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Tuesday, April 30, 2013

EuGH-Generalanwalt: Kabel-TV ist elektronischer Kommunikationsdienst; Preiskontrolle durch Gemeinde unzulässig

Der "neue Rechtsrahmen" für elektronische Kommunikatikonsnetze und -dienste (NRR) ist schon mehr als zehn Jahre alt, doch ob das Anbieten von Kabel-TV ein elektronischer Kommunikationsdienst ist und daher diesem Rechtsrahmen unterliegt, muss der EuGH erst beantworten. Gelegenheit dazu hat er in der Rechtssache C-518/11 UPC Nederland, in der Generalanwalt Pedro Cruz Villalón heute seine Schlussanträge erstattet hat.

Zum Ausgangssachverhalt:
Der Ausgangsrechtsstreit wird zwischen UPC Nederland und der Gemeinde Hilversum geführt. Diese hatte schon lange vor Inkrafttreten des neuen Rechtsrahmens das ursprünglich von ihr betriebene Kabel-TV-Netz an die Rechtsvorgängerin der UPC verkauft. In einer beim Verkauf abgeschlossenen "Vereinbarung über den zukünftigen Betrieb des Kabelnetzes von Hilversum" verpflichtete sich UPC unter anderem zur "Gewährleistung eines vielfältigen Mindestangebots an Hörfunk- und Fernsehprogrammen über Kabel zu einem sozialverträglichen Preis und mit einer für den Abonnenten optimalen Empfangsqualität". Das konkrete Höchstentgelt für dieses "Basisangebot" ergab sich ebenfalls aus dem Vertrag (in Verbindung mit einer Indexklausel).

Im Jahr 2003 wollte UPC das Entgelt für das Basisangebot anheben. Die Gemeinde Hilversum klagte gegen die Erhöhung und gewann in allen Instanzen. Im Jahr 2005 prüfte die niederländische Wettbewerbsbehörde, ob UPC seine marktbeherrschende Stellung durch überhöhte Abonnemententgelte missbraucht habe und kam zum Ergebnis, dass dies nicht der Fall sei. Ebenfalls 2005 veröffentlichte die (damalige) Telekomregulierungsbehörde OPTA nach einer Marktanalyse einen Maßnahmenentwurf, in dem sie feststellte, dass UPC in ihrem Versorgungsgebiet über beträchtliche Marktmacht auf "dem Markt für die Bereitstellung frei zugänglicher Hörfunk- und Fernsehprogrammangebote über Kabel" verfüge, und ihr Verpflichtungen in Bezug auf die Berechnung ihrer Entgelte auferlegte. Die Europäische Kommission hatte schwerwiegende Bedenken (siehe dazu näher auch den Bericht der IRG-Expertengruppe) und die von OPTA schließlich beschlossene endgültige Maßnahme sah keine Preisregulierung mehr vor.

In der Folge klagte UPC die Gemeinde Hilversum und beantragte, die Entgeltbeschränkungsklausel für nichtig zu erklären und die Gemeinde zur Duldung von Entgelterhöhungen zu verpflichten, da die Entgeltbeschränkungsklausel mit dem neuen Rechtsrahmen nicht vereinbar sei. In diesem Verfahren legte das Berufungsgericht schließlich dem EuGH 18(!) Vorabentscheidungsfragen vor, die Generalanwalt Villalón allerdings übersichtlich auf drei Fragen (und letztlich zwei Antworten) zusammenfasst:

