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Thursday, December 12, 2013

EuGH-Generalanwalt zur Vorratsdatenspeicherung: RL mit Grundrechtecharta unvereinbar, aber Ziel legitim

Pedro Cruz Villalón, Erster Generalanwalt am EuGH, hat heute seine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C-293/12 Digital Rights Ireland und C-594/12 Seitlinger ua erstattet (Schlussanträge, Pressemitteilung des EuGH). Zur Entscheidung steht in diesen zwei Verfahren im Kern die Frage, ob die Richtlinie 2006/24 über die Vorratsspeicherung von Daten mit der Grundrechtecharta vereinbar - und damit gültig - ist (siehe im Blog dazu bisher am 9.5.2010, am 18.6.2012, am 19.6.2012, am 18.12.2012 und am 14.6.2013).

Der Generalanwalt kommt zum Ergebnis, dass die Richtlinie in ihrer Gesamtheit mit Art 52 Abs 1 der Grundrechtecharta unvereinbar ist, da sie nicht bereits selbst die unabdingbaren Grundsätze enthält, die die Mitgliedstaaten zur Beschränkung des Zugangs zu den Daten und ihrer Auswertung garantieren müssen.

Außerdem ist nach Ansicht des Generalanwalts Art 6 der RL 2006/24 mit den Art 7 und 52 Abs 1 GRC unvereinbar, soweit er eine Speicherdauer von bis zu zwei Jahren vorschreibt.

Der Generalanwalt schlägt dem EuGH auch vor, die zeitlichen Wirkungen eines (ihm in der Frage der Gültigkeit folgenden) Urteils zu beschränken, was eine Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene "in angemessener Frist" unter Berücksichtigung des Urteils ermöglichen würde. Die Richtlinie würde demnach nicht gleich aus dem Rechtsbestand eliminiert, sondern wäre weiter gültig bis zur Neuregelung.

Eine erste Einschätzung (Details zu den Schlussanträgen weiter unten)
Der Entscheidungsvorschlag klingt auf den ersten Blick spektakulärer, als er im Ergebnis ist. Die VDS-RL würde zwar fallen, aber die Vorratsdatenspeicherung wäre damit nicht tot, sondern im Grundsatz als geeignetes Mittel für das legitime Ziel der Verfolgung schwerer Straftaten anerkannt. Auswüchse - insbesondere lange Speicherdauer und Datenzugriff wegen minderschwerer Delikte - müssten freilich zurückgefahren und Rechtschutzgarantien ausgebaut werden.

Denn der Generalanwalt bestätigt in seinen Schlussanträgen die Kritiker der Vorratsdatenspeicherung zwar darin, dass es sich um "einen besonders qualifizierten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens" handelt, erkennt aber auch ein legitimes Ziel für die Vorratsdatenspeicherung an, dem durch eine entsprechend "schonende" Ausgestaltung Rechnung getragen werden könnte. Dazu wäre auf Unionsebene eine präzise Regelung des Zugangs zu den Daten und der Verwendung der Daten und eine maximale Speicherdauer von weniger als einem Jahr erforderlich.

Generalanwalt Cruz Villalón, der in Telekomsachen zB auch schon die Schlussanträge in den Rechtssachen C-70/10 Scarlet Extended ("Internetsperren"; siehe hier) und jüngst C-314/12 UPC Telekabel Wien ("kino.to"; siehe hier) geschrieben hat (und der auch in die Schlussanträge zum bislang wohl wichtigsten Urteil des EuGH zur Grundrechtecharta, C-617/10 Åkerberg Fransson - im Blog dazu hier - verfasst hat), hat damit eine klassische grundrechtliche Analyse vorgenommen, in der er zunächst eine Grundrechtseinschränkung durch die Vorratsdatenspeicherung aufgrund der VDS-RL feststellt, und dann schon im zweiten Prüfschritt - ob die Einschränkung im Sinne des Art 52 Abs 1 GRC "gesetzlich vorgesehen" ist - zum Ergebnis kommt, dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage fehlt (weil die RL nicht ausreichend präzis ist, was den Zugang zu den Daten und deren Auswertung betrifft).

Die weiteren Ausführungen zu den Fragen, ob die Einschränkungen einem legitimen Ziel iSd Art 52 Abs 1 GRC dienen und ob sie verhältnismäßig sind, wären daher an sich gar nicht mehr notwendig gewesen, können aber für eine gegebenenfalls vom Unionsgesetzgeber vorzunehmende Neuregelung Hinweise geben. Außerdem sind diese Überlegungen gewissermaßen die "fall back"-Position, falls der EuGH der viel grundsätzlicheren Hauptargumentationslinie nicht folgen möchte.

Die juristisch interessante Neuerung der Schlussanträge ist die zentrale Argumentationslinie des Generalanwaltes, wonach es nicht ausreicht, wenn der Unionsgesetzgeber in der - einen Grundrechtseingriff bewirkenden - Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet, die dafür notwendigen grundrechtlichen Garantien zu schaffen, sondern selbst bereits in der Richtlinie zumindest die Grundprinzipien festlegen muss.

Bei den vom Generalanwalt - nur beispielhaft - verlangten Garantien für eine Beschränkung des Zugangs zu Vorratsdaten ist hervorzuheben, dass es nicht nur um ganz allgemeine Regeln geht (insbesondere eine engere Fassung der Straftatbestände, für die ein Datenzugriff zulässig ist), sondern explizit auch die Möglichkeit von Ausnahmen verlangt wird, die neben den vom Generalanwalt erwähnten Ärzten wohl zB auch Rechtsanwälten, Priestern oder Journalisten zugute kommen könnten.

