluss auf die Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit durch die Unionsbürger auszuüben, und dass folglich auch ein Eingriff in das durch Art. 11 der Charta garantierte Recht vorliegt". Dieser "chilling effect" (zu dem der EuGH nicht über genügend Informationen verfüge) sei aber nur eine Nebenfolge eines Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens (RNr 52); wohl aber stellt sich aufgrund des Gefühls des Überwachtwerdens die Frage der Dauer der Speicherung "in besonders eindringlicher Weise" (RNr 72).

Die VDS-RL erweist sich auf den ersten Blick als ein Eingriff in das Recht auf Schutz personenbezogener Daten nach Art 8 GRC (RNr 58), könne aber den Anforderungen von Art 8 Abs 2 GRC (legitime gesetzliche Grundlage, Auskunfts- und Berichtigungsrecht, Überwachung durch unabhängige Stelle) "vollkommen gerecht werden"; es sei davon auszugehen, dass sie nicht mit Art 8 GRC unvereinbar sei (RNr 60). Das bedeutet aber keineswegs, dass sie auch mit Art 7 GRC (Achtung des Privat- udn Familienlebens) voll und ganz vereinbar wäre:
61.   Da die 'Privatsphäre' den Kern der 'Persönlichkeitssphäre' darstellt, ist nämlich nicht auszuschließen, dass eine Regelung, mit der das Recht auf Schutz personenbezogener Daten im Einklang mit Art. 8 der Charta eingeschränkt wird, gleichwohl als unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 7 der Charta anzusehen ist.
Dann unterscheidet der Generalanwalt zwischen personenbezogenen und "mehr als personenbezogenen" Daten:
64. Es gibt nämlich Daten, die als solche personenbezogen sind, d. h. insofern, als sie eine Person individualisieren; dazu gehören etwa solche, die in der Vergangenheit auf einem Passierschein enthalten sein konnten, um nur ein Beispiel zu nennen. Hierbei handelt es sich um Daten, die häufig eine gewisse Dauerhaftigkeit und häufig auch eine gewisse Neutralität aufweisen. Sie sind rein personenbezogen, und man könnte generell sagen, dass der Aufbau und die Garantien des Art. 8 der Charta auf sie am besten zugeschnitten sind.
65. Es gibt aber auch Daten, die gewissermaßen mehr als personenbezogen sind. Hierbei handelt es sich um Daten, die sich in qualitativer Hinsicht im Wesentlichen auf das Privatleben – auf das Geheimnis des Privatlebens, einschließlich der Intimität – beziehen. In diesen Fällen beginnt das durch die personenbezogenen Daten aufgeworfene Problem nämlich sozusagen bereits 'im Vorfeld'. Das Problem, das sich dann stellt, betrifft noch nicht die mit der Datenverarbeitung verbundenen Garantien, sondern – vorgelagert – die Daten als solche, also die Tatsache, dass die Umstände des Privatlebens einer Person die Form von Daten angenommen haben und diese Daten infolgedessen für eine Verarbeitung in Betracht kommen.
66. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass solche Daten ein Problem aufwerfen, das im Wesentlichen vor dem ihrer Verarbeitung liegt und in erster Linie unter das durch Art. 7 der Charta garantierte Privatleben und nur in zweiter Linie unter die Garantien fällt, die sich auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 8 der Charta beziehen.
Die Gültigkeit der VDS-RL ist daher hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt des Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens zu prüfen.

Besonders qualifizierter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens
Für den Generalanwalt unterliegt es keinem Zweifel, dass die VDS-RL als solche einen Eingriff in das nach Art 7 GRC geschützte Recht darstellt (RNr 68) - und er betont, dass es sich um einen "besonders qualifizierten Eingriff" handelt (RNr 70 ff). Zwar nimmt die VDS-RL Inhaltsdaten von ihrem Anwendungsbereich aus, aber "die Erhebung und vor allem die Vorratsspeicherung vielfältiger, im Rahmen des größten Teils der laufenden elektronischen Kommunikation der Unionsbürger erzeugter oder verarbeiteter Daten in gigantischen Datenbanken [stellen] selbst dann einen qualifizierten Eingriff in das Privatleben dieser Bürger dar, wenn sie nur die Voraussetzungen dafür schaffen würden, dass ihre sowohl persönlichen als auch beruflichen Tätigkeiten nachträglich kontrolliert werden können. Die Erhebung dieser Daten schafft die Voraussetzungen für eine Überwachung, die, auch wenn sie nur vergangenheitsbezogen bei ihrer Auswertung erfolgt, das Recht der Unionsbürger auf das Geheimnis ihres Privatlebens gleichwohl während der gesamten Dauer der Vorratsspeicherung permanent bedroht." (RNr 72)

Der Generalanwalt weist auch darauf hin, dass die Auswertung der Daten "es ermöglichen kann, eine ebenso zuverlässige wie erschöpfende Kartografie eines erheblichen Teils der Verhaltensweisen einer Person, die allein ihr Privatleben betreffen, oder gar ein komplettes und genaues Abbild der privaten Identität dieser Person zu erstellen." (RNr 74)

Dass die Daten nicht von den Behörden oder unter deren Kontrolle gespeichert werden, vergrößert die Gefahr, dass sie zu betrügerischen oder heimtückischen Zwecken verwendet werden. Die RL schreibt den Mitgliedstaaten zwar vor, dass die Daten so gespeichert werden, dass sie "unverzüglich an die zuständigen Behörden auf deren Anfrage hin weitergeleitet werden können", aber nicht, dass sie auch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates gespeichert werden müssten (RNr 75-78)
79. Diese 'Externalisierung' der Vorratsdatenspeicherung ermöglicht es zwar, die gespeicherten Daten von den öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten fernzuhalten und sie damit ihrem direkten Zugriff und jeder Kontrolle zu entziehen, aber gerade dadurch vergrößert sie gleichzeitig die Gefahr einer Auswertung, die den Anforderungen des Rechts auf Achtung des Privatlebens zuwiderläuft.
Gültigkeit der VDS-RL nach Art 5 Abs 4 EUV und Urteil C-301/06 Irland / Parlament und Rat
Mit dem Urteil C-301/06 Irland / Parlament und Rat (siehe hier) hat der EuGH eine Klage Irlands auf Nichtigerklärung der VDS-RL abgewiesen. Der EuGH hat dabei festgestellt, dass sich die Klage Irlands ausschließlich auf die Wahl der Rechtsgrundlage bezog, und nicht auf eine eventuelle Verletzung der Grundrechte als Folge von mit der VDS-RL verbundenen Eingriffen in das Recht auf Privatsphäre. Der EuGH hat daher jedenfalls die Vereinbarkeit mit der GRC nicht geprüft; weniger klar ist, ob der EuGH die Vereinbarkeit der VDS-RL mit Art 5 Abs 4 EUV (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) geprüft hat.

Der Generalanwalt geht dann relativ ausführlich auf die Frage der Verhältnismäßigkeit nach Art 5 Abs 4 EUV ein (RNr 87 bis 105), lässt sie aber letztlich - aufgrund des Ergebnisses der Prüfung nach der GRC - ausdrücklich offen. Er weist auch in diesem Zusammenhang bereits auf die Problematik hin, dass die VDS-RL zwar den Anbietern Verpflichtungen zur Erhebung und Vorratsspeicherung von Daten auferlegt, es aber den Mitgliedstaaten überlässt, die Achtung der Grundrechte zu gewährleisten (juristisch spannend, aber schwer kommunizierbar und praktisch unergiebig, sind die RNr 102 bis 104 zur gewählten Rechtsgrundlage - Binnenmarkt - und dem hinter der RL stehenden Ziel der Verfolgung schwerer Straftaten).

Gesetzlich vorgesehener Eingriff? Verweis auf Mitgliedstaaten reicht nicht
Nach Art 52 Abs 1 GRC muss jede Einschränkung von Grundrechten "gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten". Dass mit der VDS-RL formal ein Gesetz vorliegt, reicht dazu nicht aus, es ist auch die "Qualität des Gesetzes" (insbesondere dessen Präzision) zu prüfen. Der Generalanwalt verweist dazu auf seine Schlussanträge in der Rechtssache C-70/10 Scarlet Extended ("Internetsperren"; siehe hier), wo er (in RNr 94-97) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR die näheren Anforderungen an eine ausreichende gesetzliche Grundlage darlegte (im Wesentlichen: das "Gesetz" muss hinreichend klar und vorhersehbar sein und den Umfang und die Art und Weise der Ausübung des Eingriffs hinreichend klar definieren). Dort bezog sich das allerdings auf eine gesetzliche Regelung der Mitgliedstaaten, hier wird es auf die VDS-RL als Rechtsvorschrift der Union angewendet.

Nach Art 4 der VDS-RL ist es Sache der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu erlassen, um sicherzustellen, dass die auf Vorrat gespeicherten Daten nur in bestimmten Fällen und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht an die zuständigen nationalen Behörden weitergegeben werden. Art 4 Satz 2 lautet: "Jeder Mitgliedstaat legt in seinem innerstaatlichen Recht unter Berücksichtigung der einschlägigen Bestimmungen des Rechts der Europäischen Union oder des Völkerrechts, insbesondere der EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das Verfahren und die Bedingungen fest, die für den Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten gemäß den Anforderungen der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind."

Bei der VDS-RL verlässt sich der Unionsgesetzgeber, der selbst keine Schutzmaßnahmen für den Zugang zu den Daten getroffen hat, damit grundsätzlich auf die Mitgliedstaaten. Dem Generalanwalt stellt sich "allein die Frage, ob dem Erfordernis, dass jede Einschränkung der Grundrechte 'gesetzlich vorgesehen' sein muss, mit einem solchen allgemeinen Verweis, auch wenn er mit einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die durch die RL 95/46 und die RL 2002/58 garantierten Rechte einhergeht, Genüge getan wird."

Der Generalanwalt unterscheidet hier zwei Fälle: einerseits jene, in denen der Unionsgesetzgeber, wie bei Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 (siehe dazu das Urteil Bonnier Audio, im Blog hier), den nationalen Gesetzgebern ermöglicht, auf eigene Initiative Rechtsvorschriften zu erlassen, die zu einer Einschränkung der Grundrechte führen. In diesen Fällen kann es der Unionsgesetzgeber im Wesentlichen den nationalen Gesetzgebern überlassen, dafür zu sorgen, dass diese Rechtsvorschriften alle notwendigen Schutzmaßnahmen umfassen, damit diese Einschränkungen und ihre Anwendung sämtlichen Anforderungen in Bezug auf die Qualität des Gesetzes und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (RNr 116).