1.  Zum Begriff "elektronischer Kommunikationsdienst"
Dass die hier zu beurteilenden Kabel-TV-Dienste (Anbieten eines "Basispakets" an Rundfunkprogrammen über Kabel) auch nach Ansicht des Generalanwalts als elektronische Kommunikationsdienste im Sinne des Art 2 lit c der RahmenRL 2002/21/EG einzustufen sind, überrascht nicht, war das doch seit Inkrafttreten des neuen Rechtsrahmens durchgängig herrschende Meinung (jedenfalls der wesentlichsten nationalen Regulierungsbehörden). Das Argument, dass der Abopreis auch die von UPC an die Sender für das Weiterverbreitungsrecht zu zahlenden Entgelte und die Zahlungen an die Verwertungsgesellschaften umfasste, konnte den Generalanwalt auch nicht umstimmen. Der Vorschlag des Generalanwalts für die erste Fragebeantwortung lautet daher:
Die RahmenRL 2002/21/EG ist dahin auszulegen, dass ein aus der Verbreitung frei zugänglicher Hörfunk- und Fernsehprogramme über Kabel bestehender Dienst, für den ein Entgelt zu zahlen ist, das die Übertragungskosten sowie die an Rundfunkanstalten und kollektive Verwertungsgesellschaften im Zusammenhang mit der Verbreitung ihrer Inhalte gezahlten Gebühren enthält, in ihren sachlichen Anwendungsbereich fällt, da dieser Dienst die Übertragung von Signalen über elektronische Kommunikationsnetze umfasst.
2. Preiskontrolle durch die Gemeinde?
Da es sich beim Kabel-TV-Dienst um einen elektronischen Kommunikationsdienst im Sinne der RahmenRL handelt, können - so der Generalanwalt in RNr 46 der Schlussanträge - Maßnahmen zur Kontrolle des Preises für diesen Dienst nur zulässig sein, "wenn sie zu den Maßnahmen gehören, die von einer nationalen Regulierungsbehörde gegenüber einem Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht erlassen werden können, oder wenn sie sich durch ein Ziel des Allgemeininteresses oder durch Art. 106 Abs. 2 AEUV rechtfertigen lassen."

Selbst wenn die Gemeinde als Regulierungsbehörde angesehen werden könnte, hat sie bei Erlassung der Entgeltbeschränkungsklausel jedenfalls gegen die Verfahrensvorschriften verstoßen, was der Generalanwalt unter Bezugnahme auf die GenehmigungsRL, die ZugangsRL (die meines Erachtens schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil es um eine Endkundenpreisregelung geht) und die UniversaldienstRL näher darlegt. Der Generalanwalt kommt daher zum Schluss (RNr 63), "dass der NRR der Entgeltbeschränkungsklausel grundsätzlich entgegensteht, es sei denn, es wird nachgewiesen, dass diese durch die Verfolgung von Zielen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist."

Die Gemeinde und auch die niederländische Regierung brachten dazu vor, dass die - zwischen der Gemeinde und UPC frei vereinbarte - Entgeltbeschränkungsklausel ein Verbraucherschutzinteresse verfolge. Sie erlaube es, die Bereitstellung des analogen Basisangebots zu einem sozialverträglichen Preis, der für Haushalte mit niedrigen Einkommen erschwinglich bleiben müsse, zu gewährleisten; dieser Dienst stelle daher einen Dienst der elementaren Daseinsvorsorge dar.

Der Generalanwalt kann dem nichts abgewinnen:
71. Das Ziel des NRR besteht [...] gerade darin, den Nutzern durch die Förderung des Wettbewerbs größtmögliche Vorteile in Bezug auf Auswahl, Preise und Qualität elektronischer Kommunikationsdienste zu garantieren. Insbesondere ist es allein Sache der nationalen Regulierungsbehörden, nach Durchführung einer Analyse des Marktes gegebenenfalls unparteiisch und transparent gegen ein Unternehmen mit beträchtlicher Macht auf diesem Markt vorzugehen, das aufgrund eines Mangels an wirksamem Wettbewerb seine Preise zum Nachteil der Endnutzer auf einem übermäßig hohen Niveau halten könnte"
72. Folglich – und sogar unabhängig davon, dass die OPTA im vorliegenden Fall [...] unter der Kontrolle der Kommission einen Bescheid im genau gegenteiligen Sinne erlassen hat – ist diese von der Gemeente Hilversum und der niederländischen Regierung vorgebrachte Rechtfertigung als solche nicht zulässig.
Mit anderen Worten: Verbraucherschutz ist keine Rechtfertigung für Gemeinden, um die Preise elektronischer Kommunikationsdienste zu regulieren, auch wenn dies im Wege vertraglicher Vereinbarungen mit einem Diensteanbieter erfolgt. Der Schutz der Verbraucher vor überhöhten Preisen ist vielmehr (ausschließliche) Aufgabe der nationalen Regulierungsbehörden, die den Wettbewerb zu fördern haben. (Und, so könnte man ergänzen, offenbar auch Sache des europäischen Gesetzgebers, der mit der Roamingverordnung ja - ganz ohne Beachtung des sonst geltenden neuen Rechtsrahmens - eine echte Preiskontrollmaßnahme sowohl für Endkunden als auch Vorleistungskunden geschaffen hat).

