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Monday, December 01, 2014

Telekomrecht: Streit um Mobilterminierungsentgelte bald vor dem EuGH?

Eine "Schieflage bei Terminierungsentgelten in Europa" ortete der österreichische Telekom-Regulator vor kurzem in einer Pressemitteilung. Ungewöhnlich direkt wirft die österreichische Regulierungsbehörde darin ihrer deutschen Schwesterbehörde (Bundesnetzagentur) vor, die europäischen Vorschriften nicht einzuhalten, und sie fordert die Europäische Kommission auch gleich auf, "diese Schieflage zwischen den Terminierungsentgelten von Deutschland und Österreich zeitnah und nachhaltig" zu beseitigen.

Kommission leitet Phase II-Untersuchung zur deutschen Mobilterminierung ein
Die Europäische Kommission hätte die Aufforderung wohl nicht gebraucht, ihre kritische Haltung zum deutschen Alleingang in Sachen Terminierungsentgelten ist schon aus früheren Verfahren nach Artikel 7 bzw 7a der Rahmenrichtlinie hinreichend bekannt. Nun hat sie mit Beschluss vom 21.11.2014 in einem weiteren Verfahren (DE/2014/1666-1667) wiederum "serious doubts" (erhebliche Zweifel) angemeldet, weil ihrer Ansicht nach die vorgesehene Maßnahme der deutschen Regulierungsbehörde Hemmnisse für den Binnenmarkt schaffen würde (siehe dazu auch die Pressemitteilung der Kommission).

Die Bundesnetzagentur richtet sich in ihrer Entscheidung nämlich nicht nach der Empfehlung 2009/396/EG der Kommission vom 7. Mai 2009 über die Regulierung der Festnetz- und Mobilfunk-Zustellungsentgelte (Terminierungsempfehlung), in der die Kommission die Anwendung der "pure BU-LRIC" Kostenrechnungsmethode empfiehlt - im Wesentlichen also eine Festsetzung der Terminierungsentgelte anhand der reinen langfristigen inkrementellen Kosten, wie sie in einem Bottom-Up-Modell errechnet werden (siehe dazu näher den Anhang zur Terminierungsempfehlung). Die Bundesnetzagentur verwendet dagegen ein sogenanntes "LRIC plus"-Modell, bei dem entgegen Punkt 6 der Terminierungsempfehlung verschiedene verkehrsunabhängige Kosten bei der Festlegung des Terminierungsentgelts zusätzlich berücksichtigt werden. Dies führt dazu, dass die Terminierungsentgelte nach dem deutschen Maßnahmenentwurf wesentlich höher sind als zB jene in Österreich. Auf die negativen Folgen für (unter anderem) österreichische Betreiber weist die Kommission in ihrem Beschluss deutlich hin:
Die Tatsache, dass sich benachbarte Länder wie Polen, Österreich und Frankreich an die Zustellungsentgelte-Empfehlung halten und eine reine BU-LRIC-Methode anwenden – wodurch die MTR nur rund halb so hoch sind wie die deutschen MTR –, führt zu einem erheblichen Nettotransfer von Einnahmen aus der Anrufzustellung, der zu Lasten der Betreiber in diesen Ländern geht. Allein für Österreich besagen Schätzungen beispielsweise, dass die österreichischen Mobilfunkbetreiber den deutschen Betreibern in den kommenden zwei Jahren rund 12 Mio. EUR zu viel zahlen werden, wenn die BNetzA ihren Beschluss annimmt, was sich sehr negativ auf die Investitionsmöglichkeiten der österreichischen Betreiber beim Netzausbau auswirken wird
Wie geht es weiter?
Der Beschluss der Kommission über die Einleitung der Phase II im Verfahren nach Art 7 der Rahmenrichtlinie bedeutet zunächst einmal nur, dass die Bundesnetzagentur drei Monate lang diese Maßnahme nicht verabschieden darf. Inzwischen wird eine Stellungnahme von BEREC eingeholt (zuletzt teilte BEREC die erheblichen Zweifel der Kommission bei den deutschen Mobilterminierungsentgelten) und nach Ablauf der drei Monate hat die Kommission dann noch ein Monat Zeit, um eine Empfehlung abzugeben. Alles andere als die Empfehlung, den Maßnahmenentwurf abzuändern oder zurückzuziehen, wäre eine Sensation; ebenso unrealistisch ist es allerdings auch, ein Einlenken der deutschen Bundesnetzagentur zu erwarten.

Insofern stellt sich die Frage, was die Kommission gegen das hartnäckige Ignorieren ihrer Empfehlungen unternehmen könnte. Wie ein Mitarbeiter der Kommission beim Salzburger Telekom-Forum 2012 erzählte (siehe im Blog dazu hier), stand im Fall der Niederlande, wo ein Gericht - nach Ansicht der Kommission zu unrecht - die Empfehlung nicht berücksichtigt hatte, eine Klage wegen Vertragsverletzung im Raum. Es ist anzunehmen, dass die Kommission ein derartiges Vorgehen auch gegen Deutschland prüfen wird.

Niederländische Vorlage an den EuGH zu Mobilterminierungsentgelten
Wahrscheinlich aber wird die Frage, wieweit man von der Terminierungsempfehlung abweichen kann, ohne damit schon ein unzulässiges Hemmnis für den Binnenmarkt zu schaffen, schon bald einen anderen Weg zum EuGH finden. Das niederländische College van Beroep voor het bedrijfsleven, in derartigen Angelegenheiten letzte Instanz, hat den Parteien in einem bei ihm anhängigen Verfahren über Mobilterminierungsentgelte nämlich mitgeteilt, dass es überlege, dem EuGH einige Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Das könnte - gerade im Hinblick auf die turbulente Vorgeschichte der niederländischen Mobilterminierungsregulierun (siehe dazu nochmals hier, bei den Erfahrungen mit Art 7a-Verfahren) - auch zu einer gewissen Entspannung zwischen der Kommission und der niederländischen Gerichtsbarkeit führen - vor allem aber auch endlich zur Klärung interessanter Fragen im Zusammenhang mit der Empfehlung.

Das College van Beroep voor het bedrijfsleven (CBb) wird voraussichtlich fragen, ob eine nationale Regulierungsbehörde bzw ein nationales Gericht, wenn sie über eine Verpflichtung zur Preiskontrolle im Sinne des Art 13 der Zugangsrichtlinie entscheiden, von der Terminierungsempfehlung, die einen "pure BU-LRIC"-Ansatz verfolgt, abweichen darf, wenn dies wegen der Umstände des Falles oder nationalem Recht für erforderlich erachtet wird. Wenn dies bejaht wird, will das CBb auch wissen, ob das Gericht berücksichtigen kann, dass (ob?) die Auswirkungen auf den Binnenmarkt minimal sind, sowie ob das Gericht prüfen kann, ob "pure BULRIC" im Hinblick auf die Regulierungsziele nach Art 8 der Rahmenrichtlinie verhältnismäßig ist.

Noch bleibt abzuwarten, ob diese Fragen tatsächlich vorgelegt werden. Da sie bereits mit den Parteien des Verfahrens erörtert wurden, halte ich einen Rückzieher des CBb aber für sehr unwahrscheinlich. Die Entscheidung des CBb dürfte noch dieses Jahr, spätestens aber Anfang 2015, fallen. Legt das CBb seine Fragen dem EuGH vor, könnte der EuGH auch wichtige Hinweise für den Streit zwischen Kommission, BEREC und deutscher Regulierungsbehörde zu den deutschen Terminierungsentgelten geben, sodass sich ein Vertragsverletzungsverfahren vielleicht erübrigen könnte.
Update 04.03.2015: Mittlerweile hat das CBb seine Fragen vorgelegt: hier der Vorlagebeschluss (in niederländischer Sprache); die Sache ist unter C-28/15 Koninklijke KPN ua beim EuGH anhängig.

Sunday, November 23, 2014

EuGH: dänisches Teleklagenævn ist kein vorlageberechtigtes Gericht (und was das für österreichische Verwaltungsgerichte bedeuten könnte)

Das Teleklagenævn ist eine unabhängige Telekommunikations-Beschwerdekommission in Dänemark, die aus sieben Mitgliedern besteht und über Beschwerden gegen Entscheidungen der dänischen Regulierungsbehörde entscheidet. Die Entscheidungen sind verbindlich, können aber vor Gericht angefochten werden.

Der dänische Universaldienstbetreiber TDC hatte eine Entscheidung der Regulierungsbehörde über die Finanzierung von zusätzlichen Universaldienstpflichten vor das Teleklagenævn gebracht. Das Teleklagenævn - das sich als unabhängiges Tribunal versteht und der Meinung war, damit auch ein vorlageberechtigtes Gericht im Sinne des Art 267 AEUV zu sein - richtete daraufhin eine Reihe von Fragen zur Auslegung der Universaldienstrichtlinie an den Europäischen Gerichtshof.

Der EuGH hat sich mit diesen Fragen in seinem Urteil vom 09.10.2014, C-222/13, TDC A/S, nicht mehr auseinandergesetzt, weil er zum Ergebnis kam, dass das Teleklagenævn gar kein vorlageberechtigtes Gericht ist - weil es das dafür notwendige Kriterium der Unabhängigkeit nicht erfüllt.

Für diesen Befund führt der EuGH zunächst ins Treffen, dass die Mitglieder des Teleklagenævn vom Minister ihres Amtes enthoben werden können; dabei kommen ausschließlich die allgemeinen Regeln des Verwaltungs- und des Arbeitsrechts zur Anwendung, nicht aber das für die Abberufung von Richtern vorgesehene Verfahren. Die Abberufung der Mitglieder des Teleklagenævn sei daher "offenkundig nicht mit besonderen Garantien verbunden, die es ermöglichen würden, jeden berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit dieser Einrichtung auszuräumen".

Ein Gericht, das seine Entscheidung vor einem anderen Gericht verteidigen muss, ist nicht unabhängig
Bemerkenswert ist aber der zweite Grund, weshalb laut EuGH - "im Übrigen" - das Teleklagenævn nicht unabhängig ist (Rn 37):
Wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, kann gegen Entscheidungen des Teleklagenævn im Übrigen Klage bei den ordentlichen Gerichten erhoben werden. Wird eine solche Klage erhoben, ist der Teleklagenævn Beklagter. Diese Beteiligung des Teleklagenævn an einem Verfahren, in dem seine eigene Entscheidung in Frage gestellt wird, bedeutet, dass er beim Erlass dieser Entscheidung im Verhältnis zu den beteiligten Interessen nicht die Eigenschaft eines Dritten hatte und nicht die erforderliche Unparteilichkeit besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil RTL Belgium, EU:C:2010:821, Rn. 47). Diese Organisation der Rechtsbehelfe gegen eine Entscheidung des Teleklagenævn macht somit deutlich, dass die Entscheidungen dieser Einrichtung keinen gerichtlichen Charakter aufweisen (vgl. entsprechend Beschluss MF 7, C‑49/13, EU:C:2013:767, Rn. 19). [Hervorhebung hinzugefügt]
Mit anderen Worten: dass das Teleklagenævn im gerichtlichen Verfahren dann Beklagter ist (in Österreich würden wir "belangte Behörde" sagen), führt dazu, dass es nicht mehr als unabhängig angesehen werden kann. Logisch: denn wenn das Teleklagenævn die eigene Entscheidung verteidigt, die von einer von zumindest zwei Parteien des Verfahrens angegriffen wird, stellt es sich gewissermaßen auf die Seite der anderen Verfahrenspartei(en) - eine Rolle, die einem unabhängigen Gericht eben nicht zukommt.

Und was hat das mit den österreichischen Verwaltungsgerichten zu tun?
Unmittelbar natürlich gar nichts. Interessant wird es nur vor dem Hintergrund des Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes vom 11.03.2014, B 40-41/2014-9, in dem der VfGH die vorläufige Ansicht vertritt, dass im Fall einer Beschwerde gegen ein Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes nach Art 144 B-VG das Verwaltungsgericht(!) seine Entscheidung zu verteidigen hätte - dass also die bis Ende 2013 gegenüber Verwaltungsbehörden bestehende Situation nun auch wieder gegenüber Verwaltungsgerichten herzustellen wäre. Wörtlich heißt es in diesem Prüfungsbeschluss:
Durch Art. 144 B-VG wird ein System geschaffen, das von der Annahme ausgeht, dass das jeweils belangte Gericht die von ihm erlassene Entscheidung im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof zu verteidigen hat. [Hervorhebung hinzugefügt]
Sollte der VfGH in seinem Gesetzesprüfungsverfahren diese Ansicht aufrechterhalten, dann würde den gerade erst geschaffenen erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten sozusagen ein Stück ihrer Unabhängigkeit - jener Unabhängigkeit, die der EuGH als Voraussetzung für ein Gericht im Sinne des Art 267 AEUV sieht - wieder genommen (wenn auch - vorerst? - nur im verfassungsgerichtlichen Verfahren).*)

Update 15.01.2015: Der VfGH hat nun tatsächlich mit Erkenntnis vom 29.11.2014, G 30-31/2014, § 83 Abs 1 VfGG mit Wirkung ab 30.06.2015 aufgehoben. Aus Respekt vor dem VfGH will ich das hier nicht weiter kommentieren.
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*) Als Gegenargument kann man natürlich anführen, dass der EuGH bisher Vorabentscheidungsersuchen der unabhängigen Verwaltungssenate und mancher unabhängiger Kollegialbehörden (zB Umweltsenat, Bundesvergabeamt, Schienen-Control-Kommission) angenommen hat und deren Unabhängigkeit dabei zumindest nicht aus dem Grund bezweifelt hat, dass sie bei Anfechtung ihrer Entscheidungen belangte Behörde vor dem VwGH und/oder VfGH waren - aber dieser Aspekt war, soweit ich das überblicke, dabei auch nicht thematisiert worden.