Anders sind jene Fälle zu beurteilen, in denen sich die Einschränkung der Grundrechte aus den Rechtsvorschriften der Union selbst ergibt; hier ist der Anteil der vom Unionsgesetzgeber zu tragenden Verantwortung ein ganz anderer. Zwar sei es bei einer RL Sache der Mitgliedstaaten, im Einzelnen die Schutzmaßnahmen festzulegen. Bei der Definition der Schutzmaßnahmen als solcher müsse der Unionsgesetzgeber jedoch eine führende Rolle spielen (RNr 117).

Der Übergang von einer fakultativen Regelung der Vorratsdatenspeicherung (nach Art 15 der RL 2002/58) zu einer eine Frist vorschreibenden Regelung, wie sie mit der VDS-RL geschaffen worden ist, hätte nach Ansicht des Generalanwalts daher "mit einer parallelen Entwicklung in Bezug auf Schutzmaßnahmen einhergehen und den Unionsgesetzgeber daher veranlassen müssen, die den Mitgliedstaaten übertragene sehr weite Befugnis hinsichtlich des Zugangs zu den Daten und deren Auswertung durch den Erlass von Spezifikationen in Form von Prinzipien grundsätzlich einzugrenzen." (RNr 118)
120. Der Unionsgesetzgeber darf es, wenn er einen Rechtsakt erlässt, mit dem Verpflichtungen auferlegt werden, die mit qualifizierten Eingriffen in Grundrechte der Unionsbürger verbunden sind, nämlich nicht vollständig den Mitgliedstaaten überlassen, die Garantien festzulegen, die sie zu rechtfertigen vermögen. Er darf sich weder damit begnügen, den zuständigen Legislativ- und/oder Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten, die gegebenenfalls nationale Maßnahmen zur Durchführung eines solchen Rechtsakts zu treffen haben, die Aufgabe zu übertragen, diese Garantien festzulegen und einzuführen, noch sich völlig auf die Justizbehörden verlassen, die mit der Kontrolle der konkreten Anwendung des Rechtsakts betraut sind. Um den Bestimmungen des Art. 51 Abs. 1 der Charta nicht ihren Sinn zu nehmen, muss er seinen Teil der Verantwortung in vollem Umfang übernehmen, indem er zumindest die Grundsätze festlegt, die für die Festlegung, Einführung, Anwendung und Kontrolle der Beachtung dieser Garantien gelten sollen.
Der Generalanwalt geht davon aus, dass ohne Kenntnis darüber, wie der Zugang zu den Daten und deren Auswertung erfolgen kann, kein fundiertes Urteil über den Grundrechtseingriff gefällt werden kann (RNr 122). Dass es - nach Auffassung von Generalanwalt Bot in dessen Schlussanträgen zur Rechtssache C-301/06 Irland / Parlament und Rat - schwierig gewesen wäre, die Garantien für den Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten einzubeziehen, beeindruckt Generalanwalt Cruz Villalón nicht:
124   [...] der Unionsgesetzgeber, als er die Verpflichtung zur Erhebung und Vorratsspeicherung der Daten aufstellte, [war] durch nichts daran gehindert, dieser Verpflichtung – zumindest in Form von Grundsätzen – verschiedene von den Mitgliedstaaten auszugestaltende Garantien an die Seite zu stellen, mit denen die Auswertung der Daten eingeschränkt und auf diese Weise die genaue Maßnahme und das vollständige Profil des mit ihr verbundenen Eingriffs festgelegt werden soll.
Mindestgarantien zur Beschränkung des Zugangs zu Vorratsdaten
Ausdrücklich "ohne Anspruch auf Vollständigkeit" führt der Generalanwalt dann Grundprinzipien an, die für die Festlegung der Mindestgarantien zur Beschränkung des Zugangs zu den erhobenen und auf Vorrat gespeicherten Daten und ihrer Auswertung gelten sollten:
  • Präzisere Beschreibung der Straftatbestände, die den Zugang zu Vorratsdaten rechtfertigen können (RNr 126),
  • Beschränkung des Zugangs auf Justizbehörden oder zumindest auf unabhängige Stellen oder richterliche/unabhängige Kontrolle und Einzelfallprüfung jedes Zugangsantrags (RNr 127),
  • Möglichkeit für Ausnahmen vom Zugang zu Vorratsdaten unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, etwa im Kontext der ärztlichen Schweigepflicht (RNr 128),
  • Verpflichtung zur Löschung der Daten, sobald sie nicht mehr benötigt werden und Information der Betroffenen über einen erfolgten Zugang ("sobald jedes Risiko ausgeschlossen werden kann, dass diese Information die Wirksamkeit der die Auswertung der Daten rechtfertigenden Maßnahmen beeinträchtigen kann") (RNr 129);
Der Generalanwalt verweist darauf, dass der Unionsgesetzgeber im Rahmenbeschluss 2008/977 (Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden) solche Garantien vorgesehen hat (RNr 130). Dass die Mitgliedstaaten die in der VDS-RL selbst nicht vorgesehenen Garantien häufig auf eigene Initiative eingeführt haben, kann den Unionsgesetzgeber "offensichtlich nicht entlasten" (RNr 132), diesem Umstand trägt der Generalanwalt aber bei der vorgeschlagenen Entscheidung zur zeitlichen Wirkung eines Urteils Rechnung.

Zur Frage der gesetzlichen Grundlage kommt der Generalanwalt damit zu einem eindeutigen Ergebnis:
131. Im Ergebnis ist die gesamte Richtlinie 2006/24 unvereinbar mit Art. 52 Abs. 1 der Charta, da die Einschränkungen der Grundrechtsausübung, die sie aufgrund der durch sie auferlegten Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung enthält, nicht mit unabdingbaren Grundsätzen einhergehen, die für die zur Beschränkung des Zugangs zu den Daten und ihrer Auswertung notwendigen Garantien gelten müssen.
Zur Verhältnismäßigkeit nach Art 52 Abs 1 GRC
Die Verhältnismäßigkeit ist Voraussetzung für eine zulässige Grundrechtseinschränkung nach Art 52 Abs 1 GRC ("Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen").

Nach Ansicht des Generalanwalts verfolgt die VDS-RL "ein vollkommen legitimes Ziel" (Verfügbarkeit der Vorratsdaten sicherzustellen zur Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten) und ist "als zur Erreichung dieses Endziels geeignet und - vorbehaltlich der Garantien, mit denen sie versehen sein sollte - sogar erforderlich anzusehen" (RNr 136). Wird die VDS-RL mit den notwendigen Garantien versehen, so kann das auch "die - gewiss recht lange - Liste der auf Vorrat zu speichernden Daten" rechtfertigen. Dass man sich der VDS-RL entziehen kann, mag die Wirksamkeit erheblich relativieren, lässt aber nicht den Schluss zu, dass die Erhebung und Speicherung der Vorratsdaten per se zur Zielerreichung völlig ungeeignet oder offensichtlich völlig nutzlos sind. Der Generalanwalt weist in diesem Zusammenhang aber nachdrücklich auf die Verpflichtung der Kommission hin, die einen Bericht über die Anwendung der RL zu erstellen und auf dieser Grundlage Änderungen vorzuschlagen hat (RNr 138). Da die VDS-RL keine "sunset clause" (automatisches Außerkrafttreten) enthält, müsse der Unionsgesetzgeber auch eine regelmäßige Neubewertung der Umstände vornehmen, die die in ihr enthaltene qualifizierte Einschränkung rechtfertigen (RNr 139).

Der Generalanwalt nimmt in seinen Schlussanträgen keine detaillierte Prüfung der Verhältnismäßigkeit mehr vor, da er ja schon wegen des Fehlens einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage zur Unvereinbarkeit der VDS-RL mit der GRC kommt. Nur auf die Frage der Dauer der Speicherverpflichtung geht er - unter dem Gesichtspunkt Verhältnismäßigkeit - noch näher ein. Wenn die Maßnahme als solche legitim und geeignet ist (wovon der Generalanwalt ausgeht), ist zu prüfen, ob das verfolgte Ziel nicht mit einer die Ausübung der Grundrechte weniger beeinträchtigenden Maßnahme - also etwa einer kürzeren Höchstspeicherdauer - erreicht werden könnte.

Dass die Mitgliedstaaten nicht zwei Jahre festlegen müssen, sondern, wie zB Österreich, auch die Untergrenze von sechs Monaten wählen können, hilft dem Unionsgesetzgeber nicht: "Ab dem Moment, zu dem die Richtlinie 2006/24 in ihrer Harmonisierungsfunktion die Obergrenze für die Vorratsdatenspeicherung auf zwei Jahre festlegt, ist diese Bestimmung selbst der Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterwerfen." (RNr 143) Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein längerer Zeitraum der Vorratsspeicherung unter dem Gesichtspunkt der Strafverfolgung vorzuziehen wäre, sondern ob ein solcher längerer Zeitaraum im Rahmen einer Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit speziell erforderlich ist.

Quick freeze als Alternative?
Der Generalanwalt stellt die "data retention" nach der VDS-RL ausdrücklich der als "quick freeze" bezeichneten nachträglichen Datensicherung ("data preservation") gegenüber, hält aber fest, dass die data retention einer der Schlüsselaspekte der VDS-RL ist - als einer Maßnahme, die darauf abzielt, die öffentliche Hand zu einer hoheitlichen Reaktion auf bestimmte schwere Formen der Kriminalität zu befähigen (RNr 142). Da der Generalanwalt das legitime Ziel, die Geeignetheit und - wenn die sonst von ihm postulierten Garantien eingehalten werden - auch die Erforderlichkeit der VDS-RL anerkennt, lässt sich aus diesem Hinweis nicht ableiten, dass er im Hinblick auf die Möglichkeiten des "quick freeze" zu einer Grundrechtswidrigkeit der Vorratsspeicherung an sich kommen würde.

Anormale Datenakkumulation - Ausnahmecharakter
Der Generalanwalt weist darauf hin, dass eine Akkumulation von Daten an unbestimmten Orten im virtuellen Raum wie die hier in Rede stehende, die stets konkrete und bestimmte Personen betrifft, unabhängig von ihrer Dauer "tendenziell als anormal wahrgenommen wird." Ein solcher Zustand der "Zurückbehaltung" von Daten (data retention), die das Privatleben betreffen, sollte, "nie bestehen, und, falls er doch besteht, sollte dies nur in Anbetracht anderer Erfordernisse des sozialen Lebens geschehen. Eine solche Situation kann nur Ausnahmecharakter haben und darf deshalb zeitlich nicht über das unerlässliche Maß hinausgehen."