Wie geht es weiter?
Die Schlussanträge des Generalanwalts dienen der Entscheidungsvorbereitung des EuGH und enthalten einen Entscheidungsvorschlag, binden den EuGH aber natürlich nicht. Die Eigenständigkeit einer in diesen Rechtssachen entscheidenden Großen Kammer und eines in der Sache engagierten Berichterstatters am Gerichtshof sollte man nicht unterschätzen. Ich würde nicht ausschließen, dass der EuGH die zentrale Argumentationslinie des Generalanwalts verlässt und sich mehr auf die Prüfung dessen einlässt, was in der Richtlinie steht (statt - wie der Generalanwalt - den Mangel vor allem darin zu finden, was nicht in der RL steht), sich also vor allem mit der Speicherdauer befasst und vielleicht auch mit dem Grundkonzept der (ausnahmslosen) Vorratsdatenspeicherung.

Wetten würde ich überhaupt auf kein Ergebnis eines Gerichtsverfahrens, aber wenn ich zwei Dinge als sehr unwahrscheinlich fast ausschließen würde, dann einerseits, dass der EuGH die Höchstspeicherdauer von zwei Jahren akzeptieren wird, und andererseits, dass er der Vorratsdatenspeicherung eine grundsätzliche (System-)Absage erteilen könnte. Irgendwo dazwischen - mit kürzerer Frist, mehr Ausnahmen und mehr Kautelen für die Datenverwertung - wird das Ergebnis wohl zu liegen kommen. Mit einem Urteil rechne ich noch im ersten Halbjahr 2014.

Auswirkungen für Österreich
Sollte der EuGH dem Generalanwalt folgen, so wären die Auswirkungen auf Österreich vergleichsweise gering - die sechsmonatige Speicherdauer wäre in Ordnung, dem System nach auch das Auskunftsverfahren nach der StPO (wohl nicht mehr nach dem SPG). Anzupassen wäre gegebenenfalls die Aufzählung der Gründe für einen Datenzugriff in § 135 Abs 2 Z 2 bis 4 StPO, jedenfalls wenn der EuGH deutlicher wird, wie die Straftatbestände, die den Zugang zu Vorratsdaten rechtfertigen, präzisiert werden sollen. Neu zu schaffen wären insbesondere Ausnahmen für bestimmte geschützte Geheimnisträger und auch Informationspflichten und Löschpflichten für die Empfänger der Vorratsdaten. Aber alles in allem würde dies eher eine Anpassung als eine Revolution sein.

Auswirkungen für Deutschland
An sich ändern die Vorabentscheidungsverfahren nichts an der Verpflichtung Deutschlands, die VDS-RL umzusetzen - diese Verpflichtung fiele erst weg, wenn der EuGH die Ungültigkeit der Richtlinie feststellen sollte. Sofern der EuGH aber die zeitlichen Wirkungen seines Ausspruchs so festsetzt wie vom Generalanwalt vorgeschlagen, bliebe trotz Ungültigerklärung die Pflicht zur Umsetzung sogar aufrecht. Dennoch gehe ich erst mal davon aus, dass das vor dem EuGH anhängige Zwangsgeldverfahren C-329/12 Kommission / Deutschland (im Blog dazu hier) wegen der Nichtumsetzung der RL jetzt noch bis zur Entscheidung des EuGH in den hier besprochenen Verfahren liegen bleiben wird.

Der Koalitionsvertrag der deutschen (wahrscheinlich) zukünftigen Regierungsparteien kündigt (auf S. 147) die Umsetzung der VDS-RL an, mit Beschränkung des Datenzugriffs (nur bei schweren Straftaten nach richterlicher Genehmigung bzw zur Abwehr akuter Gefahren für Leib und Leben) und Speicherverpflichtung auf Servern in Deutschland. Außerdem wollen die Koalitionsparteien auf EU-Ebene "auf eine Verkürzung der Speicherfrist auf drei Monate hinwirken". Damit klingt der Koalitionsvertrag schon sehr nach dem, was bei den Verfahren vor dem EuGH - und danach einer Neuregelung durch den Unionsgesetzgeber - im Ergebnis herauskommen könnte.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Schlussanträge des Generalanwalts eine Konfrontation mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht elegant vermeiden. Das BVerfG hatte ja die deutsche Umsetzung als grundgesetzwidrig aufgehoben, aber ausdrücklich keinen Anlass gesehen, Fragen zur Gültigkeit der VDS-RL nach Luxemburg vorzulegen; das BVerfG vertrat damit die Auffassung, dass die VDS-RL verfassungskonform umsetzbar sei. Folgt man dem Generalanwalt, dann könnte das auch stimmen: er verweist ja ausdrücklich auf die meist "maßvolle" Umsetzung durch die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Speicherfrist und weiters auf die Möglichkeit, dass die auf Unionsebene in der VDS-RL fehlenden Garantien für die Beschränkung des Zugangs zu Vorratsdaten "im Rahmen der von den Mitgliedstaaten erlassenen Umsetzungsmaßnahmen korrigiert worden sein" können. Auf diese Weise könnte sich eine gesichtswahrende Lösung für Karlsruhe abzeichnen.