Einen möglichen Ausweg lässt der Generalanwalt aber noch offen: der Vertrag zwischen UPC und der Gemeinde könnte allenfalls auch als Betrauung mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interessse im Sinne von Art 106 Abs 2 AEUV anzusehen sein. Dazu müsste das nationale Gericht aber erst die erforderlichen Feststellungen treffen und prüfen, ob die Anwendung des Unionsrechts die Erfüllung der an die UPC übertragenen "besonderen Aufgabe" verhindert und ob die auferlegten Verpflichtungen verhältnismäßig sind. Die vorgeschlagene Antwort des Generalanwalts auf die zweite Frage lautet daher:
Die Art 6, 8 und 13 der ZugangsRL 2002/19/EG, die Art 3 und 6 Abs 2 der GenehmigungsRL 2002/20/EG sowie Art 1 Abs 2 und 3, die Art 3, 6 und 7 und die Art 14 bis 16 der RahmenRL 2002/21/EG sind dahin auszulegen, dass sie der Anwendung einer Entgeltbeschränkungsklausel wie der im Ausgangsverfahren grundsätzlich entgegenstehen, es sei denn, es wird nachgewiesen, dass diese durch die Verfolgung von Zielen des Allgemeininteresses oder nach Art. 106 Abs. 2 AEUV gerechtfertigt ist und in völligem Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht, was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat.
PS: nationale Regulierungsbehörden werden mit Interesse lesen, dass sie ihre Bescheide betreffend die Auferlegung spezifischer Verpflichtungen ("remedies" oder Abhilfemaßnahmen) "unter der Kontrolle der Kommission" erlassen haben (wie dies Generalanwalt Villalón in RNr 72 seiner Schlussanträge schreibt) - und dies noch zur Rechtslage vor Wirksamwerden der erweiterten Befugnisse der Kommission nach Art7a der RahmenRL, also für einen Zeitraum, in dem sich die Kommission im Hinblick auf "remedies" höchstens was wünschen durfte, aber weder eine Empfehlung abgeben noch eine Entscheidung treffen konnte.

Monday, April 22, 2013

EGMR (Große Kammer): Animal Defenders - Verbot politischer Fernsehwerbung kein Verstoß gegen Art 10 EMRK - Abkehr von VgT?

Knapper hätte die Entscheidung nicht ausfallen können: mit 9:8 Stimmen entschied heute die Große Kammer des EGMR, dass das Verbot der Fernsehausstrahlung eines Werbespots der Tierrechtsorganisation "Animal Defenders International" (ADI) im Vereinigten Königreich keine Verletzung des Art 10 EMRK darstellte (EGMR 22.04.2013, Animal Defenders International gegen Vereinigtes Königreich, Appl. no.48876/08; siehe auch die Pressemitteilung des EGMR und das "legal summary").

Abkehr von der VgT-Rechtsprechung
Damit geht der EGMR im Ergebnis von seiner bisherigen Rechtsprechung zum Verbot politischer Fernsehwerbung - insbesondere dem Fall VgT - ab, auch wenn dies in der Mehrheitsmeinung etwas relativiert wird. Zentrale Bedeutung hatte es für die Entscheidung der Mehrheit, dass das Verbot politischer Fernsehwerbung im Vereinigten Königreich eine sehr lange Geschichte hat und die Regelung - vor und nach dem VgT-Urteil - umfassend parlamentarisch und in diversen offiziellen Kommissionen und Konsultationen erörtert und schließlich im Parlament auch ohne Gegenstimme beschlossen worden war. Wesentlich war weiters, dass das Werbeverbot auf das "einflussreichste und teuerste Medium" beschränkt war und dem Ziel diente, die Unparteilichkeit des Rundfunks zu bewahren - ein Ziel, das schließlich auch in die vom EGMR vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht der beschwerdeführenden NGO auf Weitergabe von Informationen und dem Wunsch der Behörden, die demokratischen Debatten und Prozesse vor einer Verzerrung durch finanzkräftige Gruppen zu schützen, eingestellt wurde. Das Urteil enthält in diesem Zusammenhang auch bemerkenswerte Ausführungen zur Bedeutung des Internet und der sozialen Medien. Ein ausführliches zustimmendes Sondervotum stammt vom britischen Richter Bratza, zwei abweichende Meinungen verdeutlichen dann die tiefe Spaltung des Gerichtshofes in dieser Frage.