Friday, November 21, 2014

Netzneutralität in der EU wieder einmal in Gefahr? Nicht mehr und nicht weniger als bisher!

Reuters hat angefangen: EU leans towards broader net neutrality rules hieß es vor vier Tagen; dann kamen die anderen Medien, in denen zB von einer geplanten Verwässerung der Netzneutralität durch die EU die Rede war, und nun folgte auch EDRi (European Digital Rights), mit der Schlagzeile: Leaked documents show net neutrality may be in danger!

Was gibt es aber wirklich Neues? Meines Erachtens nicht allzu viel, wie gerade auch die beiden Dokumente zeigen, die EDRi "geleakt" hat (und die auch Grundlage für den Reuters-Bericht waren). Es handelt es sich um eine Note der italienischen Präsidentschaft an die Delegationen (in der Ratsarbeitsgruppe Telekommunikation und Informationsgesellschaft) mit Anhang, die der Vorbereitung der jüngsten Ratsarbeitsgruppensitzung dienten.

Um die Bedeutung solcher Dokumente einschätzen zu können, muss man ein wenig Verständnis für den Gesetzgebungsprozess auf Unionsebene aufbringen (siehe zum Verfahren gerade in dieser Sache im Blog schon hier [Punkt 3.]) und auch den Gesamtzusammenhang berücksichtigen.

Der Zusammenhang: es geht nicht nur um Netzneutralität, sondern um viel mehr: die Telekom-Binnenmarkt-Verordnung
Erstens geht es um das Rechtssetzungsvorhaben der Telekom-Binnenmarkt-Verordnung (oder "Vernetzer Kontinent"-Verordnung; oft auch im deutschen Sprachraum englisch als TSM- bzw "connected continent"-regulation bezeichnet). Der von der Kommission dazu im September 2013 vorgelegte Vorschlag (zu dem ich zB hier geschrieben habe) war ambitioniert, sowohl im Zeitplan als auch im Regelungsgegenstand - da war etwa eine EU-weite Genehmigung für "europäische Anbieter" genauso vorgesehen wie eine massive Stärkung der Rolle der Kommission bei der Frequenzverwaltung und der Wettbewerbsregulierung - und als eine Art Köder für das Europäische Parlament sollten auch weitere Einschnitte (aus Unternehmenssicht) bzw Verbesserungen (aus Kundensicht) beim Roaming dienen. Es war politisch durchaus schlau geplant - die Kommission rechnete damit, dass das Parlament die Roaming-Änderungen publikumswirksam noch vor der Europawahl beschließen wollte und dass im "Roaming-Windschatten" und dem durch die Wahlen gegebenen Zeitdruck das gesamte Vorhaben leichter durchgehen könnte.

Allerdings war das von der Kommission vorgelegte Gesamtpaket dann doch in manchen Punkten - vor allem bei der europaweiten Genehmigung und bei der Zentralisierung der Frequenzverwaltung - so überzogen, dass das geplante Denkmal für die scheidende Kommissarin Kroes schon vor der Errichtung langsam zu bröckeln begann. Im Rat - und das heißt zunächst einmal in der Ratsarbeitsgruppe, die auf Ebene der FachbeamtInnen der Mitgliedstaaten die Position des Rates vorbereitet - war der Widerstand ziemlich breit. Neben inhaltlichen Bedenken hing das sicher auch mit dem eher merkwürdigen rechtstechnischen Zugang zusammen: die Kommission hatte eine Verordnung vorgeschlagen, die quer zum bisherigen, überwiegend aus Richtlinien bestehenden Rechtsrahmen lag. Es war weder ein vollständiger "Review" des bestehenden Rechtsrahmens, noch eine bloße Ergänzung. Die Verordnung hätte damit auch massive Unschärfen in der Anwendung und Probleme bei der Anpassung der bestehenden nationalen Rechtsvorschriften mit sich gebracht. Das heißt also: ganz unabhängig vom Inhalt gab es durchaus gute Gründe, dem Verordnungsvorschlag mit Skepsis zu begegnen - und inhaltlich stand das Thema Netzneutralität nicht im Vordergrund der mitgliedstaatlichen Überlegungen.

Das Europäische Parlament, von den praktischen Problemen der Umsetzung bzw Anwendung in den Mitgliedstaaten doch deutlich weiter entfernt als die FachbeamtInnen in der Ratsarbeitsgruppe, hat sich mit dem Verordnungsvorschlag befasst und im April in erster Lesung eine legislative Entschließung getroffen. Dabei erzielten die Netzneutralitäts-Befürworter einen Erfolg, da ihre Positionen teilweise in die Entschließung Eingang gefunden haben (im Detail dazu im Blog hier [Punkt 2]). Abgesehen davon war aber die legislative Entschließung des Parlaments in manchen anderen Punkten so, dass ein Übernehmen dieser Position durch den Rat völlig ausgeschlossen ist.

Aktueller Stand des Gesetzgebungsverfahrens
Ich habe schon im April die Pläne der damaligen griechischen Ratspräsidentschaft, die "allgemeine Ausrichtung" (ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Annahme einer Position des Rates in erster Lesung) noch im Juni zu erreichen, für sehr unwahrscheinlich gehalten. Tatsächlich ist es bislang noch nicht zu dieser allgemeinen Ausrichtung gekommen, und die italienische Ratspräsidentschaft plant diesen Schritt nun für die kommende Ratstagung der Telekomminister am 27.11.2014.

In diesem Zusammenhang sind nun die "geleakten" Dokumente zu verstehen. In der Ratsarbeitsgruppe war der Fortschritt bisher ziemlich schleppend, von der Annahme einer Position zum gesamten Verordnungsvorschlag ist man weit entfernt. Das Scheitern des gesamten Rechtssetzungsvorhabens steht ernsthaft im Raum. Das ergab sich auch aus dem Arbeitspapier der italienischen Ratspräsidentschaft aus dem September, in dem versucht wurde, einen möglichen Ausweg aus den ins Stocken geratenen Verhandlungen in der Ratsarbeitsgruppe zu finden. Auch dieses Papier kam nicht besonders gut an, 16 Mitgliedstaaten, so hieß es informell, seien explizit dagegen gewesen, den Kommissionvorschlag überhaupt weiter zu behandeln, nur 6 ausdrücklich dafür (der Rest war indifferent). Die Themen Roaming und Netzneutralität waren damals noch nicht einmal intensiver beraten worden.

Nun steht also das Ende der italienischen Ratspräsidentschaft bevor, und sie bemüht sich natürlich, noch eine erkennbare Wegmarke zu setzen, bevor der nächste Mitgliedstaat sein Glück mit dem eher unglücklichen Verordnungsvorschlag versuchen darf. Daher auch der Versuch, mit der "geleakten" Note der Präsidentschaft wenigstens irgendeine Art von Kompromisspapier vorzulegen, das in möglichst offenen Worten gefasst ist und damit eine Schein-Übereinstimmung ermöglicht - so nach dem Motto: wenn nichts wirklich drinsteht, kann jeder Mitgliedstaat hineininterpretieren, was er für richtig hält. So ist das Scheitern wenigstens nicht ganz so offensichtlich dokumentiert.

Heute tagt der Ausschuss der Ständigen Vertreter I (COREPER I), die nächsthöhere Ebene über der Ratsarbeitsgruppe. Der COREPER dient der Vorbereitung der Ratstagungen und befasst sich - unter vielen anderen Angelegenheiten - auch mit dem "Conected Continent"-Verordnungsvorschlag (siehe die Tagesordnung). Für die Ratstagung am 27.11.2014 wird versucht, eine "allgemeine Ausrichtung" zu erreichen, die notgedrungen relativ vage bleiben wird, und meines Erachtens auch kaum zu Verhandlungen mit dem Parlament taugen kann. Netzneutralität ist dabei ein interessantes, aber nicht das sperrigste Thema.

Wie geht es weiter?
Das Interessanteste an der Note der Ratspräsidentschaft ist eigentlich der Vorspann, in dem das Umfeld skizziert wird, in dem das aktuelle - mehr oder weniger gescheiterte - Gesetzgebungsvorhaben zu sehen ist.
Die - mittlerweile neue - Kommission wird sich wohl kaum darin verbeißen, das geplante Denkmal für Neelie Kroes noch zu retten und die "Connected Continent"-Verordnung unbedingt durchzuboxen - sie hat mittlerweile signalisiert, den regulären "Review" des Rechtsrahmens für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste in Angriff nehmen zu wollen. Eine Konsultation ist für 2015 (wohl noch im ersten Quartal) geplant, legislative Vorschläge eher Anfang 2016. Auch andere legislative Instrumente (insbesondere die Frequenzentscheidung) stehen vor einem Review. Die Tendenz geht ganz offensichtlich dazu, den Verordnungsvorschlag als Ganzes jedenfalls zu vergessen, und gleich Nägeln mit Köpfen zu machen, also eine ernsthafte Reform des Rechtsrahmens in Angriff zu nehmen.

Im Hinblick auf den politischen und medialen Druck, den Neelie Kroes mit ihrem Parlamentarier-Zuckerl der weiteren Reduzierung bzw Abschaffung der Roamingentgelte aufgebaut hat, wird man aber wohl kaum umhin kommen, den Roaming-Aspekt auch vom Rat vorzuziehen. Insofern könnte vom gesamten Projekt der "Connected Continent"-Verordnung vielleicht auch bloß eine Art Novelle zur Roaming-Verordnung übrig bleiben.

Das Thema Netzneutralität hat allerdings deutlich an öffentlichem Interesse gewonnen, und so steht - darauf deutet die "geleakte" Note der Ratspräsidentschaft hin - auch zur Debatte, neben Roaming auch das Thema Netzneutralität gegenüber dem regulären "Review" des Rechtsrahmens vorzuziehen. Ich bin nicht sicher, ob man sich das aus Sicht der Netzneutraliätsbefürworter wirklich wünschen kann: denn wenn im Roamingbereich die Netzbetreiber weiter nachgeben müssen, dann steht als Ausgleich für sie natürlich eine möglichst weiche Netzneutralitätsregelung (zB im Sinne der von der italienischen Ratspräsidentschaft angedeuteten bloßen "Prinzipien") im Raum. Insofern besteht die von EDRi diagnostizierte Gefahr natürlich wirklich.

Wirklich neu ist das alles freilich nicht. Die aktuellen Dokumente bestätigen nur die bisherige Einschätzung des Gesetzgebungsprozesses. Dazu verweise ich nochmals auf mein Blogpost aus dem April, wo ich das Verfahren näher geschildert habe, und auf die Veranstaltung der Rundfunk und Telekom Regulierungs GmbH vom 14.10.2014, die auf der Website der RTR dokumentiert ist, wo ich mich ebenfalls mit den möglichen Szenarien befasst habe.

Tuesday, November 04, 2014

EGMR: Teilnehmer an Radiodiskussion muss nicht sorgfältiger sein als Journalisten

Den Medien kommt in einer demokratischen Gesellschaft die wichtige Aufgabe zu, die Allgemeinheit in allen Angelegenheiten des öffentlichen Interesses zu informieren (zB EGMR Bladet Tromsø und Stensaas, Rn 59). Um diese Aufgabe als "public watchdog" (zuletzt etwa EGMR Stankiewicz ua, Rn 64) nicht übermäßig zu beeinträchtigen, sind Journalisten auch vor Sanktionen geschützt, wenn sich ihre Berichterstattung nachträglich als unwahr oder zumindest nicht beweisbar herausstellt, vorausgesetzt, sie haben in gutem Glauben über eine Angelegenheit von echtem öffentlichem Interesse ("genuine public interest") berichtet und dabei die professionelle journalistische Sorgfalt eingehalten (zB EGMR Kasabova, Rn 63).

Schützt journalistische Sorgfalt auch Nichtjournalisten?
Kann sich aber auch jemand auf die Wahrnehmung der journalistischen Sorgfalt berufen, der nicht als Journalist, sondern als "Privater" bzw als Experte an einer Radiodiskussion teilnimmt? Der EGMR hat das heute in seinem Urteil im Fall Braun gegen Polen (Appl. nr. 30162/10) bejaht (siehe auch die Pressemitteilung des EGMR).

Zum Ausgangsfall
Grzegorz Michal Braun ist Filmregisseur, Historiker und publiziert zum aktuellen Zeitgeschehen. In einer Diskussion am 27.04.2007 in einem regionalen Hörfunkprogramm sagte er, dass Professor J.M. unter den Informanten der geheimen politischen Polizei gewesen sei; das bestätige, dass jene, die sich am lautesten gegen die Lustration ["Säuberung" des öffentlichen Dienstes von politisch belasteten Personen nach dem Fall des kommunistischen Regimes] aussprächen, gute Gründe dafür hätten. Auch in einer Fernsehsendung am selben Tag bezeichnete Braun J.M. als Informanten.