(Ich halte diese Argumentation des Generalanwalts übrigens nicht für hundertprozentig stringent, da er unter den Grundprinzipien für die Beschränkung des Zugangs zB auch Ausnahmen für Ärzte verlangt, was aber zumindest nach dem Wortlaut der Richtlinie nicht mit dieser vereinbar ist - in diesem Punkt könnte also eine Korrektur der Richtlinienmängel auf Ebene des Mitgliedstaats nicht richtlinienkonform erfolgt sein.)

Nun zu den Schlussanträgen mehr im Detail:

Im Wesentlichen betroffenes Grundrecht: Art 7 Grundrechtecharta
Zu Art 11 GRC (Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit) hält der Generalanwalt fest, dass "das diffuse Gefühl des Überwachtwerdens, das die Umsetzung der VDS-RL erzeugen kann, geeignet ist, entscheidenden Einfluss auf die Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit durch die Unionsbürger auszuüben, und dass folglich auch ein Eingriff in das durch Art. 11 der Charta garantierte Recht vorliegt". Dieser "chilling effect" (zu dem der EuGH nicht über genügend Informationen verfüge) sei aber nur eine Nebenfolge eines Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens (RNr 52); wohl aber stellt sich aufgrund des Gefühls des Überwachtwerdens die Frage der Dauer der Speicherung "in besonders eindringlicher Weise" (RNr 72).

Die VDS-RL erweist sich auf den ersten Blick als ein Eingriff in das Recht auf Schutz personenbezogener Daten nach Art 8 GRC (RNr 58), könne aber den Anforderungen von Art 8 Abs 2 GRC (legitime gesetzliche Grundlage, Auskunfts- und Berichtigungsrecht, Überwachung durch unabhängige Stelle) "vollkommen gerecht werden"; es sei davon auszugehen, dass sie nicht mit Art 8 GRC unvereinbar sei (RNr 60). Das bedeutet aber keineswegs, dass sie auch mit Art 7 GRC (Achtung des Privat- udn Familienlebens) voll und ganz vereinbar wäre:
61.   Da die 'Privatsphäre' den Kern der 'Persönlichkeitssphäre' darstellt, ist nämlich nicht auszuschließen, dass eine Regelung, mit der das Recht auf Schutz personenbezogener Daten im Einklang mit Art. 8 der Charta eingeschränkt wird, gleichwohl als unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 7 der Charta anzusehen ist.
Dann unterscheidet der Generalanwalt zwischen personenbezogenen und "mehr als personenbezogenen" Daten:
64. Es gibt nämlich Daten, die als solche personenbezogen sind, d. h. insofern, als sie eine Person individualisieren; dazu gehören etwa solche, die in der Vergangenheit auf einem Passierschein enthalten sein konnten, um nur ein Beispiel zu nennen. Hierbei handelt es sich um Daten, die häufig eine gewisse Dauerhaftigkeit und häufig auch eine gewisse Neutralität aufweisen. Sie sind rein personenbezogen, und man könnte generell sagen, dass der Aufbau und die Garantien des Art. 8 der Charta auf sie am besten zugeschnitten sind.
65. Es gibt aber auch Daten, die gewissermaßen mehr als personenbezogen sind. Hierbei handelt es sich um Daten, die sich in qualitativer Hinsicht im Wesentlichen auf das Privatleben – auf das Geheimnis des Privatlebens, einschließlich der Intimität – beziehen. In diesen Fällen beginnt das durch die personenbezogenen Daten aufgeworfene Problem nämlich sozusagen bereits 'im Vorfeld'. Das Problem, das sich dann stellt, betrifft noch nicht die mit der Datenverarbeitung verbundenen Garantien, sondern – vorgelagert – die Daten als solche, also die Tatsache, dass die Umstände des Privatlebens einer Person die Form von Daten angenommen haben und diese Daten infolgedessen für eine Verarbeitung in Betracht kommen.
66. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass solche Daten ein Problem aufwerfen, das im Wesentlichen vor dem ihrer Verarbeitung liegt und in erster Linie unter das durch Art. 7 der Charta garantierte Privatleben und nur in zweiter Linie unter die Garantien fällt, die sich auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 8 der Charta beziehen.
Die Gültigkeit der VDS-RL ist daher hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt des Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens zu prüfen.

Besonders qualifizierter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens
Für den Generalanwalt unterliegt es keinem Zweifel, dass die VDS-RL als solche einen Eingriff in das nach Art 7 GRC geschützte Recht darstellt (RNr 68) - und er betont, dass es sich um einen "besonders qualifizierten Eingriff" handelt (RNr 70 ff). Zwar nimmt die VDS-RL Inhaltsdaten von ihrem Anwendungsbereich aus, aber "die Erhebung und vor allem die Vorratsspeicherung vielfältiger, im Rahmen des größten Teils der laufenden elektronischen Kommunikation der Unionsbürger erzeugter oder verarbeiteter Daten in gigantischen Datenbanken [stellen] selbst dann einen qualifizierten Eingriff in das Privatleben dieser Bürger dar, wenn sie nur die Voraussetzungen dafür schaffen würden, dass ihre sowohl persönlichen als auch beruflichen Tätigkeiten nachträglich kontrolliert werden können. Die Erhebung dieser Daten schafft die Voraussetzungen für eine Überwachung, die, auch wenn sie nur vergangenheitsbezogen bei ihrer Auswertung erfolgt, das Recht der Unionsbürger auf das Geheimnis ihres Privatlebens gleichwohl während der gesamten Dauer der Vorratsspeicherung permanent bedroht." (RNr 72)