Im Folgenden eine erste - angesichts der Bedeutung des Urteils etwas länger geratene - Übersicht über dieses Urteil:

1. Zur Vorgeschichte
Der Werbespot "My Mate's A Primate"  - in dem man zunächst ein vierjähriges Mädchen und dann einen Schimpansen in einem Käfig sieht - war vom Broadcast Advertising Clearance Centre als politisch eingestuft und nicht zur Ausstrahlung zugelassen worden. Grundlage dafür war Sec 321 (2) und (3) des Communications Act 2003, wonach politische Werbung (in einem sehr weit verstandenen Sinn) im Fernsehen verboten ist. Der High Court und das House of Lords sahen keine Verletzung des britischen Human Rights Act und der damit umgesetzten Konventionsrechte; die nationalen Urteile setzten sich ausführlich auch mit der Rechtsprechung des EGMR, insbesondere dem Fall VgT, auseinander.

2. Nationaler rechtlicher Hintergrund und internationale Quellen
Das Urteil der Großen Kammer stellt zunächst nicht nur die Entscheidungen der britischen Gerichte relativ ausführlich dar (RNr 11-33), sondern vor allem auch die im Zusammenhang mit der Revision der Rundfunk-Rechtsvorschriften im UK stehenden Konsultationen, Komitees und Berichte bzw parlamentarischen Debatten (RNr 37-55). Ausführlich zitiert wird auch eine von der EPRA (European Platorm of Regulatory Authorities) durchgeführte Untersuchung über die Zulässigkeit politischer Fernsehwerbung in 31 europäischen Staaten (RNr 65-70). Auch der EGMR selbst hat 34 Vertragsstaaten der EMRK untersucht; in 19 dieser Staaten gibt es Verbote politischer Werbung in irgendeiner Form (RNr 71-72). Der Trend geht aber in einer großen Mehrheit der Staaten dahin, Werbung in gewissem sozialen Interesse von bestimmten Einrichtungen zuzulassen. Schließlich verweist der EGMR auch auf eine Empfehlung des Europarats-Ministerkomitees aus dem Jahr 1999 und die Erläuterungen dazu und hält dabei fest, dass auch bei der Überarbeitung der Empfehlung durch die Empfehlung Rec(2007)15 vom Ministerkomitee keine ausdrückliche Position zur Zulässigkeit politischer Werbung eingenommen wurde.

3. Gesetzlich begründeter Eingriff zur Verfolgung eines legitimen Ziels
Vor dem EGMR war unstrittig, dass das Verbot der Ausstrahlung des Werbespots einen Eingriff in das nach Art 10 EMRK geschützte Recht darstellte, dass dieser Eingriff gesetzlich begründet war und einem legitimen Ziel diente. Der EGMR erkennt dabei ausdrücklich an, dass das Ziel, die Unparteilichkeit des Rundfunks in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu bewahren und dadurch den demokratischen Prozess zu schützen ("preserving the impartiality of broadcasting on public interest matters and, thereby, of protecting the democratic process") dem legitimen Ziel des Schutzes der Rechte anderer im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK entspreche (RNr 78; Kritik schon an dieser Annahme gibt es übrigens in der ersten abweichenden Meinung - siehe deren RNr 12: "for aims which may not necessarily fully conform to one or more of the legitimate aims of Article 10 § 2").

4. Allgemeine Grundsätze - NGOs als public watchdogs
Der EGMR legt dann anhand seiner Rechtsprechung die allgemeinen Grundsätze für die Beurteilung von Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK dar (RNr 100-105) und betont dabei auch, dass eine NGO, wenn sie auf Angelegenheiten von öffentlichem Interesse aufmerksam macht, eine Rolle als "public watchdog" ausübt, die von vergleichbarer Bedeutung wie jene der Presse ist (Verweis auf das Urteil Vides Aizsardzības Klubs, RNr 42). Der Beurteilungsspielraum des Staates sei im vorliegenden Kontext daher eng - allerdings nur im Prinzip: "the margin of appreciation to be accorded to the State in the present context is, in principle, a narrow one" (RNr 104).

5. "Vorbemerkungen" - Rechtfertigung einer allgemeinen Maßnahme
Interessant ist, dass der EGMR nicht nur - wie sonst üblich - zwischen den allgemeinen Grundsätzen und ihrer Anwendung auf den konkreten Fall unterscheidet, sondern sich auch noch zu umfassenden "Vorbemerkungen" (RNr 106-112) veranlasst sieht. Er hebt hervor, dass die Verfahrensparteien darin übereinstimmten, dass politische Werbung durch eine allgemeine Maßnahme geregelt werden könne, dass aber Meinungsdifferenzen zur möglichen Breite dieser Maßnahme bestünden. Wesentlich sei aber, dass eine generelle Maßnahme von einer Vorzensur ("prior restraint") betreffend eine individuelle Äußerung zu unterscheiden ist.