J.M. klagte wegen übler Nachrede. Das Gericht stellte fest, dass J.M. ein anerkannter Sprachwissenschaftler und eine bekannte Persönlichkeit in Polen sei, der auch lange Jahre hindurch ein TV-Programm präsentiert habe. Zwischen 1975 und 1984 sei er fünfmal im Zusammenhang mit Passansuchen und bei Rückkehr von Auslandsreisen von Agenten des Geheimdienstes vorgeladen worden. 1978 sei er förmlich als geheimer Kollaborateur registriert worden; Archivunterlagen zeigten, dass zwei Aktenbände über J.M. existiert hätten, diese konnten aber nicht mehr aufgefunden werden. Eine eigens eingesetzte universitäre Kommission habe den Fall untersucht, sei aber nicht zueinheitlichen Schlussfolgerungen gekommen. Eine tatsächliche aktive Kollaboration mit dem Geheimdienst sei nicht erwiesen worden.

Braun wurde zu einer Entschädigung und zu einer öffentlichen Enschuldigung verurteilt. Das Urteil wurde auch vom Berufungsgericht und vom Obesten Gerichtshof (im Wesentlichen) bestätigt. Der Oberste Gerichtshof hielt fest, dass die Handlungen eines Journalisten nicht illegal wären, wenn sie im öffentlichen Interesse lägen und die notwendige Sorgfalt eingehalten worden wäre. Dieser Zugang könne aber nicht für Braun gelten, da sein Statement von privater Natur gewesen sei und er dabei nicht als Journalist anzusehen sei, der einer Pflicht zur Information der Öffentlichkeit nachgekommen wäre.

Das Urteil des EGMR
Es steht außer Zweifel, dass das Gerichtsverfahren einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung im Sinne des Art 10 EMRK darstellte, der auf Gesetz beruhte und einem legitimen Ziel, dem Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, diente. Zu beurteilen war daher nur mehr, ob der Eingriff auch in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich war.

Der vom Beschwerdeführer (Braun) erhobene Vorwurf, J.M. sei ein geheimer Kollaborateur des Geheimdienstes in der kommunistischen Ära gewesen, wiegt schwer und ist jedenfalls ein Angriff auf dessen guten Ruf. Die nationalen Gerichte mussten daher eine Abwägung zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung auf der einen und dem Schutz des guten Rufes auf der anderen Seite vornehmen (Rn 44).

Der Oberste Gerichtshof habe unterschieden zwischen dem an Journalisten anzulegenden Maßstab und jenem, der der an andere Teilnehmer einer öffentlichen Debatte anzulegen sei - ohne zu prüfen, ob eine derartige Unterscheidung mit Art 10 EMRK vereinbar sei (Rn 46). Während die polnische Regierung und die nationalen Gerichte fanden, dass Braun kein Journalist sei, brachte Braun selbst vor, jahrelang als Journalist gearbeitet zu haben. Der EGMR hält diese Unterscheidung hier für nicht relevant, denn die EMRK schützt alle Teilnehmer an einer Debatte über Angelegenheiten von legitimem öffentlichem Interesse (Rn 47):
However, in any case the question of whether the applicant was a journalist within the meaning of the domestic law, is not of particular relevance in the circumstances of the instant case. The Court reiterates that the Convention offers a protection to all participants in debates on matters of legitimate public concern.
Was sind nun die konkreten Umstände des Falles? Der Beschwerdeführer war Historiker und Autor von Presseberichten und TV-Sendungen; er nahm auch aktiv und öffentlich zum Zeitgeschehen Stellung. Zur Radiodiskussion war er als Experte zum diskutierten Thema eingeladen worden:
48. The Court notes that the applicant was a historian, the author of press articles and television programmes, and someone who actively and publicly commented on current affairs. The domestic courts acknowledged that the applicant was a publicist and that given his professional experience, and the fact that he was a “specialist” on the subject, he had been invited to participate in the radio programme on lustration. Nevertheless they found the applicant’s intervention to be of a private nature. The Court also notes that when assessing the legality of his actions the Supreme Court failed to address the question of whether the applicant had been engaged in public debate.
Der EGMR betont dann, dass er nicht zu beurteilen hat, ob der Beschwerdeführer sich auf ausreichend genaue und verlässliche Quellen stützen konnte; ebensowenig hat er zu entscheiden, ob die Tatsachengrundlage Art und Ausmaß der Vorwürfe gerechtfertigt hat - dies ist Aufgabe der nationalen Gerichte, die dabei die Maßstäbe der EMRK zu beachten haben (Rn 49). Nur der Umstand allein, dass der Bechwerdeführer nicht als Journalist beurteilt wurde, durfte daher nicht zur Folge haben, dass von ihm ein höheres Maß an (journalistischer) Sorgfalt verlangt wird als von Journalisten:
50. The Court considers that the applicant in the case under consideration had clearly been involved in a public debate on an important issue (see Vides Aizsardzības Klubs v. Latvia, no. 57829/00, § 42, 27 May 2004). Therefore the Court is unable to accept the domestic courts’ approach that required the applicant to prove the veracity of his allegations. It was not justified, in the light of the Court’s case-law and in the circumstances of the case, to require the applicant to fulfil a standard more demanding than that of due diligence only on the ground that the domestic law had not considered him a journalist.
Damit hatten die nationalen Gerichte den Beschwerdeführer im Ergebnis des Schutzes nach Art 10 EMRK beraubt. Auch dass die Sanktion vergleichsweise milde war, ändert nichts daran, dass die Gründe, auf die die nationalen Gerichte die Zulässigkeit des Eingriffs gestützt hatten, nicht relevant und ausreichend waren (Rn 51).

Schlussfolgerung
Der EGMR bestätigt mit diesem Urteil wieder einmal, dass eine starre Dichotomie - auf der einen Seite Journalisten, für die bestimmte Berufsprivilegien gelten, auf der anderen Seite alle anderen ("Nichtjournalisten"), für die das nicht der Fall ist - in Fragen der Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK nicht zielführend ist (siehe etwa für den Zugang zu öffentlichen Informationen schon das EGMR-Urteil Társaság a Szabadságjogokért [im Blog dazu hier] und daran anknüpfend meine Überlegungen zu einer weiteren Sicht hinsichtlich des Redaktionsgeheimnisses im Blog hier).

Nach österreichischem Medienrecht ist gemäß § 29 Mediengesetz (nur) "der Medieninhaber oder ein Medienmitarbeiter" wegen des Medieninhaltsdelikts der üblen Nachrede nach § 111 StGB "nicht nur bei erbrachtem Wahrheitsbeweis, sondern auch dann nicht zu bestrafen, wenn ein überwiegendes Interesse der öffentlichkeit an der Veröffentlichung bestanden hat und auch bei Aufwendung der gebotenen journalistischen Sorgfalt für ihn hinreichende Gründe vorgelegen sind, die Behauptung für wahr zu halten."

Diese gesetzliche Differenzierung zwischen Medieninhabern / Medienmitarbeitern einerseits und allen anderen - darunter zB bloß nebenberuflich Publizierende - andererseits (die sich nicht mit dem Verweis auf die Wahrnehmung der journalistischen Sorgfalt exkulpieren können) wurde in der juristischen Literatur schon öfters kritisiert; das heutige Urteil des EGMR bestätigt diese Kritik.

Bemerkenswerterweise kennt § 6 Abs 2 Z 2 lit b Mediengesetz für den medienrechtlichen Entschädigungsanspruch bei übler Nachrede keine Unterscheidung zwischen Journalisten und Nichtjournalisten; der Anspruch besteht generell nicht, wenn "ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Veröffentlichung bestanden hat und auch bei Aufwendung der gebotenen journalistischen Sorgfalt hinreichende Gründe vorgelegen sind, die Behauptung für wahr zu halten".

Für Personen, die als Expertinnen oder Experten an diversen TV- und Hörfunkdiskussionen teilnehmen, könnte  das Urteil eine gewisse Entspannung bringen: Ansprüchen aus übler Nachrede könnten sie auch entgegensetzen, dass sie zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beigetragen und in gutem Glauben und in Übereinstimmung mit einer journalistischen Berufsethik ("journalist ethics") gehandelt haben. Zur Beurteilung, ob diese "journalistischen Ethik" oder die gebotene journalistische Sorgfalt ("due diligence") eingehalten wurde, zieht der EGMR typischerweise verschiedene Faktoren heran (vor kurzem etwa im Urteil Stankiewicz ua): zum einen Art und Ausmaß der Vorwürfe, zum anderen die Bemühungen, die Vorwürfe entsprechend zu verifzieren; dabei kommt es auf die Verlässlichkleit der Quelle(n) an, auf die Intensität der Recherche und auf die Art der Präsentation im Medium (ob reißerisch einseitig oder ausgewogen); ähnliche Überlegungen werden auch bei einer Diskussionsteilnahme heranzuziehen sein.

Der Beschwerdeführer brachte übrigens auch vor (siehe Rn 33 des Urteils), dass er sich bei seinen Vorwürfen gegenüber J.M. auf Quellen gestützt habe, die er schützen müsse. Die interessante Frage, wie weit er sich - als "bloßer" Diskussionsteilnehmer - auch auf ein Recht auf Quellenschutz ("Redaktionsgeheimnis") stützen könnte, war aber nicht weiter Thema im Verfahren.

Update: siehe zu diesem Urteil auch einen Beitrag von Maximilian Steinbeis auf dem Verfassungsblog.
Update (04.12.2014): siehe nun auch den Beitrag von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.
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PS: ich bin jetzt einige Zeit lang nicht dazu gekommen, über andere aktuelle Artikel 10 EMRK-Fälle mehr zu schreiben; meine einschlägige Liste habe ich aber weitergeführt. Ich weiß nicht, ob ich zu einzelnen Fällen noch später mehr schreiben werde, hier nur ein knapper Verweis auf ausgewählte Urteile (und eine Entscheidung) der letzten zwei Monate, die ich für interessant halte:
  • 28.10.2014, Gough (Pressemitteilung des EGMR): der Fall des nackten Wanderers, in dem der EGMR die öffentliche Nacktheit zwar als Form der Meinnugsäußerung beurteilt, aber die Haft wegen der wiederholten Missachtung von Anordnungen, nicht nackt zu wandern, doch als zulässigen Eingriff beurteilt
  • 21.10.2014, Matúz; Entlassung eines Journalisten des ungarischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens wegen eines Buchs über die von ihm erlebte Zensur in diesem Sender; wurde vom EGMR als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilt.
  • 14.10.2014, Stankiewicz ua; zur beruflichen Sorgfalt von Journalisten, die in einem Artikel angedeutet hatten, dass ein hoher Beamter des Gesundheitsministeriums in korrupte Praktiken verwickelt sei.
  • 30.09.2014, Keena und Kennedy; mit dieser Entscheidung wies der EGMR die Beschwerde zweier Journalisten mehrheitlich als offensichtlich unbegründet zurück; es ging dabei um die Verfahrenskosten in einem Verfahren, in dem sie sich vor den nationalen Gerichten gegen eine Verletzung des Redaktionsgeheimnisses gewehrt hatten; dabei waren sie letztlich - bis auf die Kosten - erfolgreich gewesen, weil sie die angeforderten Unterlagen zerstört hatten und daher nicht mehr zur Herausgabe gezwungen werden konnten.
  • 16.09.2014, Karácsony ua und Szél ua (Pressemitteilung des EGMR) zu parlamentarischem Aktivismus: die Beschwerdeführer waren Abgeordnete des ungarischen Parlaments, die wegen Störung der parlamentarischen Verhandlungen durch das Hochhalten von Plakaten bzw Transparenten bestraft worden waren; der EGMR stellte jeweils einstimmig eine Verletzung von Art 10 und Art 13 EMRK fest (Update: diese beiden Fälle wurde mit Entscheidung vom 16.02.2015 an die Große Kammer verwiesen!). 

Tuesday, September 09, 2014

Update zu Telekomsachen vor dem EuGH: Schlussanträge T-Mobile Austria und neue Vorabentscheidungsersuchen

1. Schlussanträge C-282/13 T-Mobile Austria

Generalanwalt Szpunar hat heute die Schlussanträge in der Rechtssache C-282/13, T-Mobile Austria, erstattet. In diesem Verfahren geht es wieder einmal um die Frage, wer von einer Entscheidung einer nationalen Regulierungsbehörde im Sinne von Art 4 der RahmenRL "betroffen" ist, in diesem Fall im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Übertragung von Nutzungsrechten an Frequenzen (Art 5 Abs 6 der GenehmigungsRL).

Die Rechtssache, so der Generalanwalt, bietet "die Gelegenheit, allgemeiner darüber nachzudenken, inwieweit das Unionsrecht in die prozessrechtliche Regelung der Mitgliedstaaten über die Voraussetzungen für die Anfechtung von Verwaltungsentscheidungen eingreifen kann." Er verweist eingangs auch auf die weiter gehende Bedeutung der Vorlagefrage im Hinblick auf ähnliche Regelungen in anderen Rechtsakten der Union (Art 22 Abs 3 Postdienste-RL, Art 37 Abs 17 Elektrizitätsbinnenmarkt-RL, Art 41 Abs 17 Erdgasbinnenmarkt-RL).