Bei der im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zulässigen Speicherungsfrist muss dem Gesetzgeber ein gewisser Wertungsspielraum zuerkannt werden, was aber nicht bedeutet, "dass insoweit jede Kontrolle der Verhältnismäßigkeit, sei sie auch schwierig, ausgeschlossen wäre." In der Folge wird der Generalanwalt - fast wie sein legendärer spanischer Vorgänger Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer - philosophisch:
146. In diesem Zusammenhang erscheint mir der Hinweis angebracht, dass die Existenz eines Menschen definitionsgemäß zeitlich begrenzt ist und dass in diesem Zeitraum sowohl die Vergangenheit, seine eigene Geschichte und letzten Endes seine Erinnerungen, als auch die Gegenwart, das mehr oder weniger unmittelbar Erlebte, das Bewusstsein dessen, was er gerade erlebt, konvergieren. Auch wenn sie schwer zu bestimmen ist, trennt eine Linie, die für jede Person sicherlich anders verläuft, die Vergangenheit von der Gegenwart. Die Möglichkeit, zwischen der Wahrnehmung der Gegenwart und der Wahrnehmung der Vergangenheit zu unterscheiden, dürfte außer Frage stehen. Bei jeder dieser Wahrnehmungen kann das Bewusstsein des eigenen Lebens – vor allem des 'Privatlebens' – als 'aufgezeichnetes' Leben eine Rolle spielen. Und es besteht ein Unterschied, je nachdem, ob es sich bei diesem 'aufgezeichneten Leben' um dasjenige handelt, das man als gegenwärtig wahrnimmt, oder um dasjenige, das man als seine eigene Geschichte erlebt.
Diese Erwägungen wendet der Generalanwalt auf die VDS-RL an und fragt, ob es unvermeidlich (also: erforderlich) ist, die Speicherverpflichtung für eine Dauer aufzuerlegen, die sich nicht nur auf die "gegenwärtige Zeit", sondern auch auf die "vergangene Zeit" erstreckt. Sein Ergebnis: nein - und die Gegenwart endet dort, wo man nicht mehr nach Monaten, sondern nach Jahren rechnet:
148. In diesem Sinne und im vollen Bewusstsein der damit verbundenen Subjektivität lässt sich sagen, dass eine „nach Monaten bemessene“ Speicherungsfrist personenbezogener Daten durchaus von einer „nach Jahren bemessenen“ Frist zu unterscheiden ist. Erstere entspräche derjenigen, die in dem als gegenwärtig wahrgenommenen Leben angesiedelt ist, und Letztere derjenigen, die in dem als Erinnerung wahrgenommenen Leben angesiedelt ist. Der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens ist aus diesem Blickwinkel jeweils ein anderer, und die Erforderlichkeit jedes dieser Eingriffe muss gerechtfertigt werden können.
149. Auch wenn die Erforderlichkeit des Eingriffs in der Dimension der gegenwärtigen Zeit als hinreichend gerechtfertigt erscheint, habe ich jedoch keine Rechtfertigung für einen Eingriff gefunden, der sich bis in die vergangene Zeit erstrecken soll. Direkter ausgedrückt – und ohne zu leugnen, dass es Straftaten gibt, die lange im Voraus vorbereitet werden – habe ich in den verschiedenen Stellungnahmen, in denen die Verhältnismäßigkeit von Art. 6 der Richtlinie 2006/24 verteidigt wird, keine hinreichende Rechtfertigung dafür gefunden, dass die von den Mitgliedstaaten festzulegende Frist für die Vorratsdatenspeicherung nicht innerhalb eines Rahmens von weniger als einem Jahr bleiben sollte. Mit anderen Worten – und mit aller bei dieser Dimension der Verhältnismäßigkeitskontrolle stets gebotenen Zurückhaltung – hat mich kein Argument von dem Erfordernis zu überzeugen vermocht, die Vorratsdatenspeicherung über ein Jahr hinaus zu verlängern.
[...]
152. Daraus folgt, dass Art. 6 der Richtlinie 2006/24 mit den Art. 7 und 52 Abs. 1 der Charta unvereinbar ist, soweit er den Mitgliedstaaten vorschreibt, sicherzustellen, dass die in ihrem Art. 5 genannten Daten für die Dauer von bis zu zwei Jahren auf Vorrat gespeichert werden.
Zeitliche Wirkungen der Ungültigkeit der VDS-RL
Der Generalanwalt schlägt vor, die Wirkungen der Feststellung der Ungültigkeit der VDS-RL auszusetzen, bis der Unionsgesetzgeber die Maßnahmen ergreift, die erforderlich sind, um der festgestellten Ungültigkeit abzuhelfen, wobei diese Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist getroffen werden müssen. Im vorliegenden Fall stehe "die Relevanz und sogar die Dringlichkeit der Endziele der betreffenden Grundrechtseinschränkung außer Frage". Andererseits seien die Feststellungen zur Ungültigkeit von besonderer Art: zum einen sei die VDS-RL wegen der mangelnden Garantien für den Zugang zu den Vorratsdaten ungültig, dies könne jedoch im Rahmen der von den Mitgliedstaaten erlassenen Umsetzungsmaßnahmen korrigiert worden sein. Zum anderen hätten die Mitgliedstaaten "ihre Befugnisse hinsichtlich der Höchstdauer der Vorratsdatenspeicherung im Allgemeinen maßvoll ausgeübt" (RNr 157).

Nach dieser Position des Generalanwalts korrigieren die vorsichtigen Umsetzungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten gewissermaßen die Mängel der VDS-RL, was ermöglicht, sie noch bis zur Erlassung einer Neuregelung in Kraft zu lassen.

Akademische Fragen des VfGH bleiben ohne Antwort des Generalanwalts
Der Verfassungsgerichtshof hat neben einer recht pauschalen Frage zur Gültigkeit der Vorratsdaten-RL noch fünf detaillierte Fragen, insbesondere zum Verhältnis der GRC zum Sekundärrecht (Datenschutzrichtlinie) und zur EMRK, gestellt, die ein wenig den Anschein erweckten, als stehe nicht so sehr der "Dialog zwischen Richtern" (vgl etwa die Schlussanträge von Generalanwalt Colomer in der Rechtsache C-205/08, Umweltanwalt von Kärnten, Rz 38ff) im Vordergrund als vielleicht ein Dialog zwischen Professoren, die eben auch Richter sind (hier im Bild [die beiden ersten von links] sind zwei Professoren - der zuständige Referent im VfGH und der Berichterstatter des EuGH - zu sehen).

Schon die Kommission hat in ihrer Stellungnahme im Verfahren vor dem EuGH zu diesen Fragen angemerkt, dass sie "in allgemeiner und abstrakter Form gestellt sind, ohne dass in jedem Fall die Entscheidungserheblichkeit für das Ausgangsverfahren erläutert wird." Auch in den Erklärungen der Mitgliedstaaten, die sich am Verfahren beteiligten, wurde auf diese Frage kaum eingegangen (ausgenommen in der österreichischen Erklärung, die dafür zur zentralen Frage der Gültigkeit - mangels Einigung in der Regierung - nicht Stellung genommen hat).

Auch der Generalanwalt übergeht diese - akademisch durchaus interessanten - Fragen, da es seiner Ansicht nach angesichts der Antwort auf die Hauptfrage nicht notwendig ist, spezielle Antworten darauf zu geben. Ich gehe aber davon aus, dass Prof. von Danwitz, Berichterstatter des EuGH, der am 13.05.2013 bei einem Vortrag am VfGH sehr freundliche Worte für die Vorlagepoltiik des VfGH gefunden hat, gerne auch zu diesen Fragen Stellung nehmen möchte. Es bleibt abzuwarten, ob das Eingang in das Urteil findet. Hier ein Zitat aus dem Vortrag von Prof. von Danwitz (veröffentlicht unter dem Titel "Verfassunngsrechtliche Herausforderungen in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH" in: EuGRZ 2013, 253, hier: 261):
Überdies sollten die mitgliedstaatlichen Gerichte und namentlich die Verfassungs- und Höchstgerichte bedenken, dass es wirkungsvoller ist, wen sie - statt den Dialog zu verweigern - dem Beispiel des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes folgen und ihr ganzes Gewicht in die Waagschale legen und sich aktiv einbringen, um durch ihre Darstellung der rechtlichen Problematik auf die Überzeugungsbildung des Gerichtshofes - wie ich nur betonen kann - maßgeblich einzuwirken.
Und hier noch ein paar weitere Zitate aus diesem Vortrag:
Als besonderer Katalysator für die Herausforderungen, die mit diesen Fragestellungen [Schutz der Grundrechte] verbunden sind, hat sich der 'Kampf gegen den Terror' erwiesen. Ungeachtet aller Einzelfragen möchte ich gleichsam vorab hervorheben, dass die als Herausforderung erkannte Notwendigkeit, rechtsstaatliche Sicherungen auch und gerade gegenüber der Rechtsetzung der Union in diesem Bereich einzufordern, die Richter des Gerichtshofes durchaus nachhaltig geprägt hat. [Bezug auf die Rechtssachen Kadi und Al Barakkat]
[...]
[...] zeigen nachfolgende Entscheidungen, wie konsequent der Gerichtshof an dem Ziel festhält, einen hochwertigen Schutz der Justizgrundrechte zu gewährleisten, ohne zugleich die Wahrnehmung der berechtigten Sicherheitsinteressen praktisch zu vereiteln. [Bezug auf die Rechtssachen Kadi I, Kadi II, ZZ]
[...]
Dementsprechend hat der EuGH seine Kontrolldichte [im System des europäischen Grundrechtsschutzes] in den vergangenen Jahren spürbar angehoben.
[...]
Aus der jüngeren Rechtsprechug ergibt sich zudem, dass der Gerichtshof sich der begrenzten Regelungszuständigkeiten der Union und damit auch der Grenzen seiner Zuständigkeiten durchaus bewusst ist.
[...]
Update 13.12.2013: siehe auch die Beiträge auf telemedicus.info und auf verfassungsblog.de.
Update 17./21.12.2013: siehe auch die Beiträge von Orla Linskey auf European Law Blog (und auf Inforrm's Blog), von Daniel Thym auf dem Verfassungsblog, von T.J. McIntyre auf opensocietyfoundations.org, von Monica Senor auf medialaws.eu (in italienischer Sprache), von Lorin-Johannes Wagner auf juwiss.de, sowie journalistische Berichte von Erich Möchel auf fm4.orf.at, von Günter Hack auf fm4.orf.at.