Der Generalanwalt weist auch darauf hin, dass die Auswertung der Daten "es ermöglichen kann, eine ebenso zuverlässige wie erschöpfende Kartografie eines erheblichen Teils der Verhaltensweisen einer Person, die allein ihr Privatleben betreffen, oder gar ein komplettes und genaues Abbild der privaten Identität dieser Person zu erstellen." (RNr 74)

Dass die Daten nicht von den Behörden oder unter deren Kontrolle gespeichert werden, vergrößert die Gefahr, dass sie zu betrügerischen oder heimtückischen Zwecken verwendet werden. Die RL schreibt den Mitgliedstaaten zwar vor, dass die Daten so gespeichert werden, dass sie "unverzüglich an die zuständigen Behörden auf deren Anfrage hin weitergeleitet werden können", aber nicht, dass sie auch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates gespeichert werden müssten (RNr 75-78)
79. Diese 'Externalisierung' der Vorratsdatenspeicherung ermöglicht es zwar, die gespeicherten Daten von den öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten fernzuhalten und sie damit ihrem direkten Zugriff und jeder Kontrolle zu entziehen, aber gerade dadurch vergrößert sie gleichzeitig die Gefahr einer Auswertung, die den Anforderungen des Rechts auf Achtung des Privatlebens zuwiderläuft.
Gültigkeit der VDS-RL nach Art 5 Abs 4 EUV und Urteil C-301/06 Irland / Parlament und Rat
Mit dem Urteil C-301/06 Irland / Parlament und Rat (siehe hier) hat der EuGH eine Klage Irlands auf Nichtigerklärung der VDS-RL abgewiesen. Der EuGH hat dabei festgestellt, dass sich die Klage Irlands ausschließlich auf die Wahl der Rechtsgrundlage bezog, und nicht auf eine eventuelle Verletzung der Grundrechte als Folge von mit der VDS-RL verbundenen Eingriffen in das Recht auf Privatsphäre. Der EuGH hat daher jedenfalls die Vereinbarkeit mit der GRC nicht geprüft; weniger klar ist, ob der EuGH die Vereinbarkeit der VDS-RL mit Art 5 Abs 4 EUV (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) geprüft hat.

Der Generalanwalt geht dann relativ ausführlich auf die Frage der Verhältnismäßigkeit nach Art 5 Abs 4 EUV ein (RNr 87 bis 105), lässt sie aber letztlich - aufgrund des Ergebnisses der Prüfung nach der GRC - ausdrücklich offen. Er weist auch in diesem Zusammenhang bereits auf die Problematik hin, dass die VDS-RL zwar den Anbietern Verpflichtungen zur Erhebung und Vorratsspeicherung von Daten auferlegt, es aber den Mitgliedstaaten überlässt, die Achtung der Grundrechte zu gewährleisten (juristisch spannend, aber schwer kommunizierbar und praktisch unergiebig, sind die RNr 102 bis 104 zur gewählten Rechtsgrundlage - Binnenmarkt - und dem hinter der RL stehenden Ziel der Verfolgung schwerer Straftaten).

Gesetzlich vorgesehener Eingriff? Verweis auf Mitgliedstaaten reicht nicht
Nach Art 52 Abs 1 GRC muss jede Einschränkung von Grundrechten "gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten". Dass mit der VDS-RL formal ein Gesetz vorliegt, reicht dazu nicht aus, es ist auch die "Qualität des Gesetzes" (insbesondere dessen Präzision) zu prüfen. Der Generalanwalt verweist dazu auf seine Schlussanträge in der Rechtssache C-70/10 Scarlet Extended ("Internetsperren"; siehe hier), wo er (in RNr 94-97) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR die näheren Anforderungen an eine ausreichende gesetzliche Grundlage darlegte (im Wesentlichen: das "Gesetz" muss hinreichend klar und vorhersehbar sein und den Umfang und die Art und Weise der Ausübung des Eingriffs hinreichend klar definieren). Dort bezog sich das allerdings auf eine gesetzliche Regelung der Mitgliedstaaten, hier wird es auf die VDS-RL als Rechtsvorschrift der Union angewendet.

Nach Art 4 der VDS-RL ist es Sache der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu erlassen, um sicherzustellen, dass die auf Vorrat gespeicherten Daten nur in bestimmten Fällen und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht an die zuständigen nationalen Behörden weitergegeben werden. Art 4 Satz 2 lautet: "Jeder Mitgliedstaat legt in seinem innerstaatlichen Recht unter Berücksichtigung der einschlägigen Bestimmungen des Rechts der Europäischen Union oder des Völkerrechts, insbesondere der EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das Verfahren und die Bedingungen fest, die für den Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten gemäß den Anforderungen der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind."

Bei der VDS-RL verlässt sich der Unionsgesetzgeber, der selbst keine Schutzmaßnahmen für den Zugang zu den Daten getroffen hat, damit grundsätzlich auf die Mitgliedstaaten. Dem Generalanwalt stellt sich "allein die Frage, ob dem Erfordernis, dass jede Einschränkung der Grundrechte 'gesetzlich vorgesehen' sein muss, mit einem solchen allgemeinen Verweis, auch wenn er mit einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die durch die RL 95/46 und die RL 2002/58 garantierten Rechte einhergeht, Genüge getan wird."