Im Folgenden wesentliche Aussagen aus den Schlussanträgen im Wortlaut (da das Verfahren auf ein Vorabentscheidungsersuchen des VwGH zurückgeht, enthalte ich mich jeder Kommentierung):

Zur Verfahrensautonomie:
42. [...] Auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie kann man sich erst auf der Stufe der Gestaltung einzelner Vorschriften und Verfahren zur Geltendmachung von aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten berufen. Die Verfahrensautonomie umfasst hingegen nicht die Bestimmung, wem die Anfechtungsbefugnis in einem durch das Unionsrecht geregelten Bereich zusteht.
Zum Zweck des Art 4 Abs 1 RahmenRL:
46. Nach meinem Verständnis beschränkt sich der Zweck dieser Vorschrift nicht darauf, den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes widerzuspiegeln, der ja bereits in übergeordneten Normen geregelt wird, und zwar derzeit in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
47. Zweck des Art. 4 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie ist die Bestimmung eines einheitlichen Umfangs der Anfechtungsbefugnis von Privaten im Bereich der elektronischen Telekommunikation.
48. Mit dieser Vorschrift soll verhindert werden, dass eine Person – bei identischer Sachlage – in einem Mitgliedstaat zum Schutz ihrer Rechte die Befugnis zur Anfechtung einer Entscheidung der Regulierungsbehörde hätte, nicht aber in einem anderen Mitgliedstaat. Solche Unterschiede im Bereich des Zugangs zu einem Rechtsbehelf würden dazu führen, dass der Inhalt der Rechte, die dem Einzelnen im Bereich der elektronischen Kommunikation aus dem Unionsrecht erwachsen, in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich aufgefasst würde. Solche Unterschiede könnten auch dazu führen, dass in einigen Mitgliedstaaten schon die Existenz von Rechten dieser Art an sich in Frage gestellt werden könnte.
Zur konkreten Auslegung des Art 4 Abs 1 RahmenRL:
69. Die Voraussetzung nach Art. 4 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie, dass eine Person von der entsprechenden Entscheidung „betroffen“ sein muss, ist meines Erachtens dahin zu verstehen, dass sich die behördliche Entscheidung auf den Bereich der rechtlich geschützten Interessen der jeweiligen Person auswirken muss.
70. Für die Zuerkennung der Anfechtungsbefugnis ist es hingegen nicht erforderlich, dass der Rechtsbehelfsführer darlegt, dass seine konkreten subjektiven Rechte verletzt wurden.
[...]
80. Eine Entscheidung der Regulierungsbehörde, die in einem Verfahren zum Schutz des Wettbewerbs ergeht, wirkt sich zweifellos auf das individuelle Interesse eines Unternehmens aus, dessen Marktstellung infolge der Handlungen, die Gegenstand der Entscheidung sind, spürbar beeinträchtigt werden könnte.
81. Ein solches Interesse besteht nicht nur auf faktischer Ebene, sondern stellt [...] auch ein rechtliches Interesse dar. Die Lage der konkurrierenden Unternehmen wird in einer unionsrechtlichen Norm berücksichtigt, nach der die Regulierungsbehörde Maßnahmen treffen muss, um eine solche wesentliche Änderung der Marktstellung von konkurrierenden Unternehmen, die zu einer Verzerrung oder Beschränkung des Wettbewerbs führen könnte, zu verhindern.
82. Im Verhältnis zu Unternehmen, die mit dem Adressaten der Entscheidung konkurrieren, ist die Voraussetzung nach Art. 4 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie, dass das jeweilige Unternehmen von der Entscheidung „betroffen“ sein muss, meines Erachtens dann erfüllt, wenn die Regulierungsbehörde im Rahmen eines in einer unionsrechtlichen Norm, die den Schutz des Wettbewerbs bezweckt, vorgesehenen Verfahrens entscheidet und die Entscheidung Handlungen oder Transaktionen betrifft, die die Marktstellung des Rechtsbehelfsführers spürbar beeinträchtigen.
Zur Auslegung des Art 5 Abs 6 GenehmigungsRL:
93. Gemäß Art. 5 Abs. 6 der Genehmigungsrichtlinie sorgen die zuständigen Behörden dafür, dass der Wettbewerb nicht durch Übertragungen von Rechten zur Nutzung von Funkfrequenzen verzerrt wird. Hierbei können die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen ergreifen, z. B., indem sie den Verkauf oder die Vermietung von Frequenznutzungsrechten anordnen.
94. Trotz der fakultativen Formulierung im letzten Satz der zitierten Vorschrift – die Mitgliedstaaten „können“ geeignete Maßnahmen ergreifen – ergibt sich tatsächlich aus dem vorausgehenden Satz der Vorschrift ausdrücklich, dass der Mitgliedstaat, wenn er eine Übertragung von Frequenznutzungsrechten zwischen Betreibern genehmigt, zugleich verpflichtet ist, geeignete Rechtsrahmen zur Regulierung dieser Übertragungsgeschäfte zu schaffen, damit die Wettbewerbsbedingungen hierdurch nicht verzerrt werden.
[...]
96. Es steht außer Zweifel, dass die Mitgliedstaaten bei der erstmaligen Frequenzzuteilung die Notwendigkeit der Gewährleistung einer wettbewerbsfähigen Marktstruktur besonders zu berücksichtigen haben. Dieser Grundsatz wäre wirkungslos, wenn die Wettbewerbsstruktur durch eine spätere Übertragung von Rechten zwischen konkurrierenden Unternehmen beeinträchtigt werden könnte.
97. Angesichts dieser Erwägungen dient die Kontrolle der Übertragung von Frequenzen gemäß Art. 5 Abs. 6 der Genehmigungsrichtlinie – und damit auch das Verfahren vor der TCK, das Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist – vor allem dem Schutz der Wettbewerbsstruktur des Marktes.
Vorgeschlagene Antwort auf die Vorlagefrage:
Art. 4 Abs. 1 der [RahmenRL] ist dahin auszulegen, dass das Recht zur Anfechtung einer Entscheidung der Regulierungsbehörde über die Genehmigung einer Übertragung von Frequenznutzungsrechten gemäß Art. 5 Abs. 6 der [GenehmigungsRL] einem mit den an der Transaktion Beteiligten konkurrierenden Unternehmen zusteht, sofern die Transaktion seine Marktstellung spürbar beeinträchtigen kann.

2. Neue Vorabentscheidungsersuchen

Beim EuGH wurden in letzter Zeit auch wieder neue Vorabentscheidungsersuchen zu Fragen des Telekomrechts eingebracht. Ich versuche die offenen Verfahren relativ zeitnah in meiner Übersichtsliste zu erfassen und weise üblicherweise nicht mit Blogposts auf neue Verfahren hin. Hier dennoch ein kurzer Überblick zu den in den letzten Monaten neu anhängig gemachten Telekom-Verfahren:

Indexklausel als Änderung von Vertragsbedingungen iSd Art 20 UniversaldienstRL?
Der Oberste Gerichtshof möchte wissen, ob das in Art 20 Abs 2 der Universaldienstrichtlinie für die Teilnehmer vorgesehene Recht, "bei der Bekanntgabe von Änderungen der Vertragsbedingungen" den Vertrag ohne Zahlung von Vertragsstrafen zu widerrufen, auch für den Fall vorzusehen ist, dass sich eine Anpassung der Entgelte aus den Vertragsbedingungen ableitet, die bereits bei Vertragsabschluss vorsehen, dass in der Zukunft eine Anpassung der Entgelte (Steigerung/Reduktion) entsprechend den Veränderungen eines objektiven Verbraucherpreisindex, der die Geldwertentwicklung abbildet, zu erfolgen hat? Das Verfahren ist anhängig unter C-326/14 A1 Telekom Austria (Volltext des Vorabentscheidungsersuchens des Obersten Gerichtshofs)

Pflicht zur Durchführung des "Art 7-Verfahrens" bei Entgeltgenehmigung?
Das deutsche Bundesverwaltungsgericht fragt, ob Art 7 Abs 3 RahmenRL dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regulierungsbehörde, die einen Betreiber mit beträchtlicher Marktmacht verpflichtet hat, Mobilfunkterminierungsleistungen zu erbringen, und die hierfür verlangten Entgelte unter Einhaltung des in der genannten Richtlinienbestimmung vorgesehenen Verfahrens der Genehmigungspflicht unterworfen hat, verpflichtet ist, das Verfahren nach Art 7 Abs 3 RahmenRL vor jeder Genehmigung konkret beantragter Entgelte erneut durchzuführen. Das Verfahren ist anhängig zu C-395/14 Vodafone (Volltext des Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts; zu Art 7 Abs 3 RahmenRL ist derzeit auch noch das Vorabentscheidungsersuchen des polnischen Obersten Gerichtshofes C-3/14 Polska Telefonia Cyfrowa anhängig).

Zugang zu nicht-geografischen Nummern
Der polnische Oberste Gerichtshof fragt zur Auslegung des Art 28 UniversaldienstRL (in der Stammfassung), ob auch Endnutzer aus anderen Mitgliedstaaten Zugang zu nicht-geografischen Rufnummern (0800, 0801 und 0804) bekommen müssen, und - wenn ja - ob schließlich die nationale Regulierungsbehörde dafür kostenorientierte Zusammenschaltungsentgelte festlegen kann, wenn Verhandlungen zwischen den Betreibern gescheitert sind. Das Verfahren ist anhängig zu C-397/14 Polkomtel (Volltext des Vorabentscheidungsersuchens, in polnischer Sprache; zu Art 28 UniversaldienstRL sind derzeit auch noch die Vorabentscheidungsersuchen C-85/14 KPN des niederländischen College van Beroep voor het bedrijfsleven sowie C-1/14 KPN Group Belgium und Mobistar des belgischen Verfassungsgerichts [Grondwettelijk Hof]).

Thursday, September 04, 2014

EuGH: Abgabe auf Betriebsliegenschaften, die auch - aber nicht nur - Handymasten betrifft, ist mit GenehmigungsRL vereinbar

Der EuGH hatte heute mit seinem Urteil in den verbundenen Rechtssachen C‑256/13 und C‑264/13, Belgacom und Mobistar, wieder einmal über die Vereinbarkeit einer Abgabe mit der Genehmigungsrichtlinie zu entscheiden. (Zu früheren Fällen siehe C-55/11 Vodafone España, C-57/11 Vodafone España, C-58/11 France Telecom España [im Blog dazu hier], C-71/12 Vodafone Malta and Mobisle Communications; C-375/11 Belgacom ua, [im Blog dazu hier])

Nach Art 13 der GenehmigungsRL können die Mitgliedstaaten der zuständigen Behörde gestatten, unter anderem bei Rechten für die Installation von Einrichtungen auf, über oder unter öffentlichem oder privatem Grundbesitz Entgelte zu erheben, die eine optimale Nutzung dieser Ressourcen sicherstellen sollen. (Art 12 der RL erlaubt darüberhinaus in beschränktem Umfang bestimmte Verwaltungsabgaben).

Belgacom und Mobistar waren der Auffassung, dass eine von der Provinz Antwerpen erhobene Abgabe auf Niederlassungen, die für alle Flächen zu zahlen ist, die von der jeweiligen juristischen Person benutzt werden, gegen Art 13 der GenehmigungsRL verstößt, weil die Abgabe damit auch für die von den Telekomunternehmen für Leitungen und Basisstationen genutzten Flächen gezahlt werden muss.

Der EuGH teilt diese Auffassung nicht, da jede juristische Person, die im Gebiet der Provinz Antwerpen eine von ihr benutzte oder ihrer Benutzung vorbehaltene Niederlassung hat, zu dieser Abgabe herangezogen wird, unabhängig von der Art der Niederlassung und der Tätigkeit der Abgabenpflichtigen. Entstehungstatbestand für die Abgabe ist nicht die Gewährung von Frequenznutzungsrechten oder von Rechten für die Installation von Einrichtungen. Die Abgabe stellt daher kein Entgelt im Sinne des Art 13 GenehmigungsRL dar und fällt nicht in den Geltungsbereich der GenehmigungsRL. Die Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage:
Die Art. 6 und 13 der [GenehmigungsRL] sind dahin auszulegen, dass sie nicht daran hindern, die Anbieter elektronischer Kommunikationsnetze oder ‑dienste aufgrund des Vorhandenseins von für ihre Tätigkeit erforderlichen GSM-Masten, -Stützen oder -Antennen auf öffentlichem oder privatem Grund zu einer allgemeinen Abgabe auf Niederlassungen heranzuziehen.

EuGH zu Parodie und Urheberrecht: freie Meinungsäußerung, aber mit Grenzen

Urheberrechte sind nicht absolut: insbesondere die Ausübung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung (Art 11 der Grundrechtecharta) kann zulässigerweise in Urheberrechte eingreifen. Dass dabei eine Abwägung der gegenläufigen Interessen bzw Rechtspositionen zu treffen ist, hat der EuGH zuletzt etwa im Fall UPC Telekabel Wien ausgesprochen (siehe im Blog dazu hier).

Insofern ist das gestern veröffentlichte Urteil des EuGH in der Rechtssache C‑201/13, Deckmyn und Vrijheidsfonds, keine große Überraschung: der EuGH sprach aus, dass in einem konkreten Fall ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen und Rechten der Rechteinhaber auf der einen Seite und der freien Meinungsäußerung desjenigen, der ein geschütztes Werk parodiert, auf der anderen Seite gewahrt werden muss.