Thursday, November 28, 2013

Informationsfreiheit: EGMR zum Recht auf Zugang zu Behördenentscheidungen nach Art 10 EMRK

Österreich hat durch die Weigerung, einer NGO Zugang zu (anonymisierten) Entscheidungen der Tiroler Landes-Grundverkehrskommission zu geben, deren nach Art 10 EMRK geschützte Freiheit der Meinungsäußerung verletzt - zu diesem Ergebnis ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem heute ergangenen Urteil Österreichische Vereinigung zur Erhaltung, Stärkung und Schaffung eines wirtschaftlich gesunden land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes gegen Österreich (Appl. no. 39534/07; Pressemitteilung des EGMR) gekommen*). Das ist ein wesentlicher (weiterer) Schritt des EGMR zur Anerkennung des Rechts auf Informationszugang nach Art 10 EMRK, der auch für die - diesbezüglich bislang eher restriktive - Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes Änderungen erwarten lässt.

Die beschwerdeführende NGO befasst sich mit den Auswirkungen des land- und forstwirtschaftlichen Grundverkehrs auf die Gesellschaft und bringt sich dabei auch mit Stellungnahmen in den Gesetzgebungsprozess ein. Sie untersucht dazu auch die Entscheidungen der Grundverkehrsbehörden und erhielt von allen in letzter Instanz entscheidenden Landes-Grundverkehrsbehörden deren (anonymisierte) Entscheidungen - außer in Tirol. Die Tiroler Landes-Grundverkehrskommission (mittlerweile übrigens aufgelöst) weigerte sich grundsätzlich, trotz angebotenem Kostenersatz, ihre Entscheidungen zu anonymisieren und der NGO zur Verfügung zu stellen. Der dagegen angerufene Verfassungsgerichtshof konnte - nach einem interessanten Verfahrensgang, den ich mit dem Ausgangsfall hier näher beschrieben habe - keine Verletzung des Art 10 EMRK erkennen; er sprach vielmehr aus, "dass aus Art 10 EMRK keine Verpflichtung des Staates resultiert, den Zugang zu Informationen zu gewährleisten" (02.12.2011, B 3519/05, VfSlg 19.571/2011).

Der EGMR sieht dies nun (mit 6 zu 1 Stimmen, abweichendes Votum des Richters Møse) anders:

NGO erfüllt "watchdog"-Funktion
Zunächst hält der EGMR - wie schon im Fall Társaság a Szabadságjogokért - fest, dass auch NGOs die Rolle eines "watchdog" ausüben können und ihnen damit ein ähnlicher Schutz zuteil werden müsse wie der Presse - für die wiederum anerkannt ist, dass das Sammeln von Informationen ein wesentlicher Vorbereitungsschritt in der journalistischen Arbeit und daher Teil der Pressefreiheit ist. Zur hier beschwerdeführenden NGO sagt der EGMR (Hervorhebung hinzugefügt):
35. The applicant association is a non-governmental organisation the aim of which is to research the impact of transfers of ownership of agricultural and forest land on society. It also contributes to the legislative process by submitting comments on draft laws falling within its field of expertise. In the present case it wished to obtain information about the decisions of the Commission, that is to say the appellate authority approving or refusing transfers of agricultural and forest land under the Tyrol Real Property Transactions Act. The aims pursued by that Act – namely preserving land for agricultural and forestry use and avoiding the proliferation of second homes – are subjects of general interest.
36. The applicant association was therefore involved in the legitimate gathering of information of public interest. Its aim was to carry out research and to submit comments on draft laws, thereby contributing to public debate. Consequently, there has been an interference with the applicant association’s right to receive and to impart information as enshrined in Article 10 § 1 of the Convention [...].
Legitimes Interesse an der Informationsverweigerung?
Der EGMR erkennt an, dass der Schutz der Rechte anderer (der von den Entscheidungen Betroffenen) ein legitimes Ziel für die Verweigerung des Zugangs sein kann. Es müsse daher geprüft werden, ob die Verweigerung des Zugangs zum Schutz dieses Interesses notwendig sei.

Keine generelle Verpflichtung des Staates, alle Entscheidungen der Grundverkehrsbehörde zu publizieren
Eine generelle Verpflichtung, der NGO Zugang zur Datenbank zu geben oder alle Entscheidungen zu publizieren, sieht der EGMR nicht:
42. In the present case the applicant association requested paper copies of all decisions issued by the Commission from 1 January 2000 to mid-2005. It argued in essence that the State had an obligation either to publish all decisions of the Commission in an electronic database or to provide it with anonymised paper copies upon request. The Court does not consider that a general obligation of this scope can be inferred from its case-law under Article 10. However, its task in the present case is to examine whether the reasons given by the domestic authorities for refusing the applicant association’s request were “relevant and sufficient” in the specific circumstances of the case and whether the interference was proportionate to the legitimate aim pursued.
Generelle Ablehnung des Informationszugangs ist jedoch unverhältnismäßig
Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles kommt der EGMR allerdings zum Ergebnis, dass der Zugang hier nicht rundheraus hätte verweigert werden dürfen, denn die NGO hatte einerseits den Ersatz der Kosten angeboten, andererseits handelte es sich bei der Tiroler Landes-Grundverkehrskommission um ein Tribunal, das über "civil rights" zu entscheiden hatte, und dieses Tribunal hatte sich zudem geweigert, überhaupt Entscheidungen zu publizieren. Und schließlich hatte die NGO von allen anderen Grundverkehrsbehörden solche Entscheidungen ohne besondere Probleme bekommen. Vor diesem Hintergrund erwies sich die Verweigerung des Zugangs als unverhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig:
45. The Court notes that the applicant association, by requesting anonymised copies of the Commission’s decisions, accepted that the decisions at issue contained personal data which would have to be removed before the decisions could be made available. It also understood that the production and mailing of the requested copies involved a certain cost, which it proposed to reimburse. Nevertheless, the applicant association’s request met with an unconditional refusal.
46. Given that the Commission is a public authority deciding disputes over “civil rights” within the meaning of Article 6 of the Convention (see, Eisenstecken v. Austria, no. 29477/95, § 20, ECHR 2000-X, with further references), which are, moreover, of considerable public interest, the Court finds it striking that none of the Commission’s decisions was published, whether in an electronic database or in any other form. Consequently, much of the anticipated difficulty referred to by the Commission as a reason for its refusal to provide the applicant association with copies of numerous decisions given over a lengthy period was generated by its own choice not to publish any of its decisions. In this context the Court notes the applicant association’s submission - which has not been disputed by the Government - that it receives anonymised copies of decisions from all other Regional Real Property Commissions without any particular difficulties.
47. In sum, the Court finds that the reasons relied on by the domestic authorities in refusing the applicant association’s request for access to the Commission’s decisions - though “relevant” - were not “sufficient”. While it is not for the Court to establish in which manner the Commission could and should have granted the applicant association access to its decisions, it finds that a complete refusal to give it access to any of its decisions was disproportionate. The Commission, which, by its own choice, held an information monopoly in respect of its decisions, thus made it impossible for the applicant association to carry out its research in respect of one of the nine Austrian Länder, namely Tyrol, and to participate in a meaningful manner in the legislative process concerning amendments of real property transaction law in Tyrol. The Court therefore concludes that the interference with the applicant association’s right to freedom of expression cannot be regarded as having been necessary in a democratic society.
48. There has accordingly been a violation of Article 10 of the Convention.
Abweichende Meinung des Richters Møse
Die Feststellung der Verletzung des Art 10 EMRK erfolgte mit 6:1 Stimmen; der norwegische Richter Erik Møse verfasste eine dissenting opinion. Er hebt darin hervor, dass es im vorliegenden Fall - im Unterschied zum Fall Társaság a Szabadságjogokért - nicht um den Zugang zu einem unmittelbar verfügbaren Dokument ("ready and available") ging, sondern dass die nachgefragten Entscheidungen nicht versandfertig waren. Es ging zudem um mehrere hundert Entscheidungen (die Landes-Grundverkehrskommission hat in den Jahren 2000 bis 2005 jeweils zwischen 65 und 109 Entscheidungen getroffen). Die Grundverkehrskommission hatte auch (hilfsweie) argumentiert, dass die Anonymisierung wesentliche Ressourcen binden und die Erfüllung der Aufgaben der Behörde gefährden würde (vergleiche § 3 Abs 2 Tiroler Auskunftspflichtgesetz: "Die Verpflichtung zur Erteilung von Auskunft besteht nicht, wenn [...] c) die Erteilung der Auskunft Erhebungen, Berechnungen oder Ausarbeitungen erfordern würde, die die ordnungsgemäße Erfüllung der übrigen Aufgaben des Organs erheblich beeinträchtigen würden").

Nach Ansicht des Richters Møse könne das Argument, dass die Erfüllung des Antrags auf Übersendung der anonymisierten Entscheidungen negative Auswirkungen auf die Erfüllung der Aufgaben der Behörde haben könnte, nicht als willkürlich angesehen werden. Nach seiner Ansicht seien daher die Gründe, die für die Ablehnung des Zugangsantrags gegeben worden seien, relevant und ausreichend.

Møse meint auch, dass die NGO nicht ohne jede Möglichkeit gelassen werde, Informationen über die Entscheidungen der Landes-Grundverkehrskommission zu erhalten. Eine gewisse Information sei aus dem Jahresbericht der Landesregierung (!) zu entnehmen. Zudem sei die Landes-Grundverkehrskommission nicht letztentscheidende Behörde; ihre Entscheidungen könnten noch beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden, dessen Entscheidungen üblicherweise eine Zusammenfassung der angefochtenen Entscheidung enthielten. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes wiederum seien im Rechtsinformationssystem des Bundes abrufbar. Daher sei der Eingriff in das Recht der NGO nach Art 10 EMRK auch verhältnismäßig.

Aus meiner Sicht scheinen die zuletzt genannten Argumente nicht tragfähig: die Entscheidungen der Landes-Grundverkehrskommission konnten zwar beim VfGH angefochten werden, aber nur soweit eine Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (oder eine Verletzung in Rechten wegen eines verfassungswidrigen Gesetzes/einer gesetzwidrigen Verordnung) behauptet wurde. In "einfachgesetzlichen" Rechtsfragen war die Kommission daher jedenfalls letztentscheidendes Tribunal. Zudem wurden natürlich bei weitem nicht alle Entscheidungen der Landes-Grundverkehrskommission beim VfGH angefochten, und die Zusammenfassungen in den Entscheidungen des VfGH sind in der Regel auf die für den VfGH entscheidungswesentlichen Fragen konzentriert und bilden damit nicht die ganze Breite der Entscheidungen ab. Und schließlich scheint es mir doch merkwürdig, wenn zur Information für die Entscheidungen eines Tribunals auf Berichte der Landesregierung verwiesen wird, der damit gewissermaßen eine Filter- oder Gatekeeperfunktion zwischen dem Tribunal und der Öffentlichkeit eingeräumt würde.

