Reuters hat angefangen: EU leans towards broader net neutrality rules hieß es vor vier Tagen; dann kamen die anderen Medien, in denen zB von einer geplanten Verwässerung der Netzneutralität durch die EU die Rede war, und nun folgte auch EDRi (European Digital Rights), mit der Schlagzeile: Leaked documents show net neutrality may be in danger!
Was gibt es aber wirklich Neues? Meines Erachtens nicht allzu viel, wie gerade auch die beiden Dokumente zeigen, die EDRi "geleakt" hat (und die auch Grundlage für den Reuters-Bericht waren). Es handelt es sich um eine Note der italienischen Präsidentschaft an die Delegationen (in der Ratsarbeitsgruppe Telekommunikation und Informationsgesellschaft) mit Anhang, die der Vorbereitung der jüngsten Ratsarbeitsgruppensitzung dienten.
Um die Bedeutung solcher Dokumente einschätzen zu können, muss man ein wenig Verständnis für den Gesetzgebungsprozess auf Unionsebene aufbringen (siehe zum Verfahren gerade in dieser Sache im Blog schon hier [Punkt 3.]) und auch den Gesamtzusammenhang berücksichtigen.
Der Zusammenhang: es geht nicht nur um Netzneutralität, sondern um viel mehr: die Telekom-Binnenmarkt-Verordnung
Erstens geht es um das Rechtssetzungsvorhaben der Telekom-Binnenmarkt-Verordnung (oder "Vernetzer Kontinent"-Verordnung; oft auch im deutschen Sprachraum englisch als TSM- bzw "connected continent"-regulation bezeichnet). Der von der Kommission dazu im September 2013 vorgelegte Vorschlag (zu dem ich zB hier geschrieben habe) war ambitioniert, sowohl im Zeitplan als auch im Regelungsgegenstand - da war etwa eine EU-weite Genehmigung für "europäische Anbieter" genauso vorgesehen wie eine massive Stärkung der Rolle der Kommission bei der Frequenzverwaltung und der Wettbewerbsregulierung - und als eine Art Köder für das Europäische Parlament sollten auch weitere Einschnitte (aus Unternehmenssicht) bzw Verbesserungen (aus Kundensicht) beim Roaming dienen. Es war politisch durchaus schlau geplant - die Kommission rechnete damit, dass das Parlament die Roaming-Änderungen publikumswirksam noch vor der Europawahl beschließen wollte und dass im "Roaming-Windschatten" und dem durch die Wahlen gegebenen Zeitdruck das gesamte Vorhaben leichter durchgehen könnte.
Allerdings war das von der Kommission vorgelegte Gesamtpaket dann doch in manchen Punkten - vor allem bei der europaweiten Genehmigung und bei der Zentralisierung der Frequenzverwaltung - so überzogen, dass das geplante Denkmal für die scheidende Kommissarin Kroes schon vor der Errichtung langsam zu bröckeln begann. Im Rat - und das heißt zunächst einmal in der Ratsarbeitsgruppe, die auf Ebene der FachbeamtInnen der Mitgliedstaaten die Position des Rates vorbereitet - war der Widerstand ziemlich breit. Neben inhaltlichen Bedenken hing das sicher auch mit dem eher merkwürdigen rechtstechnischen Zugang zusammen: die Kommission hatte eine Verordnung vorgeschlagen, die quer zum bisherigen, überwiegend aus Richtlinien bestehenden Rechtsrahmen lag. Es war weder ein vollständiger "Review" des bestehenden Rechtsrahmens, noch eine bloße Ergänzung. Die Verordnung hätte damit auch massive Unschärfen in der Anwendung und Probleme bei der Anpassung der bestehenden nationalen Rechtsvorschriften mit sich gebracht. Das heißt also: ganz unabhängig vom Inhalt gab es durchaus gute Gründe, dem Verordnungsvorschlag mit Skepsis zu begegnen - und inhaltlich stand das Thema Netzneutralität nicht im Vordergrund der mitgliedstaatlichen Überlegungen.
Das Europäische Parlament, von den praktischen Problemen der Umsetzung bzw Anwendung in den Mitgliedstaaten doch deutlich weiter entfernt als die FachbeamtInnen in der Ratsarbeitsgruppe, hat sich mit dem Verordnungsvorschlag befasst und im April in erster Lesung eine legislative Entschließung getroffen. Dabei erzielten die Netzneutralitäts-Befürworter einen Erfolg, da ihre Positionen teilweise in die Entschließung Eingang gefunden haben (im Detail dazu im Blog hier [Punkt 2]). Abgesehen davon war aber die legislative Entschließung des Parlaments in manchen anderen Punkten so, dass ein Übernehmen dieser Position durch den Rat völlig ausgeschlossen ist.
Aktueller Stand des Gesetzgebungsverfahrens
Ich habe schon im April die Pläne der damaligen griechischen Ratspräsidentschaft, die "allgemeine Ausrichtung" (ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Annahme einer Position des Rates in erster Lesung) noch im Juni zu erreichen, für sehr unwahrscheinlich gehalten. Tatsächlich ist es bislang noch nicht zu dieser allgemeinen Ausrichtung gekommen, und die italienische Ratspräsidentschaft plant diesen Schritt nun für die kommende Ratstagung der Telekomminister am 27.11.2014.