Bemerkenswert ist aber, dass der EuGH - ausgehend von den konkreten Umständen des Ausgangsfalls - gewissermaßen eine Gegenausnahme konstatiert: wenn die Parodie nämlich eine (hier: rassisch und ethnisch) diskriminierende Aussage vermittle, können sich die Rechteinhaber dagegen verwehren (das heißt wohl: die Parodie, gestützt auf das Urheberrecht am parodierten Werk, untersagen). Der EuGH stützt dies "auf die Bedeutung des Verbots der Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe oder der ethnischen Herkunft [...], wie es durch die Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. L 180, S. 22) konkretisiert und insbesondere in Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigt worden ist." Der EuGH hält fest, dass die Rechtinhaber am parodierten Werk unter diesen Umständen (wenn die Parodie eine diskrminierende Aussage vermittle) "grundsätzlich ein berechtigtes Interesse daran [haben], dass das geschützte Werk nicht mit einer solchen Aussage in Verbindung gebracht wird."

Urheberrechtlich wie äußerungsrechtlich ist damit ein interessantes Feld eröffnet (siehe kritische Anmerkungen dazu bereits von IPKat, ebenfalls eher kritische Bemerkungen von Sabine Jacques auf EU LawAnalysis, [update 08.09.2014: nun auch ein kritischer Beitrag von Dirk Voorhoof and Inger Høedt-Rasmussen auf Inforrm's Blog], ein eher positiver Kommentar von Maximilian Steinbeis im Verfasungsblog): Denn der Sache nach wird hier die Meinungsäußerungsfreiheit des Parodierenden beschränkt durch die von ihm transportierten Inhalte. Dabei muss es sich natürlich um Inhalte handeln, die an sich - also losgelöst von der Parodie - von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt wären; verhetzende oder sonst (straf)gesetzwidrige Inhalte kämen ja von vornherein nicht in Betracht, sich gegenüber dem Urheberrecht durchzusetzen. Mit anderen Worten: es muss sich um Inhalte handeln, die zwar an sich zulässig wären, aber Werte transportieren, die von der Rechtsordnung missbilligt werden. Im Ausgangsfall kann man das gut argumentieren, da das Verbot der Diskriminierung nicht nur in der Gleichbehandlungsrichtlinie, sondern auch in Art 21 der Grundrechtecharta enthalten ist und damit Grundwertungen des Unionsrechts transportiert, während die Parodie an sich, auch wenn sie eine diskriminierende Einstellung des Parodierenden zeigt, allein deshalb noch nicht verboten wäre.

Was wäre aber zB, wenn eine Parodie gerade ein als diskriminierend empfundenes politisches Plakat durch - parodie-übliche - Zuspitzung thematisiert? Könnte sich die betroffene Partei dann auch darauf berufen, dass die Parodie diskriminierende Inhalte vermittelt? In einem solchen Fall würde es wohl am "berechtigten Interesse" mangeln - aber die Überlegung zeigt doch, dass das EuGH-Urteil sehr von den Umständen des Ausgangsfalls bestimmt ist und in der Praxis schwierige Abgrenzungsfragen aufwerden kann.

Parodien sind ihrem Wesen nach oft gerade gegen die vom parodierten Werk transportierten Inhalte gerichtet, man denke etwa an die zahllosen Parodien von FPÖ-Wahlplakaten (eine davon hat auch bereits den Obersten Gerichtshof beschäftigt: OGH 12.09.201, 4 Ob 194/01k) oder an die Parodie eines Salzburger SPÖ-Wahlplakats, die zur Leitentscheidung des OGH in Sachen urheberrechtliche Beurteilung von Parodien geführt hat (OGH 13.07.2010, 4 Ob 66/10z - "Lieblingshauptfrau"). Dass die Rechteinhaber des parodierten Werks die Wertungen der Parodie nicht teilen, liegt in diesen Fällen in der Natur der Sache. Hätte, wenn man die Überlegungen des EuGH aufgreift, die Salzburger SPÖ nicht auch ein berechtigtes Interesse daran, dass das Bild der damaligen SPÖ-Landeshauptfrau nicht mit Aussagen militanter Abtreibungsgegner in Verbindung gebracht wird?

Ist eine Parodie aber als solche klar erkennbar, dann geht ohnehin niemand davon aus, dass die damit transportierte Aussage vom Rechteinhaber des geschützten parodierten Werks stammt. Vielleicht liegt gerade darin die Problematik des vom EuGH entschiedenen Falls: es hätte dort wohl durchaus sein können, dass der Eindruck entsteht, die bekannte Comicfigur werde in Übereinstmmung mit den Rechteinhabern für die diskriminierende politische Kampagne verwendet (näheres zum Fall, insbesondere eine Abbildung der "Parodie" selbst, siehe in den Schlussanträgen des Generalanwalts).

Die Zielrichtung der Parodie kann aber - worauf auch Sabine Jacques auf EU LawAnalysis hinweist - höchst unterschiedlich sein: das parodierte Werk selbst, dessen Urheber, aber auch - wie im Ausgangsfall - Dritte, die mit dem parodierten Werk gar nichts zu tun haben. Meines Erachtens kommt der vom EuGH angenommene, die Meinungsäußerungsfreiheit begrenzende Faktor - dass die Rechteinhaber am parodierten Werk ein berechtigtes Interesse daran haben, nicht mit einer bestimmten Aussage in Verbindung gebracht zu werden - am ehesten dort in Betracht, wo sich die Parodie nicht gegen das parodierte Werk oder dessen Urheber selbst richtet.

Parodie und Urheberrecht in Österreich
Die vom EuGH entschiedene Rechtsfrage, was überhaupt unter einer Parodie im unionsrechtlichen Sinne zu verstehen ist, stellt sich in Österreich nicht direkt. Art 5 Abs 3 lit k der Richtlinie 2001/29 sieht nämlich vor, dass die Mitgliedstaaten "für die Nutzung zum Zwecke von Karikaturen, Parodien oder Pastiches" Ausnahmen oder Beschränkungen bestimmter Rechte (Vervielfältigungsrecht nach Art 2 und Recht der öffentlichen Wiedergabe bzw der öffentlichen Zugänglichmachung nach Art 3 der RL) vorsehen können. Österreich hat in der nationalen Gesetzgebung von dieser Ausnahmemöglichkeit keinen Gebrauch gemacht, allerdings ergibt sich eine derartige Ausnahme aus der Rechtsprechnug des Obersten Gerichtshofes (siehe den schon erwähnten "Lieblingshauptfrau"-Beschluss, in dem sich der OGH auch - deutlich umfassender als der EuGH - mit dem Begriff der Parodie auseinandersetzt).An die Zulässigkeit einer Parodie ist aber "grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen", sagt der OGH.

Allgemein zum Verhältnis von Urheberrecht und freier Meinungsäußerung judiziert der OGH in ständiger Rechtsprechung, dass dem urheberrechtlichen Unterlassungsanspruch das durch Art 10 EMRK geschützte Recht der freien Meinungsäußerung entgegenstehen kann; ob dies der Fall ist, ist durch eine Abwägung der vom Urheber oder seinem Werknutzungsberechtigten verfolgten Interessen mit dem Recht der freien Meinungsäußerung zu beurteilen (RS0115377).

Meinugsäußerungsfreiheit und Urheberrecht vor dem EGMR
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass die Freiheit der Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK die Interessen des Urhebers im Einzelfall überwiegen kann (siehe insbesondere das Urteil im Fall Ashby [Beiträge dazu etwa auf Internet-Law, bei Telemedicus, oder im im Kluwer Copyright Blog]; siehe zudem auch die Entscheidung im Fall Neij und Sunde Kolmisoppi [im Blog dazu hier].

Wednesday, August 27, 2014

Vorabentscheidungsersuchen: Video-Seite eines Zeitungs-Webauftritts ein audiovisueller Mediendienst auf Abruf?

Auf den Websites von Zeitungen und Zeitschriften sind - ergänzend zu Text- und Bildbeiträgen - regelmäßig auch Videos zu sehen. Werden diese Videos (auch) gesammelt auf einer Subdomain oder in einem Unterverzeichnis angeboten, so stellt sich die Frage, ob das als "audiovisueller Mediendienst auf Abruf" zu beurteilen ist - eine Frage, die nun auch den EuGH beschäftigt.

Als audiovisuellen Mediendienst auf Abruf (oder nichtlinearen audiovisuellen Mediendienst) bezeichnet die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste "einen audiovisuellen Mediendienst, der von einem Mediendiensteanbieter für den Empfang zu dem vom Nutzer gewählten Zeitpunkt und auf dessen individuellen Abruf hin aus einem vom Mediendiensteanbieter festgelegten Programmkatalog bereitgestellt wird".

Die Vorgaben der Richtlinie wurden in Österreich im Audiovisuelle Mediendienste-Gesetz (AMD-G) umgesetzt. Wer einen "audiovisuellen Mediendienst auf Abruf" anbietet, muss dies der Regulierungsbhörde anzeigen (§ 9 AMD-G; hier zur Liste der angezeigten Dienste) und unterliegt einigen (wenigen) inhaltlichen Vorgaben (zB zum Minderjährigenschutz § 39 AMD-G). In einem Streitfall hat die KommAustria als Regulierungsbehörde entschieden, dass mit dem Anbot von Videos auf der Subdomain http://video.tt.com des Webauftritts der Tiroler Tageszeitung Online, http://www.tt.com, ein anzeigepflichtiger Abrufdienst veranstaltet werde (Bescheid der KommAustria, mit Screenshot); nach Berufung des Unternehmens wurde diese Entscheidung vom Bundeskommunikationssenat bestätigt (Berufungsentscheidung des BKS [update 04.09.2014: nun mit korrektem Link!]).

Der Verwaltungsgerichtshof, an den das betroffene Unternehmen Beschwerde erhoben hat, hat mit Beschluss vom 26.06.2014 dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art 1 Abs 1 lit b der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) dahingehend auszulegen, dass von einer in Form und Inhalt erforderlichen Vergleichbarkeit eines in Prüfung stehenden Dienstes mit Fernsehprogrammen dann ausgegangen werden kann, wenn derartige Dienste auch in Fernsehprogrammen angeboten werden, die als Massenmedien angesehen werden können, welche für den Empfang durch einen wesentlichen Teil der Allgemeinheit bestimmt sind und bei dieser deutliche Wirkung entfalten können.
2. Ist Art 1 Abs 1 lit a sublit i der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) dahingehend auszulegen, dass bei elektronischen Ausgaben von Zeitungen im Zusammenhang mit der Prüfung des Hauptzweckes eines angebotenen Dienstes auf einen Teilbereich abgestellt werden kann, in dem überwiegend kurze Videos gesammelt bereitgestellt werden, die in anderen Bereichen des Webauftritts dieses elektronischen Mediums nur zur Ergänzung von Textbeiträgen der Online-Tageszeitung verwendet werden.
Das Verfahren ist beim EuGH unter C-347/14 New Media Online anhängig (da ich am Ausgangsverfahren beim Verwaltungsgerichtshof als Richter beteiligt bin, kommentiere ich die Sache nicht näher).

Im UK hatte die für audiovisuelle Mediendienste zuständige Regulierungsbehörde ATVOD übrigens die Video-Website der "Sun" [die Video-Website ist mittlerweile nur mehr für zahlende Abonnenten zugänglich] auch als audiovisuellen Mediendienst auf Abruf beurteilt. In zweiter Instanz wurde diese Entscheidung jedoch vn der Ofcom "umgedreht" (Entscheidung [pdf]; die mehr als 20 Anhänge zur Entscheidung sind hier abrufbar; Anhang 1 ist eine Beschreibung der Website, Anhang 3 ein Screenshot der Video-Seite der Sun). ATVOD hat in der Folge die Entscheidungen zu anderen Zeitungswebsites zurückgenommen (siehe diesen Bericht bei Out-Law.com).

In der Slowakei hatte die nationale Regulierungsbehörde die Video-Website einer Tageszeitung im Jahr 2010 zunächst nicht als Abrufdienst qualifiziert, nach einigen Änderungen an der Website im Jahr 2012 aber doch (mehr dazu hier). Näheres zur Frage der Fernsehähnlichkeit von Abrufdiensten, einschließlich einer Beschreibung nationaler Regulierungspraktiken, kann man ein einem Beitrag von Francisco Javier Cabrera Blázquez in IRIS plus 2013-4 nachlesen; auch er schreibt, dass Zeitungswebsites, die Videos bereitstellen, Klassifikationsprobleme bereiten:
Die meisten Zeitungen bieten ihren Lesern elektronische Versionen an, die online zur Verfügung stehen (entweder werbefinanziert oder im Abonnement). Zusätzlich zu den normalen textbasierten journalistischen Berichten und Kommentaren werden diese Dienste oft mit audiovisuellen Inhalten angereichert. Die Schwierigkeit liegt in diesen Fällen in der Feststellung, ob die Bereitstellung derartiger audiovisueller Inhalte der Hauptzweck der Dienste ist oder nicht und ob der Videobereich einer Zeitung einen anderen Dienst darstellt als der textbasierte Dienst, den die Zeitung anbietet.
PS: Ein weiteres neues Vorabentscheidungsersuchen zur Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste stammt vom Korkein hallinto-oikeus, dem obersten finnischen Verwaltungsgericht (schwedischer Text des Vorlagebeschlusses): C-314/14 Sanoma Media Finland. Dabei geht es zunächst um die Frage, ob ein geteilter Bildschirm, in dem auf der einen Seite der Programmabspann gezeigt wird und auf der anderen Seite eine Programmvorschau, als Werbetrenner im Sinne des Art 19 Abs 1 der Richtlinie beurteilt werden kann. Weitere Fragen beziehen sich auf die Einbeziehung von Sponsorhinweisen in die höchstzulässige Werbezeit und ob die "schwarzen Sekunden" zwischen einzelnen Werbespots und am Ende einer Werbeunterbrechung der Werbezeit zuzurechnen sind (jeweils unter Berücksichtigung des Umstands, dass die AVMD-RL eine Mindestregelung ist).