Kein Verstoß gegen Art 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde)
Die NGO machte auch eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde nach Art 13 EMRK geltend, da der Verfassungsgerichtshof die Beschwerde abgelehnt hatte, obwohl - was für die Ablehnung Voraussetzung wäre - keine Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof zulässig war. Da aber nach einem entsprechenden Antrag der NGO der Verfassungsgerichtshof seinen ersten Beschluss wieder aufgehoben und in der Sache entschieden hat (wenn auch erst nach Einbringung der Beschwerde beim EGMR), sah der EGMR - diesbezüglich einstimmig - keine Verletzung des Art 13 EMRK. Dass das Rechtsmittel inhaltlich nicht erfolgreich war, ändert nichts daran, dass es als "wirksame Beschwerde" im Sinne des Art 13 EMRK anzusehen ist.

Update 29.11.2013: siehe zu diesem Urteil auch Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog und Maximilian Steinbeis auf Verfassungsblog; update 04.12.2013: siehe nun auch Dirk Voorhoof und Rónán Ó Fathaigh auf Strasbourg Observers.
Update 17.12.2013:der EGMR hat nun auch sein "legal summary" veröffentlicht.

*) Das Urteil ist nicht endgültig, innerhalb von 3 Monaten könnte die Verweisung an die Große Kammer beantragt werden.

Tuesday, November 26, 2013

EuGH-Generalanwalt zu Internetsperren: konkrete Sperrverfügung an ISP nicht ausgeschlossen, aber Grundrechtsabwägung notwendig

"An den Grundrechten scheitert die zu prüfende Maßnahme"
Die heute von Generalanwalt Cruz Villalón erstatteten Schlussanträge in der Rechtssache C-314/12 UPC Telekabel Wien sind keineswegs ein Freibrief für Internetsperren, wie dies in ersten Medienreaktionen anklingt. Hervorzuheben ist auch, dass der Generalanwalt ausdrücklich festhält, dass sich ein Provider "dank seiner Funktion, Meinungsäußerungen seiner Kunden zu veröffentlichen und ihnen Informationen zu vermitteln," auf das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung berufen kann. Und schließlich ist nach Ansicht des Generalanwalts bei der Anordnung einer Sperrmaßnahme sicherzustellen, dass keine Gefahr besteht, den Zugang zu rechtmäßigem Material zu sperren.

Im Verfahren vor dem EuGH geht es - aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des Obersten Gerichtshofes - im Kern um die Frage, ob Rechteinhaber gerichtliche Verfügungen gegen Internet Service Provider erwirken können, mit denen diese für ihre Kunden den Zugang zu bestimmten Websites (im Ausangsfall war das kino.to, mittlerweile nicht mehr online) sperren müssen (zum Vorlagebeschluss des OGH und den darin angesprochenen Fragen habe ich im Blog schon ausführlicher hier geschrieben).

Die Antwort des Generalanwalts ist differenziert: nur sehr konkret gefasste Anordnungen können - nach Abwägung der Grundrechtspositionen - zulässig sein. Das im österreichischen Ausgangsverfahren von den Rechteinhabern beantragte allgemeine Verbot, den ISP-Kunden den Zugang zur Website kino.to zu vermitteln, ginge nach Ansicht des Generalanwalts jedenfalls zu weit: An den Grundrechten "scheitert die hier zu prüfende Maßnahme", heißt es in RNr 74 der Schlussanträge.

Vorüberlegungen des Generalanwalts
Generalanwalt Cruz Villalón verweist eingangs (RNr 21) auf den Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen zur Meinungsfreiheit, der den durch das das Internet gewährten Zugang zu Informationen für wesentlich in einer demokratischen Gesellschaft hält, und betont damit die - im Vorlagebeschluss in dieser Form im Vorlagebeschluss des OGH gar nicht angesprochene - Bedeutung des Internets auch für die Grundrecht der freien Meinungsäußerung.

Allerdings biete das Internet auch die Möglichkeit für Urheberrechtsverletzungen, wobei es selten um so flagrante Fälle gehe wie den vorliegenden: auf kino.to waren über 130.000 Filmwerke ohne Zustimmung der Rechteinhaber zum Streaming oder Download verfügbar. Keiner der Verfahrensbeteiligten hielt die auf der Website angebotenen Inhalte für rechtmäßig.

Dass die Sperrung von Websites technisch nicht unproblematisch ist, erkennt der Generalanwalt an, aber dieses Problem kann er auf das nationale Gericht abschieben: "Die technische Analyse der Sperrungsverfügung bleibt dem vorlegenden Gericht vorbehalten." (FN 13 der Schlussanträge)

Internet Service Provider als "Vermittler" im Sinne der RL 2001/29
Die Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft verlangt in ihrem Art 8 Abs 3, dass die Mitgliedstaaten sicher stellen, "dass die Rechtsinhaber gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Schutzrechte genutzt werden."

Strittig war, ob ein ISP Vermittler im Sinne dieser Bestimmung ist, und zwar auch im vorliegenden Fall, in dem er keinerlei Vertragsbeziehung zum Rechteverletzer hatte (also insbesondere nicht dessen illegale Inhalte hostete), sondern schlicht nur seinen Kunden Zugang zum Internet verschaffte, sodass sie auf die anderswo gehosteten illegalen Inhalte zugreifen konnten.

Der Generalanwalt kommt - unter Hinweis auf den Beschluss LSG (im Blog hier und hier) und die Urteile Scarlet Extended (im Blog hier und hier) und Sabam (im Blog hier) - wenig überraschend zum Ergebnis, dass ein ISP auch in diesem Fall als "Vermittler" anzusehen ist: die Norm verlangt nicht explizit nach einer vertraglichen Beziehung zwischen dem Vermittler und der Person, die das Urheberrecht verletzt, und auch Zusammenhang und Sinn und Zweck der Norm lassen nichts anderes erkennen. Dass Art 12 der E-Commerce-Richtlinie 2000/31 die Haftung von ISP bei reiner Durchleitung ("mere conduit") ausschließt, ändert daran nichts, weil dieser Artikel ausdrücklich die Möglichkeit unberührt lässt, dass "ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde nach den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten vom Diensteanbieter verlangt, die Rechtsverletzung abzustellen oder zu verhindern."

Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Zweck der RL 2001/29 - hohes Schutzniveau des Urheberrechts - hält der Generalanwalt übrigens fest, dass der Vermittler gerade im Fall von Inhalten, die im außereuropäischen Ausland online gestellt werden, als geeigneter Ansatzpunkt verbleibt (RNr 57); aber (RNr 58):
Es ist offensichtlich, dass der nicht mit dem das Urheberrecht Verletzenden vertraglich verbundene Vermittler keinesfalls bedingungslos für die Abstellung der Rechtsverletzung verantwortlich gemacht werden kann.
"Erfolgsverbot" bzw Sperrverfügung ohne Angabe der konkret zu treffenden Maßnahmen ist jedenfalls unzulässig
Nach den im innerstaatlichen Verfahren gestellten Anträgen sollte das Gericht dem ISP ganz allgemein verbieten, seinen Kunden den Zugang zu einer bestimmten Website zu ermöglichen, auf der ausschließlich oder doch weit überwiegend Inhalte ohne Zustimmung der Rechteinhaber zugänglich gemacht werden ("Erfolgsverbot": der Adressat der Verfügung muss einen bestimmten Erfolg - nämlich den Zugriff auf die Website - verhindern, ohne dass die hierfür vom Adressat der Verfügung zu ergreifenden Maßnahmen genannt werden). Allerdings könnte der ISP Beugestrafen wegen Missachtung des Verbots durch den Nachweis abwenden, dass er alle zumutbaren Maßnahmen zu dessen Erfüllung ergriffen hat. Der Generalanwalt hält eine derartige Anordnung für nicht mit dem Unionsrecht vereinbar (RNr 71):
Meines Erachtens erfüllt ein Erfolgsverbot ohne Angabe der zu treffenden Maßnahmen, das an einen Provider ergeht, der nicht mit dem Rechteverletzenden vertraglich verbunden ist, nicht die von der Rechtsprechung im Rahmen des Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 aufgestellten Anforderungen. Die Möglichkeit der Geltendmachung der Unzumutbarkeit der zur Erfüllung des Verbots möglichen Maßnahmen im später erfolgenden Vollstreckungsverfahren bewahrt ein solches Erfolgsverbot nicht vor dem Verdikt der Unionsrechtswidrigkeit.
Gemäß Art 3 der Richtlinie 2004/48 müssen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums fair, gerecht, wirksam, verhältnismäßig, abschreckend und nicht unnötig kompliziert oder kostspielig sein, keine unangemessenen Fristen oder ungerechtfertigten Verzögerungen mit sich bringen und so angewendet werden, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist. Andererseits müssen die Maßnahmen ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Rechten und Interessen der Beteiligten herstellen.