In diesem Zusammenhang sind nun die "geleakten" Dokumente zu verstehen. In der Ratsarbeitsgruppe war der Fortschritt bisher ziemlich schleppend, von der Annahme einer Position zum gesamten Verordnungsvorschlag ist man weit entfernt. Das Scheitern des gesamten Rechtssetzungsvorhabens steht ernsthaft im Raum. Das ergab sich auch aus dem Arbeitspapier der italienischen Ratspräsidentschaft aus dem September, in dem versucht wurde, einen möglichen Ausweg aus den ins Stocken geratenen Verhandlungen in der Ratsarbeitsgruppe zu finden. Auch dieses Papier kam nicht besonders gut an, 16 Mitgliedstaaten, so hieß es informell, seien explizit dagegen gewesen, den Kommissionvorschlag überhaupt weiter zu behandeln, nur 6 ausdrücklich dafür (der Rest war indifferent). Die Themen Roaming und Netzneutralität waren damals noch nicht einmal intensiver beraten worden.
Nun steht also das Ende der italienischen Ratspräsidentschaft bevor, und sie bemüht sich natürlich, noch eine erkennbare Wegmarke zu setzen, bevor der nächste Mitgliedstaat sein Glück mit dem eher unglücklichen Verordnungsvorschlag versuchen darf. Daher auch der Versuch, mit der "geleakten" Note der Präsidentschaft wenigstens irgendeine Art von Kompromisspapier vorzulegen, das in möglichst offenen Worten gefasst ist und damit eine Schein-Übereinstimmung ermöglicht - so nach dem Motto: wenn nichts wirklich drinsteht, kann jeder Mitgliedstaat hineininterpretieren, was er für richtig hält. So ist das Scheitern wenigstens nicht ganz so offensichtlich dokumentiert.
Heute tagt der Ausschuss der Ständigen Vertreter I (COREPER I), die nächsthöhere Ebene über der Ratsarbeitsgruppe. Der COREPER dient der Vorbereitung der Ratstagungen und befasst sich - unter vielen anderen Angelegenheiten - auch mit dem "Conected Continent"-Verordnungsvorschlag (siehe die Tagesordnung). Für die Ratstagung am 27.11.2014 wird versucht, eine "allgemeine Ausrichtung" zu erreichen, die notgedrungen relativ vage bleiben wird, und meines Erachtens auch kaum zu Verhandlungen mit dem Parlament taugen kann. Netzneutralität ist dabei ein interessantes, aber nicht das sperrigste Thema.
Wie geht es weiter?
Das Interessanteste an der Note der Ratspräsidentschaft ist eigentlich der Vorspann, in dem das Umfeld skizziert wird, in dem das aktuelle - mehr oder weniger gescheiterte - Gesetzgebungsvorhaben zu sehen ist.
Die - mittlerweile neue - Kommission wird sich wohl kaum darin verbeißen, das geplante Denkmal für Neelie Kroes noch zu retten und die "Connected Continent"-Verordnung unbedingt durchzuboxen - sie hat mittlerweile signalisiert, den regulären "Review" des Rechtsrahmens für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste in Angriff nehmen zu wollen. Eine Konsultation ist für 2015 (wohl noch im ersten Quartal) geplant, legislative Vorschläge eher Anfang 2016. Auch andere legislative Instrumente (insbesondere die Frequenzentscheidung) stehen vor einem Review. Die Tendenz geht ganz offensichtlich dazu, den Verordnungsvorschlag als Ganzes jedenfalls zu vergessen, und gleich Nägeln mit Köpfen zu machen, also eine ernsthafte Reform des Rechtsrahmens in Angriff zu nehmen.
Im Hinblick auf den politischen und medialen Druck, den Neelie Kroes mit ihrem Parlamentarier-Zuckerl der weiteren Reduzierung bzw Abschaffung der Roamingentgelte aufgebaut hat, wird man aber wohl kaum umhin kommen, den Roaming-Aspekt auch vom Rat vorzuziehen. Insofern könnte vom gesamten Projekt der "Connected Continent"-Verordnung vielleicht auch bloß eine Art Novelle zur Roaming-Verordnung übrig bleiben.
Das Thema Netzneutralität hat allerdings deutlich an öffentlichem Interesse gewonnen, und so steht - darauf deutet die "geleakte" Note der Ratspräsidentschaft hin - auch zur Debatte, neben Roaming auch das Thema Netzneutralität gegenüber dem regulären "Review" des Rechtsrahmens vorzuziehen. Ich bin nicht sicher, ob man sich das aus Sicht der Netzneutraliätsbefürworter wirklich wünschen kann: denn wenn im Roamingbereich die Netzbetreiber weiter nachgeben müssen, dann steht als Ausgleich für sie natürlich eine möglichst weiche Netzneutralitätsregelung (zB im Sinne der von der italienischen Ratspräsidentschaft angedeuteten bloßen "Prinzipien") im Raum. Insofern besteht die von EDRi diagnostizierte Gefahr natürlich wirklich.
Wirklich neu ist das alles freilich nicht. Die aktuellen Dokumente bestätigen nur die bisherige Einschätzung des Gesetzgebungsprozesses. Dazu verweise ich nochmals auf mein Blogpost aus dem April, wo ich das Verfahren näher geschildert habe, und auf die Veranstaltung der Rundfunk und Telekom Regulierungs GmbH vom 14.10.2014, die auf der Website der RTR dokumentiert ist, wo ich mich ebenfalls mit den möglichen Szenarien befasst habe.
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