Friday, August 08, 2014

Schweizer Bundesgericht: Korrespondenz mit Journalisten, gefunden bei Hausdurchung im Haus eines Politikers(!), unterliegt dem Quellenschutz

Das schweizerische Bundesgericht hat in einem gestern veröffentlichten Urteil dem journalistischen Quellenschutz einen weiten Anwendungsbereich zugebilligt: auch Korrespondenz eines Politikers mit Journalisten, die bei einer Hausdurchsuchung im Haus des Politikers (wegen des Verdachts einer Straftat des Politikers) gefunden wird, unterliegt dem Beschlagnahmeverbot nach Art 172 und 264 der schweizerischen Strafprozessordnung.

Gegen den Politiker Christoph Blocher wird "wegen des Verdachts der Gehilfenschaft und der versuchten Verleitung zur Verletzung des Bankgeheimnisses" ein Strafverfahren geführt. Er soll einen Angestellten einer Privatbank, der Informationen über Bankgeschäfte des damaligen Präsidenten der Schweizerischen Nationalbank gehabt habe, empfangen und Unterstüzung zugesichert haben. In der Folge habe er  und "darauf hingewirkt, den Bankangestellten einem Journalisten zuzuführen, der im Zusammenhang mit den Bankgeschäften des Präsidenten der Nationalbank am Recherchieren gewesen sei."

Im Zuge des Strafverfahrens kam es zu einer Hausdurchsuchung bei Christoph Blocher, bei der auch Korrespondenz des Politikers mit Journalisten sichergestellt wurde. Das oberste Gericht der Schweiz hat nun einer Beschwerde des Politikers gegen diese Beschlagnahme stattgegeben (in anderen Punkten blieb die Beschwerde erfolglos; siehe zur Übersicht die Pressemitteilung des Bundesgerichts).


Nach Art 264 schwStPO dürfen Aufzeichnungen und Korrespondenzen aus dem Verkehr zwischen der beschuldigten Person und (unter anderem) Medienschaffenden, die im gleichen Sachzusammenhang nicht selbst beschuldigt sind, nicht beschlagnahmt werden, und zwar ausdrücklich "ungeachtet des Ortes, wo sie sich befinden".

Das Untergericht wollte den Passus "ungeachtet des Ortes, wo sie sich befinden" auf jene Gegenstände beschränken, die sich in der Sphäre der Journalisten befinden. Das Bundesgericht ist dem - mit ausführicher Begründung - nicht gefolgt (siehe dazu im Detail den Abschnitt 6 des Urteils). Ganz grob zusammengefasst: der Wortlaut ist klar, weder aus der Entstehungsgeschichte der Norm noch aus ihrem Zweck ergeben sich Gründe für eine den Gesetzeswortlaut einschränkende Auslegung, eher im Gegenteil: 
Art. 17 Abs. 3 BV [schweizerische Bundesverfassung] gewährleistet das Redaktionsgeheimnis. Ein entsprechender Schutz journalistischer Quellen ergibt sich aus der Freiheit auf Meinungsäusserung gemäss Art. 10 EMRK (BGE 136 IV 145 E. 3.1 S. 149 mit Hinweisen). Sowohl das Bundesgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte messen dem Quellenschutz als Eckpfeiler der Pressefreiheit erhebliches Gewicht zu (BGE 132 I 181 E. 2.1 S. 185; 123 IV 236 E. 8a/aa S. 247; Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 12. April 2012 i.S. Martin und andere gegen Frankreich, § 59 ff.; ZELLER, [in: Basler Kommentar, Strafrecht I, 3. Aufl. 2013], N. 10 zu Art. 28a StGB; je mit Hinweisen).
Dies spricht für einen tendenziell weiten Quellenschutz und damit gegen eine einengende Auslegung von Art. 264 Abs. 1 lit. c StPO entgegen dem Wortlaut.
In der historischen Herleitung wird übrigens die parlamentarische Debatte anlässlich der letzten einschlägigen Änderung der StPO ausführlich dargelegt. Der hier beschuldigte Politiker Christoph Blocher war damals zuständiges Regierungsmitglied,  - und sprach sich dagegen aus, den - ihm nun zum Vorteil gereichenden - Passus "ungeachtet des Ortes, wo sie sich befinden", in das Gesetz aufzunehmen (allerdings bloß, weil er der Auffassung war, dies "sei eine Selbstverständlichkeit, die nicht ausdrücklich festgehalten werden müsse.")

Und in Österreich?
Eine ausdrückliche Regelungwie in der Schweiz fehlt. Das Redaktionsgeheimnis ist in § 31 Mediengesetz geregelt, der Schutz vor Umgehung durch die im 8. Hauptstück der StPO vorgesehenen Ermittlungsmaßnahmen - ua Sicherstellung bzw Beschlagnahme - findet sich auch in § 144 in Verbindung mit § 157 StPO. Dabei geht es um die Umgehung des Schutzes des Zeugnisverweigerungsrechts des Medienmitarbeiters: durch die Beschlagnahme soll nicht seine Quelle, über die er vor Gericht schweigen darf, offengelegt werden. Unterlagen von Journalisten sind daher geschützt, auch wenn sie nicht in der Redaktion aufbewahrt werden. Bei Unterlagen Dritter - zB eben der von einem Politiker mit einem Journalisten geführte Korrespondenz, die der Politiker selbst aufbewahrt - liegt die Umgehungsabsicht jedenfalls nicht auf der Hand, wenn diese Unterlagen im Zuge eines gegen den Politiker geführten Strafverfahren bei einer Hausdurchsuchung bei ihm gefunden werden. Jedenfalls für den Regelfall würde ich daher nicht davon ausgehen, dass diese Korrespondenz des Politikers, die bei einer Hausdurchsuchung in einem gegen ihn geführten Strafverfahren gefunden wird, geschützt wäre und im Strafvefahren (bei sonstiger Nichtigkeit: § 281 Abs 1 Z 3 StPO) nicht verwertet werden dürfte.

Der Politiker als Hilfsorgan der Presse?
Nach dem Urteil des Bundesgerichts ist mir sachverhaltsmäßig nicht klar, ob die Identität des tatsächlichen Informanten - des Bankangestellten - bekannt war, oder ob die Hausdurchsuchung bei Blocher nicht vielleicht gerade darauf abzielte, diesen Bankangestellten zu identifizieren. Dann könnte man aber den Bankangestellten als "Letzt-Quelle" ansehen, deren - durch den Politiker vermittelter - Kontakt mit Journalisten eigentlich geschützt werden soll. Das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden wäre dann so etwas wie ein "Man-in-the-Middle-Angriff": die Letzt-Quelle selbst kennen sie nicht, beim Journalisten können sie die wahre Letzt-Quelle nicht ermitteln, wohl aber kennen sie den Politiker, der sich vielleicht sogar seiner vertraulichen Informationen rühmt. Ein eigentlicher "Quellenschutz" von Politikern besteht nicht, auch wenn sie - etwa als Oppositionspolitiker - eine Art watchdog-Funktion beanspruchen könnten. Für diese Zwecke gibt es allerdings die Immunität (etwa nach § 10 des Geschäftsordnungsgesetzes für den Nationalrat), durch die sie in gewissem Rahmen vor behördlicher Verfolgung wegen strafbaren Handelns geschützt werden.

Thursday, July 31, 2014

VfGH zur Vorratsdatenspeicherung - Ein altes deutsches, aber neues österreichisches (Grund-)Recht: die informationelle Selbstbestimmung

Der Verfassungsgerichtshof hat gestern die schriftliche Ausfertigung seines Erkenntnisses zur Vorratsdatenspeicherung (VfGH 27.06.2014, G 47/2012, G 59/2012, G 62/2012,
G 70/2012, G 71/2012) im Volltext veröffentlicht. Das Erkenntnis war - mit den Grundzügen der Begründung - bereits am 27.06.2014 mündlich verkündet worden (dazu im Blog hier), insoferne waren von der schriftlichen Ausfertigung keine größeren Überraschungen zu erwarten.

Hier stelle ich nur eine Übersicht der tragenden Entscheidungsgründe zusammen, für eine vertiefende Analyse (oder einen kurzen Blogpost!) fehlt mir leider derzeit die Zeit (besonders Interessierte kann ich aber darauf verweisen, dass ich das Erkenntnis am 15.10.2014, 17 Uhr, im Holoubek/Lienbacher-Judikaturseminar an der Wirtschaftsuniversität Wien besprechen werde). Ich zitiere also in der Folge großflächig aus dem Erkenntnis, die Hervorhebungen stammen aber von mir. Kurzes Fazit vorweg: juristisch interessant ist einerseits die Herleitung der Zulässigkeit der Individualanträge, andererseits die fast versteckte erstmalige Anerkennung des - in Deutschland seit mehr als drei Jahrzehnten auch so genannten - Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.

Zur Zulässigkeit, oder: außergewöhnliche Maßnahmen fordern außergewöhnliche Rechtsprechung?

Kärntner Landesregierung fasste Anfechtungsumfang zu eng
Der Antrag der Kärntner Landesregierung wurde als unzulässig zurückgewiesen, weil nur Bestimmungen des TKG 2003 angefochten wurden, "nicht aber jene Bestimmungen in der StPO und im SPG, die die 'Beauskunftung' der Vorratsdaten regeln." Damit wurden "nicht alle Bestimmungen angefochten, die für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Regelungen über die Vorratsdatenspeicherung eine untrennbare Einheit bilden." (RNr 107)

Individualanträge
Hinsichtlich der beiden Individualantragsteller grenzt der VfGH die Situation bei der Vorratsdatenspeicherung von jener ab, die er bei der Anfechtung des § 53 Abs 3a SPG vorgefunden hatte. Diese Bestimmung regelt die Auskunftspflicht der Betreiber von Telekommunikationsdiensten gegenüber Sicherheitsbehörden, ua betreffend IP-Adressen, und der VfGH hatte mit Beschluss vom 01.07.2009, G 147/08, VfSlg 18.831/2009, Individualanträge mangels unmittelbarer und aktueller Betroffenheit der Antragsteller zurückgewiesen. Erst wenn die Sicherheitsbehörden die Ermächtigung des § 53 Abs 3a SPG in Anspruch nähmen, könnte dies "unter Umständen zu einer Beeinträchtigung der Rechtssphäre der Antragsteller führen", hieß es im damaligen Bechluss (überdies verwies der VfGH damals auch auf die Antragsrechte nach dem DSG und den "kommissarischen Rechtsschutz durch den Rechtsschutzbeauftragten"). Anders sei die Situation bei der Vorratsdatenspeicherung, bei der die notwendige unmittelbare Betroffenheit der Telefon- und Internetnutzer vorliege und ein Umweg über andere Verfahren nicht zumutbar sei:

- unmittelbare Betroffenheit: Endkunde als Adressat des § 102a TKG 203
Nach Ansicht der Bundesregierung sei Adressat des § 102a TKG 2003 nicht ein "Endkunde" wie der Zweitantragsteller. Er sei daher von dieser Bestimmung nicht rechtlich betroffen. Dem ist entgegenzuhalten, dass sich die angefochtene Bestimmung des § 102a TKG 2003 auf Grund ihrer sprachlichen Fassung – wie die Bundesregierung in ihren Äußerungen betont – zwar lediglich an "Anbieter von öffentlichen Kommunikationsdiensten", "Anbieter von Internet-Zugangsdiensten", "Anbieter öffentlicher Telefondienste einschließlich Internet-Telefondiensten" und "Anbieter von E-Mail-Diensten" richtet. Sie ist jedoch ihrem Inhalt und Zweck nach von einer solchen Wirkung auf den Zweitantragsteller als "Benutzer" (vgl. § 92 Abs. 3 Z 2 TKG 2003) von öffentlichen Kommunikationsdiensten, dass damit nicht nur dessen tatsächliche Situation berührt wird, sondern auch in die – insbesondere auch durch die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte aus Art. 8 EMRK und § 1 DSG 2000 geprägte – Rechtssphäre des Zweitantragstellers eingegriffen wird. Der Zweitantragsteller ist daher jedenfalls dem Zweck und Inhalt dieser angefochtenen Bestimmung nach als Normadressat anzusehen (vgl. VfSlg. 13.038/1992, 13.558/1993, 19.349/2011). [RNr 114]
- Umwegszumutbarkeit
Die Verpflichtung und Ermächtigung zur Speicherung trifft den Zweitantragsteller unmittelbar in seiner Rechtssphäre, ohne dass es noch eines konkretisierenden Rechtsaktes bedürfte oder ein solcher vorgesehen wäre. Anders als in Fällen, in denen beispielsweise staatliche Einrichtungen durch die Rechtsordnung ermächtigt werden, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, die unter Umständen und erst im Fall ihrer Inanspruchnahme zu einer Beeinträchtigung der Rechtssphäre Rechtsunterworfener führen (vgl. zB VfSlg. 18.831/2009), liegen im vorliegenden Fall jene Umstände, die in die Rechtssphäre eingreifen, schon durch die andauernde Speicherverpflichtung und deren Befolgung vor. [RNr 116]
Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann der Verfassungsgerichtshof nicht finden, dass dem Zweitantragsteller ein zumutbarer anderer Weg zur Verfügung stünde, um die durch die behauptete Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bestimmungen bewirkte Rechtsverletzung wirksam abzuwehren: [RNr 117]
- "außergewöhnliche, besondere Umstände"
Die Möglichkeit, Feststellungsbescheide oder Entscheidungen der ordentlichen Gerichte nach dem DSG 2000 zu erwirken, sind - so der VfGH weiter - nicht geeignet, eine zumutbare Alternative zur Stellung eines Individualantrags aufzuzeigen. Der VfGH sieht ausdrücklich keinen Grund, von der Rechtsprechung zum SPG - wonach das Auskunfts- und Löschungsrecht nach dem DSG im dort entschiedenen Fall ein zumutbarer Umweg war - abzugehen (RNr 120), hält diesen Umweg aber im konkreten Fall der Vorratsdatenspeicherung aber für nicht zumutbar:
[Der Zweitantragsteller muss] jedenfalls davon ausgehen [...], dass bestimmte, ihn betreffende Daten [...] zum Zweck der "Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, deren Schwere eine Anordnung nach § 135 Abs. 2a StPO rechtfertigt" – gespeichert wurden und werden. In § 102a Abs. 1 TKG 2003 wird festgelegt, dass diese Daten nicht nur in Ausnahmefällen und betreffend einen bestimmten, eingeschränkten Personenkreis zu speichern sind [...]. [RNr 121]
Es trifft zu, dass sich der Zweitantragsteller mit einem Auskunftsbegehren nach § 26 DSG 2000 oder einem Löschungsbegehren nach § 27 DSG 2000 an jene Anbieter von öffentlichen Kommunikationsdiensten richten hätte können, hinsichtlich derer er weiß, dass sie Daten über ihn speichern. In weiterer Folge hätte er die Reaktionen der Anbieter im Rechtsweg entsprechend bekämpfen können. Auch wenn der Zweitantragsteller theoretisch unmittelbar (Art. 144 B-VG) oder mittelbar (Art. 89 Abs. 2 zweiter Satz, Art. 140 Abs. 1 Z 1 lit. a B-VG) seine Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der in Rede stehenden Bestimmungen an den Verfassungsgerichtshof herantragen könnte, so bestehen im vorliegenden Fall außergewöhnliche, besondere Umstände, die den Zweitantragsteller davon entbinden, diesen Weg zu beschreiten: [...] [RNr 122]
Die besonderen und außergewöhnlichen Umstände sind folgende: Durch die Verpflichtung zur Speicherung nach § 102a TKG 2003 und die Auskunftserteilung nach den § 135 Abs. 2a StPO sowie § 53 SPG liegt ein großer Kreis an Daten vor, die entweder bei den Anbietern von öffentlichen Kommunikationsdiensten oder (nach Erteilung von Auskünften) bei den Sicherheits- oder Strafverfolgungsbehörden gespeichert sind. Die Speicherungsverpflichtung trifft im Übrigen nicht nur jene Anbieter, mit denen der Zweitantragsteller Verträge hatte oder hat, sondern auch die Anbieter der "Kommunikationspartner" des Zweitantragstellers, dh. jener Personen, mit denen der Zweitantragsteller zB telefonierte oder denen er E-Mails sandte [...]. Der Zweitantragsteller ist mit einer kaum überblickbaren Anzahl an Anbietern konfrontiert, die über ihn auf Grund des § 102a TKG 2003 Daten gespeichert haben könnten. Es ist praktisch nicht möglich, zu eruieren, welcher Anbieter welche Daten in welchen Zeiträumen auf Grund des § 102a TKG 2003 gespeichert hat oder speichert. [RNr 124]
Die mehrfache Betonung der "Besonderheiten der Vorratsdatenspeicherung" lässt erkennen, dass dem VfGH sehr daran gelegen ist, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass die sonst strenge Prüfung der Zulässigkeit von Individualanträgen allenfalls in Hinkunft generell etwas lockerer gesehen werden könnte.

In der Sache

Maßstab § 1 DSG und Art 8 EMRK
Wie schon im Vorlagebeschluss angedeutet, betont der VfGH in seinem Erkenntnis, dass die innerstaatliche Verfassungsrechtslage nach § 1 Abs 2 DSG 2000 über Art 8 Abs 2 EMRK (und Art 7 GRC) hinausgeht (RNr 140 und RNr 147-149). Diese nationale Rechtslage ist, da die RL über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig erklärt wurde, "wieder uneingeschränkt Maßstab im Gesetzesprüfungsverfahren". (RNr 141). Daran ändert auch Art 15 Abs 1 zweiter Satz RL 2002/58/EG (mehr zu dieser Bestimmung im Blog hier) nichts (RNr 143).

Durchführung des Unionsrechts
Der VfGH zieht auch Art 7 und 8 der Grundrechtecharta (GRC) als Maßstab im Gesetzesprüfungsverfahren in Betracht. Die Voraussetzung dafür - dass die nationalen Regeln in Durchführung des Unionsrechts ergangen sind, ist schon deshalb erfüllt, "weil sie im Anwendungsbereich der RL 2002/58/EG und namentlich ihres Art. 15 Abs. 1 erlassen wurden" (RNr 144). Letztlich bleibt es aber beim Maßstab des § 1 DSG 2000 und Art 8 EMRK, weil das DSG strengere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs festlegt als Art 7 und 8 GRC (RNr 149).

Schranken für gesetzliche Beschränkungen des Grundrechts auf Datenschutz
Gesetzliche Beschränkungen des Grundrechts auf Datenschutz müssen in einer Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der mit ihnen verfolgten Ziele verhältnismäßig sein (vgl. auch Art. 8 iVm Art. 52 Abs. 1 GRC und EuGH, Digital Rights Ireland und Seitlinger ua., Rz 38, 47, 69 sowie EGMR 4.12.2008 [GK], Fall S. und Marper, Appl. 30.562/04, EuGRZ 2009, 299 [Z 101]). Derartige Gesetze dürfen die Verwendung von Daten, die ihrer Art nach besonders schutzwürdig sind, nur zur Wahrung wichtiger öffentlicher Interessen vorsehen und müssen gleichzeitig angemessene Garantien für den Schutz der Geheimhaltungsinteressen der Betroffenen festlegen (§ 1 Abs. 2 zweiter Satz DSG 2000). [RNr 157]
Auch im Fall nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässiger Beschränkungen darf gemäß dem letzten Satz des § 1 Abs. 2 DSG 2000 der Eingriff in das Grundrecht jeweils nur in der gelindesten, zum Ziel führenden Art vorgenommen werden. [...] [RNr 158]
Bei den nach § 102a TKG 2003 zu speichernden und nach § 135 Abs. 2a StPO und § 53 Abs. 3a Z 3 sowie § 53 Abs. 3b SPG zu beauskunftenden Daten handelt es sich um personenbezogene Daten iSd § 1 Abs. 1 DSG 2000. [...] Im Hinblick vor allem auf die auch von den Antragstellern angeführten Möglichkeiten der Verknüpfung mit anderen Informationen [...] besteht an den betroffenen Daten jedenfalls ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse iSd § 1 Abs. 1 DSG 2000. [...][RNr 159]
Der Umstand, dass die Speicherung durch Anbieter öffentlicher Kommunikationsdienste – also durch Private – erfolgt, die durch § 102a TKG 2003 zur Speicherung verpflichtet werden, ändert nichts am Vorliegen eines Eingriffs in § 1 DSG 2000 und Art. 8 EMRK durch den Gesetzgeber. [...] [RNr 161]
Rechtfertigung des Eingriffs?
Auch der VfGH anerkennt die Möglichkeit, dass Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung - "die wie die angefochtenen einen gravierenden Grundrechtseingriff bilden" - zur Bekämpfung schwerer Kriminalität zulässig sein können, allerdings nur, sofern sie mit den strengen Anforderungen des § 1 DSG 2000 und Art. 8 EMRK im Einklang stehen. Ob ein solcher Eingriff zulässig ist, hängt
- von der Ausgestaltung der Bedingungen der Speicherung von Daten auf Vorrat,
- den Anforderungen an deren Löschung sowie
- von den gesetzlichen Sicherungen bei der Ausgestaltung der Möglichkeiten des (behördlichen und privaten) Zugriffs auf diese Daten ab.
Die angefochtenen Vorschriften des TKG 2003, der StPO und des SPG erfüllen diese Anforderungen nicht (RNr 164).

Legitime Ziele - abstrakte Eignung
Die Vorschriften betreffend die Vorratsdatenspeicherung einschließlich der Bestimmungen über die Erteilung von Auskünften über Vorratsdaten in der StPO und im SPG dienen der Erreichung von in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen, nämlich insbesondere der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Auch konnte der Gesetzgeber im Rahmen seines Beurteilungsspielraums vertretbarerweise davon ausgehen, dass Regelungen über eine Vorratsdatenspeicherung zur Erreichung dieser Ziele abstrakt geeignet sind [...]. [RNr 165]
Verhältnismäßigkeitsprüfung
Die Schwere des Eingriffs darf aber nicht das Gewicht und die Bedeutung der mit der Vorratsdatenspeicherung verfolgten Ziele übersteigen (RNr 166). Programmatisch formuliert der VfGH dazu in RNr 167 des Urteils:
Ausgangspunkt der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung ist die Einsicht, dass das Grundrecht auf Datenschutz in einer demokratischen Gesellschaft – in der hier bedeutsamen Schutzrichtung – auf die Ermöglichung und Sicherung vertraulicher Kommunikation zwischen den Menschen gerichtet ist. Der Einzelne und seine freie Persönlichkeitsentfaltung sind nicht nur auf die öffentliche, sondern auch auf die vertrauliche Kommunikation in der Gemeinschaft angewiesen; die Freiheit als Anspruch des Individuums und als Zustand einer Gesellschaft wird bestimmt von der Qualität der Informationsbeziehungen (vgl. Berka, Das Grundrecht auf Datenschutz im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, 18. ÖJT, 2012, Band I/1, 22).
Ein altes deutsches, aber neues österreichisches (Grund-)Recht: die informationelle Selbstbestimmung
Im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung bringt der VfGH eher en passant erstmals in seiner Rechtsprechung auch ein (Grund?)Recht in Stellung, das aus der Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts bekannt ist: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (vom BVerfG im Volkszählungsurteil aus dem Jahr 1983 anerkannt). In RNr 168 heißt es:
Bedeutung und Gewicht der mit der Vorratsdatenspeicherung verfolgten Ziele [...] sind erheblich. Doch auch wenn die Regelung [...] einem wichtigen öffentlichen Interesse dient [...], ist es angesichts der "Streubreite" des Eingriffs [...], des Kreises und der Art der betroffenen Daten (siehe unten 2.3.14.5) und der daraus folgenden Schwere des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (es kann auf Daten zugegriffen werden, welche im Falle ihrer Verknüpfung nicht nur die Erstellung von Bewegungsprofilen ermöglichen, sondern auch Rückschluss auf private Vorlieben und den Bekanntenkreis einer Person zulassen [...]) erforderlich, dass der Gesetzgeber durch geeignete Regelungen sicherstellt, dass diese Daten nur bei Vorliegen eines vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesses im Einzelfall für Strafverfolgungsbehörden zugänglich gemacht werden und dies einer richterlichen Kontrolle unterliegt.
Etwas kryptisch wird dann die Weiterentwicklung der Technologie angesprochen: es sei "zu berücksichtigen, dass staatliches Handeln durch die rasche Verbreitung der Nutzung 'neuer' Kommunikationstechnologien [...] in den vergangenen zwei Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht [...] vor besondere Herausforderungen gestellt wurde und wird. [...] Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Erweiterung der technischen Möglichkeiten auch dazu führt, dass den Gefahren, die diese Erweiterung für die Freiheit des Menschen in sich birgt, in einer dieser Bedrohung adäquaten Weise entgegengetreten werden muss" (RNr 168). Den Bedrohungen durch neue Technologien, so würde ich das lesen, muss also nicht mit Papier und Bleistift begegnet werden, sondern durchaus auch durch Einsatz moderner Technologien - etwa durch Zugriff auf Kommunikationsdaten, wenn auch unter den vom VfGH benannten Einschränkungen.