Weiter ist Art 15 Abs 1 der RL 2000/31 zu beachten, nach dem Mitgliedstaaten Diensteanbietern keine allgemeine Verpflichtung auferlegen dürfen, die von ihnen übermittelten oder gespeicherten Informationen zu überwachen oder aktiv nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen. Die verfahrensgegenständliche Maßnahme, bei der es um die Sperre einer konkreten Website geht, verstößt nicht gegen Art 15 Abs 1 der RL 2000/31. In RNr 79 der Schlussanträge schreibt der Generalanwalt sodann:
Die zu prüfende Maßnahme verstößt jedoch gegen die grundrechtlichen Anforderungen, die gemäß der Rechtsprechung [Zitat Urteile Scarlet Extended und Sabam] an Anordnungen gemäß Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 zu stellen sind. Insoweit ist die Maßnahme weder "fair und gerecht" noch "verhältnismäßig" im Sinne des Art. 3 der Richtlinie 2004/48. [Hervorhebung hinzugefügt]
Im konkreten Fall ist der Schutz des Grundrechts auf Eigentum, zu dem auch das geistige Eigentum gehört, gegen den Schutz anderer Grundrechte abzuwägen, um so im Rahmen der zum Schutz der Inhaber von Urheberrechten erlassenen Maßnahmen ein angemessenes Gleichgewicht zwischen diesem Schutz und dem Schutz der Grundrechte von Personen, die von solchen Maßnahmen betroffen sind, sicherzustellen. Im Detail schreibt der Generalanwalt (RNr 82):
Auf der Seite des Providers, gegen den eine Maßnahme nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie erlassen wird, ist zunächst eine Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit (Art. 11 der Charta) zu prüfen. In der Sache geht es zwar um Meinungsäußerungen und Information der Kunden der Provider, der Provider kann sich jedoch auf dieses Grundrecht dank seiner Funktion, Meinungsäußerungen seiner Kunden zu veröffentlichen und ihnen Informationen zu vermitteln, berufen [Zitat EGMR 28.09.1999, Öztürk gegen Türkei, Abs 49]). Dabei ist sicherzustellen, dass die Sperrmaßnahme tatsächlich verletzendes Material trifft und keine Gefahr besteht, den Zugang zu rechtmäßigem Material zu sperren [Zitat "zu dem möglichen Kollateralschaden einer Sperrmaßnahme": EGMR 18.12. 2012, Yıldırım gegen Türkei; dazu im Blog hier.].
Mit dem Hinweis auf das Urteil Öztürk des EGMR vergleicht der Generalanwalt ISPs ausdrücklich mit Verlegern und billigt ihnen die selbe Grundrechtsposition im Hinblick auf die Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit (Art 11 GRC bzw Art 10 EMRK) zu. Außerdem anerkennt er durch den Verweis auf das EGMR-Urteil Yıldırım, dass eine Beschränkung des Zugangs zu legalen Inhalten ein Eingriff in das nach Art 11 GRC (Art 10 EMRK) geschützte Recht ist - und damit immer jedenfalls eine gesetzliche Grundlage braucht, einem legitimen Ziel dienen und verhältnismäßig sein muss.

Ergänzend ist auf der Seite des Providers noch dessen unternehmerische Freiheit zu berücksichtigen, die durch Art 16 GRC geschützt wird. Zwischen dem Schutz dieser auf Seiten des Providers geltend zu machenden Rechte und dem Recht des geistigen Eigentums ist ein angemessenes Gleichgewicht herzustellen. Von einem solchen Gleichgewicht lässt sich, so der Generalanwalt, bei einem Erfolgsverbot ohne Angabe der zu treffenden Maßnahmen, das an einen Provider ergeht, nicht sprechen. Auch die "nachgelagerte Verteidigungsmöglichkeit" des ISP, dass er alle zumutbaren Maßnahmen getroffen hat, um dem Erfolgsverbot nachzukommen, kann das nötige Gleichgewicht nicht herstellen, denn das "Gleichgewicht der Grundrechte ist nach der Rechtsprechung beim Erlass der Anordnung zu beachten" (RNr 88). Der Generalwalt spricht hier ausdrückich ein "Dillemma des Providers" an (RNr 89):
Der Provider muss den Erlass einer Anordnung gegen sich erdulden, aus der nicht hervorgeht, welche Maßnahmen er vorzunehmen hat. Entscheidet er sich im Interesse der Informationsfreiheit seiner Kunden für eine wenig intensive Sperrmaßnahme, muss er eine Beugestrafe im Vollstreckungsverfahren fürchten. Entscheidet er sich für eine intensivere Sperrmaßnahme, muss er eine Auseinandersetzung mit seinen Kunden fürchten.
Der Generalanwalt kommt damit zum Ergebnis,
"dass es mit der im Rahmen von Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 erforderlichen Abwägung zwischen den Grundrechten der Beteiligten nicht vereinbar ist, einem Provider ganz allgemein und ohne Anordnung konkreter Maßnahmen zu verbieten, seinen Kunden den Zugang zu einer bestimmten, das Urheberrecht verletzenden Website zu ermöglichen. Dies gilt auch, wenn der Provider Beugestrafen wegen Verletzung dieses Verbots durch den Nachweis abwenden kann, dass er alle zumutbaren Maßnahmen zur Erfüllung des Verbots getroffen hat."
Daher nochmals zusammenfassend: der Generalanwalt hält die im österreichischen Ausgangsverfahren beantragte Sperre ("Erfolgsverbot") für klar grundrechtswidrig.

Konkrete Sperrverfügung ist nicht ausgeschlossen
Allerdings hält der Generalanwalt die Anordnung konkreter Maßnahmen zur Erschwerung des Zugangs zu rechtswidrig zugänglich gemachten Inhalten für nicht ausgeschlossen. Dafür gibt es aber recht detaillierte Voraussetzungen:

Zunächst muss ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Rechts am geistigen Eigentum, den die Inhaber von Urheberrechten genießen, und dem Schutz der grundrechtlichen Positionen des Providers (unternehmerische Freiheit, Freiheit der Meinungsäußerung) hergestellt werden. Dabei "darf insbesondere keine geschützte Information von einer Zugangssperre erfasst werden". Damit kommt meines Erachtens jedenfalls keine Sperrverfügung gegen bestimmte IP-Adressen in Betracht, wenn an dieser Adresse auch legale Inhalte gehostet werden.

Sodann ist - insbesondere im Hinblick auf die Kosten der vom Provider zu treffenden konkreten Sperrmaßnahmen und die Möglichkeit, Sperren zu umgehen - die Verhältnismäßigkeit zu prüfen, was der Generalanwalt anhand der unternehmerischen Freiheit (Art 16 GRC) darlegt (der OGH hat keine auf die Meinungsäußerung und Informationsfreiheit bezogene Frage vorgelegt, was aber nicht heißt, dass der Eingriff in dieses Recht nicht genauso im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit zu prüfen ist).

Eine konkrete Sperrmaßnahme, die mit nicht unbeträchtlichem Aufwand verbunden ist, stellt einen Eingriff in den Schutzbereich des Rechts (nach Art 16 GRC) dar. Die unternehmerische Freiheit ist - so der Generalanwalt unter Hinweis insbesondere auf das Urteil Sky Österreich (siehe im Blog hier) - nicht schrankenlos gewährleistet, sondern im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen und Eingriffen der öffentlichen Gewalt unterworfen, die "im allgemeinen Interesse die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken können". Zu berücksichtigen ist dabei (ua) die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nach dem von Mitgliedstaaten ergriffene Maßnahmen nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastendende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.

Zur Geeignetheit kommt der Generalanwalt zum Ergebnis, dass auch eine Sperrmaßnahme, die ohne größere Schwierigkeiten umgangen werden können, nicht generell ungeeignet ist, um das Ziel des Schutzes der Rechte des Urhebers zu fördern (manche Nutzer werden auf die Umgehung verzichten, manche werden dazu auch nicht in der Lage sein).

Die Erforderlichkeit und Angemessenheit zu überprüfen ist Sache des nationalen Gerichts. Diesem will der Generalanwalt aber einige Erwägungen an die Hand geben; das soll aber keine "abschließende Liste der abzuwägenden Gesichtspunkte" darstellen:
  • Die Möglichkeit der Umgehung einer angeordneten Sperrverfügung steht nicht grundsätzlich jeder Sperrverfügung im Wege, aber die quantitative Einschätzung des vorhersehbaren Erfolgs der Sperrmaßnahme ist ein in die Abwägung einzubringender Gesichtspunkt.
  • Komplexität, Kosten und Dauer der Maßnahme sind in die Abwägung mit einzubeziehen:
"Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich höchstwahrscheinlich nicht um eine einmalige Sperrmaßnahme gegen die Beklagte handeln wird. Vielmehr muss das abwägende Gericht davon ausgehen, dass es sich um einen Testfall handeln kann und in Zukunft zahlreiche ähnliche Fälle gegen jeden Provider vor den nationalen Gerichten behandelt werden können, so dass es zu zahlreichen ähnlichen Sperrverfügungen kommen kann. Sollte sich eine konkrete Maßnahme insoweit angesichts ihrer Komplexität, Kosten und Dauer als unverhältnismäßig erweisen, ist zu erwägen, ob durch eine teilweise oder vollständige Übernahme der Kostenlast durch den Rechteinhaber die Verhältnismäßigkeit hergestellt werden kann."
  • Der Urheber muss vorrangig, insoweit dies möglich ist, unmittelbar die Betreiber der rechtswidrigen Website oder deren Provider in Anspruch nehmen.
  • Die unternehmerische Betätigung eines Providers - also die geschäftliche Tätigkeit, Internetzugänge zur Verfügung zu stellen - darf als solche nicht in Frage gestellt werden. Ein Provider kann sich insoweit auch auf die gesellschaftliche Bedeutung seiner Tätigkeit berufen: der durch das Internet gewährte Zugang zu Informationen gilt als wesentlich in einer demokratischen Gesellschaft.
Der Generalanwalt kommt damit zum Ergebnis, dass eine gegen einen Provider verhängte konkrete Sperrmaßnahme bezüglich einer konkreten Website nicht allein deswegen prinzipiell unverhältnismäßig ist, weil sie einen nicht unbeträchtlichen Aufwand erfordert, aber ohne besondere technische Kenntnisse leicht umgangen werden kann.

Conclusio: Kein "Freibrief" für Internetsperren
Meines Erachtens läst aus den Schlussanträgen des Generalanwalts keineswegs ein Freibrief für Internetsperren aller Art ableiten - eher im Gegenteil (immer vorausgesetzt natürlich, dass der EuGH der Rechtsansicht des Generalanwalts folgt). Denn zusätzlich zum bereits durch die Rechtsprechung (insbesondere im Urteil Scarlet Extended) gefestigten Grundsatz, dass einem ISP keine allgemeine Filterpflicht auferlegt werden darf, ist nach Ansicht des Generalanwalts auch ein allgemeiner Auftrag an einen Provider (ohne Anordnung konkreter Maßnahmen), seinen Kunden den Zugang zu einer bestimmten - Urheberrechte verletzenden - Website zu ermöglichen, grundrechtswidrig. Eine zulässige Sperrverfügung müsste daher die konkreten Maßnahmen festlegen, die der Provider zu treffen hat, und sie müsste einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten.

Folgt man dem Generalanwalt, dann kann man die Ausgangslage für die Verhältnismäßigkeitsprüfung grob etwa so zusammenfassen: Je leichter eine Maßnahme zu umgehen ist, je komplizierter sie umzusetzen ist, je länger sie aufrechterhalten wird, desto eher wird sie unverhältnismäßig sein; je teurer die Maßnahme kommt (und je öfter solche Maßnahmen beantragt/erlassen werden), desto eher wird die Rechteinhaber in die Pflicht zu nehmen sein (das heißt: er müsste für die Kosten der Maßnahme aufkommen); und eine Maßnahme gegen einen - nicht an der Rechtsverletzung beteiligten - ISP wird überhaupt nur dann verhältnismäßig sein, wenn die Rechtsverfolgung gegenüber dem Betreiber der rechtswidrigen Website (und dessen Hoster) nicht zumutbar ist.