Der Generalanwalt unterscheidet hier zwei Fälle: einerseits jene, in denen der Unionsgesetzgeber, wie bei Art 15 Abs 1 der RL 2002/58 (siehe dazu das Urteil Bonnier Audio, im Blog hier), den nationalen Gesetzgebern ermöglicht, auf eigene Initiative Rechtsvorschriften zu erlassen, die zu einer Einschränkung der Grundrechte führen. In diesen Fällen kann es der Unionsgesetzgeber im Wesentlichen den nationalen Gesetzgebern überlassen, dafür zu sorgen, dass diese Rechtsvorschriften alle notwendigen Schutzmaßnahmen umfassen, damit diese Einschränkungen und ihre Anwendung sämtlichen Anforderungen in Bezug auf die Qualität des Gesetzes und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (RNr 116).

Anders sind jene Fälle zu beurteilen, in denen sich die Einschränkung der Grundrechte aus den Rechtsvorschriften der Union selbst ergibt; hier ist der Anteil der vom Unionsgesetzgeber zu tragenden Verantwortung ein ganz anderer. Zwar sei es bei einer RL Sache der Mitgliedstaaten, im Einzelnen die Schutzmaßnahmen festzulegen. Bei der Definition der Schutzmaßnahmen als solcher müsse der Unionsgesetzgeber jedoch eine führende Rolle spielen (RNr 117).

Der Übergang von einer fakultativen Regelung der Vorratsdatenspeicherung (nach Art 15 der RL 2002/58) zu einer eine Frist vorschreibenden Regelung, wie sie mit der VDS-RL geschaffen worden ist, hätte nach Ansicht des Generalanwalts daher "mit einer parallelen Entwicklung in Bezug auf Schutzmaßnahmen einhergehen und den Unionsgesetzgeber daher veranlassen müssen, die den Mitgliedstaaten übertragene sehr weite Befugnis hinsichtlich des Zugangs zu den Daten und deren Auswertung durch den Erlass von Spezifikationen in Form von Prinzipien grundsätzlich einzugrenzen." (RNr 118)
120. Der Unionsgesetzgeber darf es, wenn er einen Rechtsakt erlässt, mit dem Verpflichtungen auferlegt werden, die mit qualifizierten Eingriffen in Grundrechte der Unionsbürger verbunden sind, nämlich nicht vollständig den Mitgliedstaaten überlassen, die Garantien festzulegen, die sie zu rechtfertigen vermögen. Er darf sich weder damit begnügen, den zuständigen Legislativ- und/oder Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten, die gegebenenfalls nationale Maßnahmen zur Durchführung eines solchen Rechtsakts zu treffen haben, die Aufgabe zu übertragen, diese Garantien festzulegen und einzuführen, noch sich völlig auf die Justizbehörden verlassen, die mit der Kontrolle der konkreten Anwendung des Rechtsakts betraut sind. Um den Bestimmungen des Art. 51 Abs. 1 der Charta nicht ihren Sinn zu nehmen, muss er seinen Teil der Verantwortung in vollem Umfang übernehmen, indem er zumindest die Grundsätze festlegt, die für die Festlegung, Einführung, Anwendung und Kontrolle der Beachtung dieser Garantien gelten sollen.
Der Generalanwalt geht davon aus, dass ohne Kenntnis darüber, wie der Zugang zu den Daten und deren Auswertung erfolgen kann, kein fundiertes Urteil über den Grundrechtseingriff gefällt werden kann (RNr 122). Dass es - nach Auffassung von Generalanwalt Bot in dessen Schlussanträgen zur Rechtssache C-301/06 Irland / Parlament und Rat - schwierig gewesen wäre, die Garantien für den Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten einzubeziehen, beeindruckt Generalanwalt Cruz Villalón nicht:
124   [...] der Unionsgesetzgeber, als er die Verpflichtung zur Erhebung und Vorratsspeicherung der Daten aufstellte, [war] durch nichts daran gehindert, dieser Verpflichtung – zumindest in Form von Grundsätzen – verschiedene von den Mitgliedstaaten auszugestaltende Garantien an die Seite zu stellen, mit denen die Auswertung der Daten eingeschränkt und auf diese Weise die genaue Maßnahme und das vollständige Profil des mit ihr verbundenen Eingriffs festgelegt werden soll.
Mindestgarantien zur Beschränkung des Zugangs zu Vorratsdaten
Ausdrücklich "ohne Anspruch auf Vollständigkeit" führt der Generalanwalt dann Grundprinzipien an, die für die Festlegung der Mindestgarantien zur Beschränkung des Zugangs zu den erhobenen und auf Vorrat gespeicherten Daten und ihrer Auswertung gelten sollten:
  • Präzisere Beschreibung der Straftatbestände, die den Zugang zu Vorratsdaten rechtfertigen können (RNr 126),
  • Beschränkung des Zugangs auf Justizbehörden oder zumindest auf unabhängige Stellen oder richterliche/unabhängige Kontrolle und Einzelfallprüfung jedes Zugangsantrags (RNr 127),
  • Möglichkeit für Ausnahmen vom Zugang zu Vorratsdaten unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, etwa im Kontext der ärztlichen Schweigepflicht (RNr 128),
  • Verpflichtung zur Löschung der Daten, sobald sie nicht mehr benötigt werden und Information der Betroffenen über einen erfolgten Zugang ("sobald jedes Risiko ausgeschlossen werden kann, dass diese Information die Wirksamkeit der die Auswertung der Daten rechtfertigenden Maßnahmen beeinträchtigen kann") (RNr 129);
Der Generalanwalt verweist darauf, dass der Unionsgesetzgeber im Rahmenbeschluss 2008/977 (Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden) solche Garantien vorgesehen hat (RNr 130). Dass die Mitgliedstaaten die in der VDS-RL selbst nicht vorgesehenen Garantien häufig auf eigene Initiative eingeführt haben, kann den Unionsgesetzgeber "offensichtlich nicht entlasten" (RNr 132), diesem Umstand trägt der Generalanwalt aber bei der vorgeschlagenen Entscheidung zur zeitlichen Wirkung eines Urteils Rechnung.