StPO-Regelung zu undifferenziert - im Einzelfall muss gravierende Bedrohung vorliegen
Der VfGH würde das Abstellen auf ein bestimmte (Mindest-)Strafdrohung akzeptieren, der Gesetzgeber müsste allerdings darüber hinaus sicherstellen, "dass die Schwere der Straftat – die durch die jeweilige Strafdrohung zum Ausdruck kommt – im Einzelfall den Eingriff in verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte jener Personen rechtfertigt, die durch die Beauskunftung 'ihrer' Vorratsdaten betroffen sind. Insofern ist der von § 135 Abs. 2a iVm § 135 Abs. 2 Z 2 bis 4 StPO umfasste Kreis der Delikte zu undifferenziert und als Folge dessen zu weit gefasst. Er stellt nicht sicher, dass Auskunftsersuchen nur bei Delikten zulässig sind, für die entweder schwere Strafen drohen (zB § 207a StGB) oder für deren Aufklärung die Verwendung der auf Vorrat gespeicherten Daten wegen der Art der Tatbegehung in besonderem Maße notwendig ist (zB § 107a Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 2 StGB)." (RNr 171)

Der VfGH spricht damit eine Differenzierung zwischen "kommunikationsspezifischer" Kriminalität (etwa Stalking via Telefon oder Internet - das ist der zitierte § 107a Abs 2 Z 2 StGB) und schon an sich besonders schweren Delikten an. Mit anderen Worten: wenn das Delikt via Telefon oder Internet begangen wird, könnte Speicherung und Zugriff auf Daten schon bei geringeren Strafdrohungen zulässig sein als bei Straftaten, die ohne Bezug zu solchen Kommunikationsmitteln begangen wurden. Etwas irritierend ist dabei meines Erachtens der Hinweis auf § 207a StGB (pornographische Darstellungen Minderjähriger), da dies einerseits ein Delikt ist, das nicht - wie etwa Mord - die absolut höchsten Strafdrohungen aufweist und andererseits vielfach gerade auch über elektronische Kommunikation begangen wird - aber irgendwo musste wohl signalisiert werden, dass der VfGH mit der Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung nicht ein Vorgehen gegen Kinderpornographie verhindern wollte.

Jedenfalls reicht dem VfGH weder der Vorbehalt der gerichtlichen Bewilligung der Auskunft über Vorratsdaten, noch der Befassung des Rechtsschutzbeauftragten, da "durch § 135 Abs. 2a StPO iVm §§ 102a, 102b Abs. 1 TKG 2003 nicht gewährleistet wird, dass über Vorratsdaten nur dann Auskunft erteilt wird, wenn sie zur strafprozessualen Verfolgung und Aufklärung von Straftaten dienen, die im Einzelfall eine gravierende Bedrohung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele darstellen und die einen solchen Eingriff rechtfertigen." (RNr 172)

SPG: kein Richtervorbehalt, keine Einschränkung auf schwere Straftaten
Knapp werden die Bestimmungen des SPG abgehandelt (RNr 175-178):
Die Erteilung von Auskünften über Vorratsdaten bedarf – anders als nach der StPO – nach dem SPG keiner richterlichen Genehmigung. Die Befassung des Rechtsschutzbeauftragten gemäß § 91c Abs. 1 SPG, dem "die Prüfung der nach diesem Absatz erstatteten Meldungen" – also eine Prüfung ex post – obliegt (§ 91c Abs. 1 letzter Satz SPG), ist jedenfalls nicht ausreichend. [...] Den sicherheitspolizeilichen Befugnissen zum Zugriff auf Vorratsdaten fehlt jede auf die Schwere einer drohenden Straftat bezogene Einschränkung. [...] Damit ist den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Grundrecht auf Datenschutz durch Zugriffe nach § 53 Abs. 3a Z 3 oder § 53 Abs. 3b SPG nicht Genüge getan.
Möglichkeiten neuer Technologien rechtfertigen nicht jeden Eingriff
Hinsichtlich der nach § 102a TKG 2003 zu speichernden Daten betont der VfGH, dass die Eignung des Grundrechtseingriffs insofern abstrakt zu prüfen ist, "als sie weder einen bestimmten konkreten Prozentsatz bei der Häufigkeit der Anwendung der Rechtsvorschrift in der Praxis voraussetzt, noch eine bestimmte 'Erfolgsquote' bei der Aufklärung von Straftaten." Der VfGH prüft nicht im Detail, ob der Gesetzgeber bei jedem zu speichernden Datum davon ausgehen konnte, dass es dem ins Auge gefassten Zweck der Maßnahme wirksam diene, sondern er dreht gewissermaßen die Beweislast um: "Es steht [...] keineswegs bei allen Daten, deren Speicherung auf Vorrat und Verarbeitung § 102a TKG 2003 in Umsetzung der nicht mehr gültigen Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie anordnet, von vornherein fest, dass ihre Speicherung verhältnismäßig ist." Ohne Überleitung folgt darauf ein weiterer Kernsatz des Erkenntnisses (RNr 180):
Die bloße Möglichkeit, neue Technologien zu zusätzlichen Überwachungsmaßnahmen zu nutzen, rechtfertigt nicht von vornherein einen Eingriff in die von § 1 DSG 2000 und Art. 8 EMRK geschützte Freiheitssphäre.
"Streubreite": nahezu alle Betroffenen geben keinen Anlass für Einschreiten
Von der durch § 102a TKG 2003 angeordneten Vorratsdatenspeicherungsverpflichtung ist [...] nahezu die gesamte Bevölkerung betroffen [...]. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Beschluss VfSlg. 19.702/2012 festgestellt hat, erfasst die Vorratsdatenspeicherung fast ausschließlich Personen, die keinerlei Anlass – in dem Sinne, dass sie ein Verhalten gesetzt hätten, das ein staatliches Einschreiten erfordern würde – für die Datenspeicherung gegeben haben [...]. Vielmehr nutzt der ganz überwiegende Anteil der Bevölkerung öffentliche Kommunikationsdienste zur Ausübung von Grundrechten, namentlich vor allem der Meinungsäußerungs-, Informations- und Kommunikationsfreiheit. [RNr 183]
Der Zweitantragsteller macht geltend, dass er unbescholten sei. Dies trifft auf nahezu alle von der Vorratsdatenspeicherung Betroffenen zu. Im Hinblick auf diese Mehrheit wiegt die Beschränkung des Rechts auf Geheimhaltung ihrer personenbezogenen Daten [...] besonders schwer. [RNr 184]
[I]m Falle einer Erteilung von Auskünften über Vorratsdaten im Rahmen des § 135 Abs. 2a StPO und des § 53 SPG [kann] nicht ausgeschlossen werden, dass sich aus den Vorratsdaten Schlüsse ziehen lassen, die dem Anspruch auf Geheimhaltung personenbezogener Daten, wie er durch § 1 Abs. 1 DSG 2000 gewährleistet wird, zuwiderlaufen. Hiebei sind vor allem auch die Möglichkeiten der Verknüpfung von in unterschiedlichen Zusammenhängen ermittelten Daten zu berücksichtigen (Berka, aaO, 76 und 111 f.). Als entsprechend schwer ist daher auch der Eingriff im Hinblick auf den Kreis und die Art der gespeicherten Daten zu werten. [RNr 186]
Nicht überblickbarer Kreis von Speicherungsverpflichteten - kein ausreichender Schutz vor Missbrauch
Zu bedenken ist auch, so der VfGH in RNr 187, "dass angesichts der Vielzahl der Anbieter öffentlicher Kommunikationsdienste und damit von Speicherungsverpflichteten auch ein nicht überblickbarer Kreis von Personen potentiell Zugriff auf gemäß § 102a TKG 2003 gespeicherte Daten hat." Der VfGH verweist in diesem Zusammenhang auf das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Umsetzung der Vorratsdaten-RL, in der das diesbezüglich bestehende Missbrauchspotential angesprochen wurde (BVerfGE 125, 260 [S 320 {RN 212}]). Der VfGH anerkennt zwar, dass der österreichische Gesetzgeber hinsichtlich dieses Risikos Vorkehrungen getroffen hat, die über die Anforderungen der Vorratsdaten-RL hinausgehen (insbesondere die ausdrückliche Verpflichtung zur Verschlüsselung) und in § 109 TKG 2003 Strafbestimmungen vorgesehen hat, die dem Schutz vor Missbrauch dienen. Es fehlen ihm aber insbesondere Bestimmungen "die eine missbräuchliche Verwendung von Vorratsdaten durch die zur Speicherung verpflichteten Anbieter unter Strafe stellen (vgl. dagegen § 301 Abs. 3 StGB betreffend Mitteilungen über den Inhalt von Ergebnissen aus einer Auskunft über Vorratsdaten)" (RNr 187). Der VfGH hält fest,
dass (sofern keine gerichtlich strafbare Tat vorliegt) die "bloße" unbefugte Verwendung von Daten, die im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung erfasst werden, nicht mit Verwaltungsstrafe bedroht ist, sodass insofern ein Missbrauch dieser Daten mit den Mitteln des (Verwaltungs-)Strafrechts nicht bekämpft wird. Darüber hinaus hat die mündliche Verhandlung ergeben, dass die Datenschutzkommission bzw. die Datenschutzbehörde seit Inkrafttreten der Vorschriften über die Vorratsdatenspeicherung zur Überprüfung der Einhaltung dieser Vorschriften nicht tätig geworden ist. [RNr 190]
Bereits Speicherung - nicht erst Zugriff auf Daten - ist ein Eingriff von besonderem Gewicht
Ungeachtet des Umstandes, dass der Gesetzgeber die Speicherung von Daten auf Grund des § 102a TKG 2003 zwar explizit und ausschließlich zur Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, deren Schwere eine Anordnung nach § 135 Abs. 2a StPO rechtfertigt, zulässt (§ 102a Abs. 1 letzter Satz TKG 2003) und damit einen gesetzlich festgelegten Zweck schafft, liegt bereits in der Speicherung ein Eingriff von besonderem Gewicht. [RNr 191]
Dabei ist zu veranschlagen, dass für die Daten jener Betroffenen, die keinerlei Anlass zur Speicherung gegeben haben [...] das einen Teil des Grundrechts auf Datenschutz bildende Recht auf Löschung gemäß § 1 Abs. 3 DSG 2000 (vgl. zB VfSlg. 16.150/2001) für den in § 102a TKG 2003 angeordneten Zeitraum von sechs bzw. sieben Monaten (§ 102a Abs. 8 TKG 2003) nicht gegeben ist. Hinzu kommt, dass Löschungsbegehren nur hinsichtlich jener speicherungspflichtigen Anbieter gestellt werden können, von denen der Betroffene weiß, dass diese ihn betreffende Vorratsdaten gespeichert haben. [RNr 192]
Durch Aufhebung des § 135 Abs 2a StPO verliert die Speicherverpflichtung nach § 102a TKG 2003 zudem ihren gesetzlich festgelegten Zweck, was unmittelbar zur Verfassungswidrigkeit führt: "Eine Speicherung auf Vorrat ohne konkreten Zweck – sei es auch nur für einen kurzen Zeitraum – wäre [...] jedenfalls verfassungswidrig" (RNr 194).

Regeln zur Löschung unklar
Für den VfGH ist auch unklar, ob die auf Vorrat gespeicherten Daten nach Ablauf der Frist unwiderruflich zu löschen sind, was aber jedenfalls erforderlich wäre: "In Anbetracht der Schwere des Eingriffs an sich lassen die Vorschriften betreffend die Vorratsdatenspeicherung [...] Bestimmungen vermissen, die für die von der Speicherung Betroffenen und die zur Speicherung Verpflichteten klarstellen, dass mit der 'Löschung' der auf Vorrat gespeicherten Daten der Ausschluss von deren Wiederherstellbarkeit verbunden zu sein hat [...]. Eine 'Löschung' in dem Sinn, dass bloß der Zugriff auf die weiterhin existenten (und rekonstruierbaren) Daten verhindert wird, genügt den dargelegten strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen [...] nicht." (RNr 196).

Fristbeginn bei "always on"-Diensten?
Schließlich fehlt es auch an einer klaren Regelung für den Fristenlauf bei "always on"-Diensten. Die - von der Bundesrgierung in der Verhandlung dargelegte - Möglichkeit einer "verfassungskonformen" Auslegung vermag "aber keine hinreichende gesetzliche Determinierung des Grundrechtseingriffs zu ersetzen" (RNr 198).

Fazit: nicht verhältnismäßig
Im Ergebnis sind die antragstellenden Parteien daher insoweit im Recht, als sie der Sache nach geltend machen, dass die Regelungen in ihrem Zusammenhang nicht verhältnismäßig sind: Die Beschränkungen dieses Grundrechts auf Datenschutz nach dem Gesetzesvorbehalt des § 1 Abs. 2 DSG 2000 wären nur auf Grund von Gesetzen zulässig, die aus den in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Gründen notwendig sind und die ausreichend präzise, also für jedermann vorhersehbar, regeln, unter welchen Voraussetzungen die Ermittlung bzw. die Verwendung personenbezogener Daten für die Wahrnehmung konkreter Verwaltungsaufgaben erlaubt ist. Gesetzliche Beschränkungen des Grundrechts auf Datenschutz müssen das gelindeste Mittel zur Zielerreichung bilden und in einer Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der mit ihnen verfolgten Ziele verhältnismäßig sein.
Diese Anforderungen erfüllen die Regelungen betreffend die Vorratsdatenspeicherung in ihrer Zusammenschau (§ 135 Abs. 2a StPO iVm § 102a TKG 2003, § 53 Abs. 3a Z 3 SPG iVm § 102a TKG 2003, § 53 Abs. 3b SPG iVm § 102a TKG 2003) aus den angeführten Gründen nicht. [RNr 199]