Update 27.11.2013: eine gute - und viel knappere - Zusammenfassung wichtiger Punkte aus den Schlussanträgen findet sich auf Hut'ko's Technology Law Blog.
Außerdem: ein Beitrag in italienischer Sprache zu diesen Schlussaträgen von Marco Bellezza auf medialaws.eu, ein Beitrag auf The 1709 Blog und auf IPKat.
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PS: Generalanwalt Cruz Villalón schreibt auch die Schlussanträge in den Verfahren zur Vorratsdatenspeicherung, die am 12.12.2013 veröffentlicht werden.

Tuesday, November 19, 2013

Gibt Art 10 EMRK ein Recht auf Zugang zu (anonymisierten) Behördenentscheidungen? EGMR-Urteil zu österreichischem Fall am 28. 11.

Lässt sich aus dem in Art 10 EMRK verbrieften Recht auf freie Meinungsäußerung auch ein Recht auf Zugang zu Informationen öffentlicher Stellen ableiten? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dies - insbesondere im Urteil Társaság a Szabadságjogokért gegen Ungarn (siehe dazu im Blog hier) - grundsätzlich anerkannt. Dieses Zugangsrecht kann allerdings eingeschränkt werden, etwa zum Schutz der Rechte Dritter oder aus Gründen der nationalen Sicherheit (siehe die Nichtzulassungsentscheidung Sdružení Jihočeské Matky gegen Tschechische Republik). Keinen Anspruch auf Informationszugang sah der EGMR in Fällen, in denen die nachgefragten Informationen von der ersuchten öffentlichen Stelle erst beschafft werden müssten (Urteil Guerra ua gegen Italien: keine positiven Verpflichtungen des Staates, von sich aus Informationen zu sammeln und zu verbreiten).

Der österreichische Verfassungsgerichtshof - der Art 10 EMRK als nationales Verfassungsrecht judiziert - hat hingegen in seiner Rechtsprechung einen Anspruch auf Informationszugang bislang nicht anerkannt (siehe dazu zuletzt im Blog näher hier). Zum Antrag einer NGO "auf Übermittlung anonymisierter Ausfertigungen von Bescheiden der [Tiroler] Landes-Grundverkehrskommission, die von dieser seit 1. Jänner 2000 erlassen wurden" hat der Verfassungsgerichtshof vor knapp zwei Jahren ausdrücklich wieder die Ansicht vertreten, "dass aus Art 10 EMRK keine Verpflichtung des Staates resultiert, den Zugang zu Informationen zu gewährleisten" (02.12.2011, B 3519/05, VfSlg 19.571/2011).

Wie der EGMR diesen Fall beurteilt, wird er in dem für 28.11.2013 angekündigten Urteil über die Beschwerde der Österreichischen Vereinigung zur Erhaltung, Stärkung und Schaffung eines wirtschaftlich gesunden land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes gegen Österreich (no. 39534/07) darlegen.

 Das "statement of facts" des EGMR zu diesem Fall warf unter anderem die Frage auf, in welchem Umfang die Aufgaben und Verpflichtungen, die sich aus den Aktivitäten der NGO ergeben, für ihren Anspruch und den Beurteilungsspielraum des Konventionsstaates relevant sind ("[...] to what extent are the duties and responsibilities inherent in the applicant association's activities relevant to its claim and the State's margin of appreciation in this field?"). Damit ist auch eine mögliche "social watchdog"-Funktion der NGO angesprochen, die sich mit der Erforschung des land- und forstwirtschaftlichen Grundverkehrs und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft befasst (womit - im Sinne des Urteils  Társaság a Szabadságjogokért [Abs 27] - wohl auch das Ziel einer "informed public debate" verfolgt wird).

Man kann gespannt sein, ob der EGMR diesen Fall eher - im Sinne des Urteils Guerra - als einen beurteilt, in dem die Behörde die Informationen erst - wegen der erforderlichen Anonymisierung - beschaffen hätte müssen, oder ob die Abwägung zugunsten der NGO als wissenschaftlicher Organisation oder "social watchdog" ausgeht und eine positive Verpflichtung des Staates zur Informationsbereitstellung angenommen wird. In jedem Fall könnte das Urteil des EGMR wichtige Anstöße für das österreichische Auskunftspflichtrecht geben, dessen Weiterentwicklung zu einem Informationsfreiheitsgesetz oder "Transparenzgesetz" ja schon vor der Wahl Thema war.

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Für österreichische JuristInnen ist der nun zur Entscheidung stehende Fall übrigens auch aus anderen Gründen bemerkenswert:

Die Tiroler Landes-Grundverkehrskommission hatte in ihren Bescheid, mit dem das Auskunftsersuchen der NGO abgewiesen wurde, den Hinweis aufgenommen, dass dagegen die Beschwerde sowohl an den Verwaltungsgerichtshof als auch an den Verfassungsgerichtshof zulässig sei. Das war hinsichtlich des VwGH falsch, denn die (mittlerweile aufgelöste) Tiroler Landes-Grundverkehrskommission war eine sogenannte "Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag" nach Art 133 Z 4 B-VG, gegen deren Bescheid eine Beschwerde an den VwGH nur zulässig war, wenn dies gesetzlich ausdrücklich angeordnet wurde, was jedoch nicht der Fall war. Die von der NGO erhobene Beschwerde an den VwGH wurde daher auch mit Beschluss vom 21.09.2006, 200/02/0311, zurückgewiesen.

Der VfGH, an den ebenfalls Beschwerde erhoben wurde, lehnte die Behandlung der Beschwerde aber dennoch mit Beschluss vom 27.02.2007 (vorerst) ab - was nach Art 144 Abs 2 B-VG unzulässig ist, wenn es sich (wie hier) um einen Fall handelt, der nach Art 133 Z 4 B-VG von der Zuständigkeit des VwGH ausgeschlossen ist.

Auf Antrag der NGO hat der VfGH schließlich mit Erkenntnis vom 02.12.2011, KI-2/10, seinen Beschluss vom 27.02.2007 aufgehoben und ausgesprochen, dass der VfGH nicht berechtigt war, die Beschwerde abzulehnen. Da er damit aber wieder zur Entscheidung verpflichtet war, hat er sodann inhaltlich über die Beschwerde entschieden und mit dem oben bereits zitierten Erkenntnis vom 02.12.2011, B 3519/05, VfSlg 19.571/2011, die Beschwerde abgewiesen.

Dieses Erkenntnis erging erst nach Einbringung der Beschwerde beim EGMR und es bleibt abzuwarten, wie der EGMR damit umgeht. Die von der NGO auch geltend gemachte Verletzung des Art 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde), da weder VwGH noch VfGH inhaltlich auf die Beschwerde eingegangen waren, könnte damit vom Tisch sein. Für die Frage, ob eine Verletzung des Art 10 EMRK vorliegt, wird wohl auch das nach Beschwerdeeinbringung ergangene Erkenntnis des VfGH noch berücksichtigt werden.

Update 28.11.2013: siehe zum Urteil des EGMR (Verletzung des Art 10 EMRK, keine Verletzung des Art 13 EMRK nun im Blog hier).

Sunday, November 03, 2013

"Staatsferne" des Rundfunks - Anmerkungen aus aktuellen Anlässen

1. Deutscher Mythos "Staatsferne des Rundfunks"
Am kommenden Dienstag, 5.11.2013, verhandelt das deutsche Bundesverfassungsgericht über einen Mythos, den es im Wesentlichen selbst geschaffen und - gegen jede Evidenz - in einer Reihe von Entscheidungen über die Jahre hindurch aufrechterhalten hat: die "Staatsfreiheit" (oder "Staatsferne") des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Ausgerechnet zwei Länder (Rheinland-Pfalz und Hamburg) haben Normenkontrollanträge gestellt, mit denen sie den ZDF-Staatsvertrag angreifen, da sowohl Fernseh- als auch Verwaltungsrat des ZDF nicht ausreichend "staatsfern" seien.

Juristisch habe ich das jetzt natürlich sehr vereinfacht und notwendig unpräzise zusammengefasst, denn in der wunderbaren Welt der deutschen Rundfunkrechtsordnung müssen ja die Länder untereinander einen Staatsvertrag aushandeln, damit es ein deutschlandweites öffentlich-rechtliches Fernsehprogramm geben kann - und diesem Staatsvertrag (und jeder Änderung des Staatsvertrags) müssen sie dann auch durch Zustimmungsgesetze oder Zustimmungsbeschlüsse Wirksamkeit in ihren Ländern verleihen. Der Normenkontrollantrag der Regierung des Landes Rheinland-Pfalz muss daher erst einmal auf eineinhalb Seiten aufzählen, gegen welche konkreten landesrechtlichen Regelungen er sich richtet.

Das deutsche Rundfunkrecht ist aber nicht nur eine Blüte des mit viel Liebe gepflegten Föderalismus, sondern auch des mit noch mehr Liebe gepflegten juristischen Phrasenschnitzens und Schwurbelns. Je weniger eine Norm textlich hergibt (und Art 5 GG sagt zur Rundfunkorganisation ja gar nichts, sondern gewährleistet nach seinem Wortlaut nur die "Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk"), desto mehr Entfaltungsmöglichkeit besteht für formulierungsbegabte JuristInnen mit Gestaltungswillen, wie die Rundfunkurteile des Bundesverfassungsgerichtes belegen (siehe im Blog etwa zum Urteil aus 2007 hier).

Und schon aus Ehrfurcht vor dem Bundesverfassungsgericht kann auch der Verfasser des Normenkontrollantrags sein Anliegen natürlich nicht in einfachen Worten vorbringen, sondern formuliert zunächst einmal so:
"Der geltend gemachte Verstoß gegen die Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) liegt zentral in einer Verfehlung des Gebotes funktionsadäquater Staats- und Gruppenferne zum Rundfunk im Hinblick auf den Fernsehrat und den Verwaltungsrat des ZDF."
Für alle, die nicht den ganzen Normenkontrollantrag lesen wollen, fasst das Bundesverfassungsgericht kurz zusammen, worum es darin geht: "Die Antragsteller machen im Wesentlichen geltend, dass sich in den beiden Aufsichtsgremien ein zu großer Anteil von Staatsvertretern und staatsnahen Personen befinde". Instruktiv ist auch die vorgesehene Gliederung der mündlichen Verhandlung (hier, am Ende), in der zum Schluss auch "Praxistaugliche Möglichkeiten zur Änderung der Regelungen" erörtert werden sollen.