Zur Frage der gesetzlichen Grundlage kommt der Generalanwalt damit zu einem eindeutigen Ergebnis:
131. Im Ergebnis ist die gesamte Richtlinie 2006/24 unvereinbar mit Art. 52 Abs. 1 der Charta, da die Einschränkungen der Grundrechtsausübung, die sie aufgrund der durch sie auferlegten Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung enthält, nicht mit unabdingbaren Grundsätzen einhergehen, die für die zur Beschränkung des Zugangs zu den Daten und ihrer Auswertung notwendigen Garantien gelten müssen.
Zur Verhältnismäßigkeit nach Art 52 Abs 1 GRC
Die Verhältnismäßigkeit ist Voraussetzung für eine zulässige Grundrechtseinschränkung nach Art 52 Abs 1 GRC ("Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen").

Nach Ansicht des Generalanwalts verfolgt die VDS-RL "ein vollkommen legitimes Ziel" (Verfügbarkeit der Vorratsdaten sicherzustellen zur Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten) und ist "als zur Erreichung dieses Endziels geeignet und - vorbehaltlich der Garantien, mit denen sie versehen sein sollte - sogar erforderlich anzusehen" (RNr 136). Wird die VDS-RL mit den notwendigen Garantien versehen, so kann das auch "die - gewiss recht lange - Liste der auf Vorrat zu speichernden Daten" rechtfertigen. Dass man sich der VDS-RL entziehen kann, mag die Wirksamkeit erheblich relativieren, lässt aber nicht den Schluss zu, dass die Erhebung und Speicherung der Vorratsdaten per se zur Zielerreichung völlig ungeeignet oder offensichtlich völlig nutzlos sind. Der Generalanwalt weist in diesem Zusammenhang aber nachdrücklich auf die Verpflichtung der Kommission hin, die einen Bericht über die Anwendung der RL zu erstellen und auf dieser Grundlage Änderungen vorzuschlagen hat (RNr 138). Da die VDS-RL keine "sunset clause" (automatisches Außerkrafttreten) enthält, müsse der Unionsgesetzgeber auch eine regelmäßige Neubewertung der Umstände vornehmen, die die in ihr enthaltene qualifizierte Einschränkung rechtfertigen (RNr 139).

Der Generalanwalt nimmt in seinen Schlussanträgen keine detaillierte Prüfung der Verhältnismäßigkeit mehr vor, da er ja schon wegen des Fehlens einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage zur Unvereinbarkeit der VDS-RL mit der GRC kommt. Nur auf die Frage der Dauer der Speicherverpflichtung geht er - unter dem Gesichtspunkt Verhältnismäßigkeit - noch näher ein. Wenn die Maßnahme als solche legitim und geeignet ist (wovon der Generalanwalt ausgeht), ist zu prüfen, ob das verfolgte Ziel nicht mit einer die Ausübung der Grundrechte weniger beeinträchtigenden Maßnahme - also etwa einer kürzeren Höchstspeicherdauer - erreicht werden könnte.

Dass die Mitgliedstaaten nicht zwei Jahre festlegen müssen, sondern, wie zB Österreich, auch die Untergrenze von sechs Monaten wählen können, hilft dem Unionsgesetzgeber nicht: "Ab dem Moment, zu dem die Richtlinie 2006/24 in ihrer Harmonisierungsfunktion die Obergrenze für die Vorratsdatenspeicherung auf zwei Jahre festlegt, ist diese Bestimmung selbst der Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterwerfen." (RNr 143) Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein längerer Zeitraum der Vorratsspeicherung unter dem Gesichtspunkt der Strafverfolgung vorzuziehen wäre, sondern ob ein solcher längerer Zeitaraum im Rahmen einer Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit speziell erforderlich ist.

Quick freeze als Alternative?
Der Generalanwalt stellt die "data retention" nach der VDS-RL ausdrücklich der als "quick freeze" bezeichneten nachträglichen Datensicherung ("data preservation") gegenüber, hält aber fest, dass die data retention einer der Schlüsselaspekte der VDS-RL ist - als einer Maßnahme, die darauf abzielt, die öffentliche Hand zu einer hoheitlichen Reaktion auf bestimmte schwere Formen der Kriminalität zu befähigen (RNr 142). Da der Generalanwalt das legitime Ziel, die Geeignetheit und - wenn die sonst von ihm postulierten Garantien eingehalten werden - auch die Erforderlichkeit der VDS-RL anerkennt, lässt sich aus diesem Hinweis nicht ableiten, dass er im Hinblick auf die Möglichkeiten des "quick freeze" zu einer Grundrechtswidrigkeit der Vorratsspeicherung an sich kommen würde.

Anormale Datenakkumulation - Ausnahmecharakter
Der Generalanwalt weist darauf hin, dass eine Akkumulation von Daten an unbestimmten Orten im virtuellen Raum wie die hier in Rede stehende, die stets konkrete und bestimmte Personen betrifft, unabhängig von ihrer Dauer "tendenziell als anormal wahrgenommen wird." Ein solcher Zustand der "Zurückbehaltung" von Daten (data retention), die das Privatleben betreffen, sollte, "nie bestehen, und, falls er doch besteht, sollte dies nur in Anbetracht anderer Erfordernisse des sozialen Lebens geschehen. Eine solche Situation kann nur Ausnahmecharakter haben und darf deshalb zeitlich nicht über das unerlässliche Maß hinausgehen."