Ich habe ohnehin nie verstanden, wie man - angesichts einer Realität, in der zB Ministerpräsidenten der deutschen Länder Mitglieder entscheidender Gremien öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten sein können (und sind) - mit ernstem Gesicht von "Staatsferne" in der deutschen Rundfunkordnung sprechen konnte. Insofern ist der Begriff einer "funktionsadäquaten Staats- und Gruppenferne" sicher besser geeignet, denn da bleibt zumindest offen, wie weit der Staat vom Rundfunk tatsächlich entfernt sein muss, um dessen Funktion "adäquat" zu sein, sie also nicht zu stören. Wir werden sehen, welche Entfernung das Bundesverfassungsgericht da als grundgesetzlich gegeben ausmessen wird.


2. Staatsferne des Rundfunks in Österreich?
Für Österreich hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (die am Dienstag noch nicht fallen wird) unmittelbar keine Bedeutung - aber wenn die kommende Bundesregierung sich daranmacht, die schon wegen des VfGH-Erkenntnisses zur Wahl des Publikumsrates notwendige Reform der ORF-Gremien in Angriff zu nehmen, wird man sicher auch berücksichtigen, was das deutsche BVerfG so zur "Staatsferne" entscheidet.

Ich habe zur österreichischen Version der Staatsfreiheit des Rundfunks schon vor einigen Jahren ausführlicher geschrieben (hier - ich finde, das kann man heute immer noch lesen). Damaliger Anlass war eine völlig überraschende Veränderung in der kaufmännischen Direktion des ORF, die natürlich nichts mit der knapp zuvor erzielten politischen Einigung auf die (befristete) "Gebührenrefundierung" zu tun hatte. Mein Ergebnis damals: "So staats- und politikfern wie in Deutschland ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Österreich also allemal."

ORF-Generaldirektorin auf Wunsch des Bundeskanzlers
Dass es mit der Staatsferne tatsächlich auch in Österreich nicht allzu weit her ist (oder zumindest: war), bestätigt nun auch die frühere ORF-Generaldirektorin und nunmehrige Nationalratsabgeordnete Astrid Monika Eder-Lindner, die ihren Aufstieg zur Generaldirektorin wie folgt schildert:
"Irgendwann hat mich der Erwin Pröll zu sich eingeladen und gesagt, Du, es kann sein, dass Dich der Schüssel fragt, ob Du nach Wien gehen willst." Der Anruf von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel kam laut Lindner knapp vor der Wahl im ORF-Stiftungsrat. "Ich habe ja gesagt. Und am nächsten Tag wurde ich über Hintertreppen ins Bundeskanzleramt eingeschleust. Damit mich ja niemand sieht, sonst wäre das gleich in der Zeitung gestanden."
Mit anderen Worten: der Landeshauptmann kündigte der ORF-Landesdirektorin an, dass der Bundeskanzler sie zur ORF-Generaldirektorin machen wolle - und das, nachdem mit der großen Rundfunkrechtsnovelle 2001 angeblich eine Entpolitisierung des ORF erfolgen sollte ("Kernstück der Reform ist die Entpolitisierung", meinte zB ÖVP-Klubobmann Andreas Khol). Dass Eder-Lindner auch ihre Bestellung zur Landesintendantin dem - nach ihrer Schilderung offenbar mühsam errungenen - Wohlwollen des Landeshauptmanns verdankt, rundet das Bild des "staatsfernen" öffentlich-rechtlichen Rundfunks nur ab (formal hatte der Landeshauptmann damals keine Mitwirkungsbefugnis; nach der aktuellen Rechtslage - § 23 Abs 2 Z 3 ORF-G - muss der Generaldirektor vor der Erstattung von Vorschlägen für LandesdirektorInnen eine Stellungnahme des betroffenen Landes einholen, die freilich - rechtlich - nicht bindend ist).

Die "staatsferne" Art der Bestellung von Leitungsfunktionen, wie sie Eder-Lindner nun auch selbst schildert, liegt allerdings weniger in der Verantwortung jener, die in die Funktion berufen werden; verantwortlich dafür sind vor allem die Organmitglieder des für die Bestellung zuständigen Organs - konkret also die Mitglieder des Stiftungsrates, wenn diese mehrheitlich zulassen bzw in Kauf nehmen, dass ihnen die Entscheidung von der Politik aus der Hand genommen wird.

Vom Bundeskanzler ausgesucht - und mehr als der Bundeskanzler verdient
"Geldgier ist mir zu banal", sagte NAbg. Eder-Lindner in einem Zeitungsinterview im Zusammenhang mit ihrem Einzug in den Nationalrat, und das muss man ihr wohl glauben. Immerhin ist ihr aktuelles Einkommen samt den Bezügen aus der Abgeordnetentätigkeit nämlich deutlich geringer als jenes, das sie als ORF-Generaldirektorin erhielt.

Anders als die Bezüge des aktuellen Generaldirektors, um die der ORF in seinen Jahresabschlüssen (rechtlich zulässig: § 241 Abs 4 UGB bzw § 266 Z 7 UGB) ein Geheimnis macht, sind die Bezüge seiner Vorgängerin durch einen Rechnungshofbericht (S. 139 ff) vergleichsweise gut dokumentiert: demnach erhielt die Generaldirektorin ein Jahresgehalt von zuletzt (2006) € 348.000, dazu kamen noch Bonifikationen von höchstens 15% (wenn ich den RH-Bericht auf Seite 143, 2. Absatz, richtig verstehe, wurde de facto dieser Höchstsatz auch gezahlt), sowie schließlich eine Abfertigung von 12 Monatsgehältern. Mit knapp 400.000 € bezog die Generaldirektorin damit nicht nur weit mehr als der Bundeskanzler, sie war auch im internationalen Vergleich nicht unterbezahlt: die Bezüge der Chefs der deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten liegen teils deutlich darunter (seit wenigen Jahren legen die meisten Anstalten - ausgenommen der Hessische Rundfunk - diese Bezüge offen; siehe zB die Darstellung im Handelsblatt; auch inklusive Nebenverdiensten kommt demnach keiner der Intendanten aktuell auf mehr als 400.000 €, Spitzenverdiener ist - laut Spiegel - Tom Buhrow mit 367.232 €).*)


3. "Staatsferne" Abberufung des ORF-Generaldirektors?
Weil Überlegungen zu einer Neugestaltung der ORF-Spitze jetzt wieder durch die Zeitungen gehen: wenn man den Generaldirektor abberufen möchte, so würde der rechtlich vorgesehene Weg über einen Beschluss des Stiftungsrates nach § 22 Abs 5 ORF-Gesetz gehen, wofür eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Dabei muss man zwischen der Abberufung aus der Organfunktion und der Vertragsauflösung unterscheiden, sodass bei vorzeitiger Abberufung wohl die vertraglichen Ansprüche weiter bezahlt bzw abgefunden werden müssten (wie dies im Detail aussieht, darüber könnte man nur spekulieren, da der Vertrag nicht öffentlich ist). Die Stiftungsratsmitglieder sind bekanntlich weisungsungebunden, ihre Entscheidung wäre also genauso staatsfern oder -nah wie jede ihrer sonstigen Entscheidungen.

Alternativ dazu könnte der Generaldirektor natürlich auch mit einer Novelle zum ORF-Gesetz von seiner Funktion abberufen werden. Ich würde das derzeit zwar eher nicht erwarten, aber die Sorge ist offenbar so groß, dass die Verteidigungsstellungen schon aufgebaut werden, diesmal auch mit ungewöhnlichen Argumenten:

Und wie teuer wäre das?
"Eine vorzeitige Ablöse der ORF-Geschäftsführung und -Direktoren könnte den öffentlich-rechtlichen Sender bis zu acht Millionen Euro an Abschlagszahlungen kosten", habe Wrabetz erklärt, schreibt die APA unter Bezugnahme auf ein Wrabetz-Interview in "Österreich". In diesem Interview lautet die Passage (auf der Website) so:
... Wie viel würde die Ablöse insgesamt kosten? Man hört von 8 Millionen?
Wrabetz: Mit dem gesamten Team käme es in diese Größenordnung."
Dass der Generaldirektor darauf hinweist, wie teuer es wäre, ihn - mit "dem gesamten Team" - loszuwerden, ist für mich neu und angesichts der in Österreich gern und lustvoll geführten Neiddebatten (siehe gerade jetzt auch im Zusammenhang mit NAbg. Eder-Lindner) auch durchaus mutig, da er damit seine Bezüge - und die seines Teams - zum Diskussionsgegenstand macht.

Wieviel der Generaldirektor derzeit verdient (und wie teuer daher gegebenenfalls seine alleinige Ablöse käme) ist - wie erwähnt - nicht öffentlich. Nach dem bereits zitierten Rechnungshofbericht aus 2009 (S. 140) betrug sein Jahresgrundgehalt im Jahr 2007 349.000 € (zuzüglich Bonifikationen von höchstens 15%), wobei eine Inflationsanpassung mit einem Schwellwert von 3% vereinbart wurde. Nach der Neubestellung Ende 2011 für die Funktionsperiode 2012 bis 2016 war aber ein neuer Vertrag abzuschließen - die Dimensionen werden sich wohl nicht wesentlich verändert haben.

Mit dem "gesamten Team", desse Ablösung er in den Raum stellte, dürfte Wrabetz offenbar die vier DirektorInnen und auch die neun LandesdirektorInnen meinen (diese könnten vom Stiftungsrat aber nur auf Vorschlag des Generaldirektors abberufen werden). Geht man vom letzten Einkommensbericht des Rechnungshofs (S. 198) aus -, so käme man für das "gesamte Team" mit DirektorInnen und LandesdirektorInnen auf der Basis der Werte von 2010 für ein Jahr auf einen Betrag von ca. 4 Mio €. Das würde nahelegen, dass den angenommenen Kosten von 8 Mio € eine Abschlagszahlung im Umfang von (nur) zwei Jahresbezügen (die Funktionsperiode dauert noch bis Ende 2016) zugrunde liegen dürfte.

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*) Weil ich den Rechnungshofbericht schon zitiert habe, möchte ich zur Ergänzung auch noch auf diesen Blog-Beitrag zum Thema Qualitätssicherungssystem hinweisen.