Bei der im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zulässigen Speicherungsfrist muss dem Gesetzgeber ein gewisser Wertungsspielraum zuerkannt werden, was aber nicht bedeutet, "dass insoweit jede Kontrolle der Verhältnismäßigkeit, sei sie auch schwierig, ausgeschlossen wäre." In der Folge wird der Generalanwalt - fast wie sein legendärer spanischer Vorgänger Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer - philosophisch:
146. In diesem Zusammenhang erscheint mir der Hinweis angebracht, dass die Existenz eines Menschen definitionsgemäß zeitlich begrenzt ist und dass in diesem Zeitraum sowohl die Vergangenheit, seine eigene Geschichte und letzten Endes seine Erinnerungen, als auch die Gegenwart, das mehr oder weniger unmittelbar Erlebte, das Bewusstsein dessen, was er gerade erlebt, konvergieren. Auch wenn sie schwer zu bestimmen ist, trennt eine Linie, die für jede Person sicherlich anders verläuft, die Vergangenheit von der Gegenwart. Die Möglichkeit, zwischen der Wahrnehmung der Gegenwart und der Wahrnehmung der Vergangenheit zu unterscheiden, dürfte außer Frage stehen. Bei jeder dieser Wahrnehmungen kann das Bewusstsein des eigenen Lebens – vor allem des 'Privatlebens' – als 'aufgezeichnetes' Leben eine Rolle spielen. Und es besteht ein Unterschied, je nachdem, ob es sich bei diesem 'aufgezeichneten Leben' um dasjenige handelt, das man als gegenwärtig wahrnimmt, oder um dasjenige, das man als seine eigene Geschichte erlebt.
Diese Erwägungen wendet der Generalanwalt auf die VDS-RL an und fragt, ob es unvermeidlich (also: erforderlich) ist, die Speicherverpflichtung für eine Dauer aufzuerlegen, die sich nicht nur auf die "gegenwärtige Zeit", sondern auch auf die "vergangene Zeit" erstreckt. Sein Ergebnis: nein - und die Gegenwart endet dort, wo man nicht mehr nach Monaten, sondern nach Jahren rechnet:
148. In diesem Sinne und im vollen Bewusstsein der damit verbundenen Subjektivität lässt sich sagen, dass eine „nach Monaten bemessene“ Speicherungsfrist personenbezogener Daten durchaus von einer „nach Jahren bemessenen“ Frist zu unterscheiden ist. Erstere entspräche derjenigen, die in dem als gegenwärtig wahrgenommenen Leben angesiedelt ist, und Letztere derjenigen, die in dem als Erinnerung wahrgenommenen Leben angesiedelt ist. Der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens ist aus diesem Blickwinkel jeweils ein anderer, und die Erforderlichkeit jedes dieser Eingriffe muss gerechtfertigt werden können.
149. Auch wenn die Erforderlichkeit des Eingriffs in der Dimension der gegenwärtigen Zeit als hinreichend gerechtfertigt erscheint, habe ich jedoch keine Rechtfertigung für einen Eingriff gefunden, der sich bis in die vergangene Zeit erstrecken soll. Direkter ausgedrückt – und ohne zu leugnen, dass es Straftaten gibt, die lange im Voraus vorbereitet werden – habe ich in den verschiedenen Stellungnahmen, in denen die Verhältnismäßigkeit von Art. 6 der Richtlinie 2006/24 verteidigt wird, keine hinreichende Rechtfertigung dafür gefunden, dass die von den Mitgliedstaaten festzulegende Frist für die Vorratsdatenspeicherung nicht innerhalb eines Rahmens von weniger als einem Jahr bleiben sollte. Mit anderen Worten – und mit aller bei dieser Dimension der Verhältnismäßigkeitskontrolle stets gebotenen Zurückhaltung – hat mich kein Argument von dem Erfordernis zu überzeugen vermocht, die Vorratsdatenspeicherung über ein Jahr hinaus zu verlängern.
[...]
152. Daraus folgt, dass Art. 6 der Richtlinie 2006/24 mit den Art. 7 und 52 Abs. 1 der Charta unvereinbar ist, soweit er den Mitgliedstaaten vorschreibt, sicherzustellen, dass die in ihrem Art. 5 genannten Daten für die Dauer von bis zu zwei Jahren auf Vorrat gespeichert werden.
Zeitliche Wirkungen der Ungültigkeit der VDS-RL
Der Generalanwalt schlägt vor, die Wirkungen der Feststellung der Ungültigkeit der VDS-RL auszusetzen, bis der Unionsgesetzgeber die Maßnahmen ergreift, die erforderlich sind, um der festgestellten Ungültigkeit abzuhelfen, wobei diese Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist getroffen werden müssen. Im vorliegenden Fall stehe "die Relevanz und sogar die Dringlichkeit der Endziele der betreffenden Grundrechtseinschränkung außer Frage". Andererseits seien die Feststellungen zur Ungültigkeit von besonderer Art: zum einen sei die VDS-RL wegen der mangelnden Garantien für den Zugang zu den Vorratsdaten ungültig, dies könne jedoch im Rahmen der von den Mitgliedstaaten erlassenen Umsetzungsmaßnahmen korrigiert worden sein. Zum anderen hätten die Mitgliedstaaten "ihre Befugnisse hinsichtlich der Höchstdauer der Vorratsdatenspeicherung im Allgemeinen maßvoll ausgeübt" (RNr 157).

Nach dieser Position des Generalanwalts korrigieren die vorsichtigen Umsetzungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten gewissermaßen die Mängel der VDS-RL, was ermöglicht, sie noch bis zur Erlassung einer Neuregelung in Kraft zu lassen.

Akademische Fragen des VfGH bleiben ohne Antwort des Generalanwalts
Der Verfassungsgerichtshof hat neben einer recht pauschalen Frage zur Gültigkeit der Vorratsdaten-RL noch fünf detaillierte Fragen, insbesondere zum Verhältnis der GRC zum Sekundärrecht (Datenschutzrichtlinie) und zur EMRK, gestellt, die ein wenig den Anschein erweckten, als stehe nicht so sehr der "Dialog zwischen Richtern" (vgl etwa die Schlussanträge von Generalanwalt Colomer in der Rechtsache C-205/08, Umweltanwalt von Kärnten, Rz 38ff) im Vordergrund als vielleicht ein Dialog zwischen Professoren, die eben auch Richter sind (hier im Bild [die beiden ersten von links] sind zwei Professoren - der zuständige Referent im VfGH und der Berichterstatter des EuGH - zu sehen).

Schon die Kommission hat in ihrer Stellungnahme im Verfahren vor dem EuGH zu diesen Fragen angemerkt, dass sie "in allgemeiner und abstrakter Form gestellt sind, ohne dass in jedem Fall die Entscheidungserheblichkeit für das Ausgangsverfahren erläutert wird." Auch in den Erklärungen der Mitgliedstaaten, die sich am Verfahren beteiligten, wurde auf diese Frage kaum eingegangen (ausgenommen in der österreichischen Erklärung, die dafür zur zentralen Frage der Gültigkeit - mangels Einigung in der Regierung - nicht Stellung genommen hat).

Auch der Generalanwalt übergeht diese - akademisch durchaus interessanten - Fragen, da es seiner Ansicht nach angesichts der Antwort auf die Hauptfrage nicht notwendig ist, spezielle Antworten darauf zu geben. Ich gehe aber davon aus, dass Prof. von Danwitz, Berichterstatter des EuGH, der am 13.05.2013 bei einem Vortrag am VfGH sehr freundliche Worte für die Vorlagepoltiik des VfGH gefunden hat, gerne auch zu diesen Fragen Stellung nehmen möchte. Es bleibt abzuwarten, ob das Eingang in das Urteil findet. Hier ein Zitat aus dem Vortrag von Prof. von Danwitz (veröffentlicht unter dem Titel "Verfassunngsrechtliche Herausforderungen in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH" in: EuGRZ 2013, 253, hier: 261):
Überdies sollten die mitgliedstaatlichen Gerichte und namentlich die Verfassungs- und Höchstgerichte bedenken, dass es wirkungsvoller ist, wen sie - statt den Dialog zu verweigern - dem Beispiel des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes folgen und ihr ganzes Gewicht in die Waagschale legen und sich aktiv einbringen, um durch ihre Darstellung der rechtlichen Problematik auf die Überzeugungsbildung des Gerichtshofes - wie ich nur betonen kann - maßgeblich einzuwirken.
Und hier noch ein paar weitere Zitate aus diesem Vortrag:
Als besonderer Katalysator für die Herausforderungen, die mit diesen Fragestellungen [Schutz der Grundrechte] verbunden sind, hat sich der 'Kampf gegen den Terror' erwiesen. Ungeachtet aller Einzelfragen möchte ich gleichsam vorab hervorheben, dass die als Herausforderung erkannte Notwendigkeit, rechtsstaatliche Sicherungen auch und gerade gegenüber der Rechtsetzung der Union in diesem Bereich einzufordern, die Richter des Gerichtshofes durchaus nachhaltig geprägt hat. [Bezug auf die Rechtssachen Kadi und Al Barakkat]
[...]
[...] zeigen nachfolgende Entscheidungen, wie konsequent der Gerichtshof an dem Ziel festhält, einen hochwertigen Schutz der Justizgrundrechte zu gewährleisten, ohne zugleich die Wahrnehmung der berechtigten Sicherheitsinteressen praktisch zu vereiteln. [Bezug auf die Rechtssachen Kadi I, Kadi II, ZZ]
[...]
Dementsprechend hat der EuGH seine Kontrolldichte [im System des europäischen Grundrechtsschutzes] in den vergangenen Jahren spürbar angehoben.
[...]
Aus der jüngeren Rechtsprechug ergibt sich zudem, dass der Gerichtshof sich der begrenzten Regelungszuständigkeiten der Union und damit auch der Grenzen seiner Zuständigkeiten durchaus bewusst ist.
[...]
Update 13.12.2013: siehe auch die Beiträge auf telemedicus.info und auf verfassungsblog.de.
Update 17./21.12.2013: siehe auch die Beiträge von Orla Linskey auf European Law Blog (und auf Inforrm's Blog), von Daniel Thym auf dem Verfassungsblog, von T.J. McIntyre auf opensocietyfoundations.org, von Monica Senor auf medialaws.eu (in italienischer Sprache), von Lorin-Johannes Wagner auf juwiss.de, sowie journalistische Berichte von Erich Möchel auf fm4.orf.at, von Günter Hack auf fm4.orf.at.