Um die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zu beurteilen, müssten vor allem die gesetzgeberischen Entscheidungen bewertet werden. Die Qualität der parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle der Notwendigkeit einer Maßnahme sei dabei von besonderer Bedeutung (RNr 108). Je überzeugender die allgemeine Rechtfertigung für die allgemeine Maßnahme sei, desto weniger Bedeutung lege der Gerichtshof ihren Auswirkungen im Einzelfall bei (RNr 109).

Relevant sei dabei nicht, ob weniger strenge Regeln hätten erlassen werden können oder ob gar der Staat beweisen könnte, dass das legitime Ziel ohne Verbot nicht erreicht werden könnte; es gehe vielmehr darum, ob der Gesetzgeber durch die Annahme der allgemeinen Maßnahme und damit der mit ihr getroffenen Abwägung innerhalb des ihm zukommenden Beurteilungsspielraums gehandelt habe (RNr 110).

Der EGMR erinnert dann an den Reichtum historischer, kultureller und politischer Unterschiede innerhalb Europas, sodass es an jedem Staat liege, die eigene demokratische Vision zu formen. Aufgrund ihres direkten und ständigen Kontakts mit den wesentlichen Kräften in ihren Ländern, der Gesellschaft und deren Bedürfnissen seien die gesetzgeberischen und gerichtlichen Organe in der besten Position, um die besonderen Schwierigkeiten beim Schutz der demokratischen Struktur in ihren jeweiligen Staaten zu bewerten. Den Staaten müsse bei dieser landesspezifischen und komplexen Bewertung, die im vorliegenden Fall von zentraler Bedeutung für die gesetzgeberischen Entscheidungen gewesen sei, ein gewisses Ermessen eingeräumt werden (RNr 111).

Interessant ist, dass der EGMR schon in dieser Vorbemerkung auf eine vorzunehmende Abwägung zwischen dem Recht der NGO auf Informationsweitergabe und dem Wunsch(!) der Behörden nach Schutz der demokratischen Debatte eingeht:
112. Finally, the Court notes that both parties have the same objective namely, the maintenance of a free and pluralist debate on matters of public interest and, more generally, contributing to the democratic process. The Court is required therefore to balance, on the one hand, the applicant NGO’s right to impart information and ideas of general interest which the public is entitled to receive with, on the other, the authorities’ desire to protect the democratic debate and process from distortion by powerful financial groups with advantageous access to influential media. The Court recognises that such groups could obtain competitive advantages in the area of paid advertising and thereby curtail a free and pluralist debate, of which the State remains the ultimate guarantor. Regulation of the broadcasted public interest debate can therefore be necessary within the meaning of Article 10 § 2 of the Convention.
6. Verhältnismäßigkeit - genaue parlamentarische Prüfung
Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der generellen Maßnahme (des allgemeinen Verbots politischer Werbung) betont der EGMR zunächst, dass das Verbot zwar seit den 1950er Jahren besteht, aber die Notwendigkeit durch den Bericht des Committee on Standards in Public Life (Neill Committee) im Jahr 1998 spezifisch geprüft und bestätigt worden sei. In der Folge sei ein Weißbuch, das wieder ein Verbot politischer Werbung enthielt, erarbeitet und zur Konsultation gestellt worden. Die Auswirkungen des EGMR-Urteils VgT aus dem Jahr 2001 seien dann in allen Phasen der Gesetzesvorbereitung geprüft worden. Im Jahr 2002 sei ein Gesetzesentwurf vorgestellt worden, wobei die Erläuterungen wiederum ausführlich auf das Urteil VgT eingingen. Alle konsultierten spezialisierten Einrichtungen seien für die Beibehaltung des Verbots gewesen und hätten die Auffassung vertreten, dass es sich dabei auch im Lichte des VgT-Urteils um eine verhältnismäßige allgemeine Maßnahme handle. Die Regierung habe sogar die von ihr eingeholte rechtliche Begutachtung veröffentlicht. Das Gesetz, das das Verbot enthält, sei schließlich ohne Gegenstimme verabschiedet worden (RNr 114): 
114. [...] The prohibition was therefore the culmination of an exceptional examination by parliamentary bodies of the cultural, political and legal aspects of the prohibition as part of the broader regulatory system governing broadcasted public interest expression in the United Kingdom and all bodies found the prohibition to have been a necessary interference with Article 10 rights.
Diese besondere Kompetenz des Parlaments und die vorherige umfassende Konsultation über die EMRK-Kompatibilität des Verbots erkläre auch die Zurückhaltung der nationalen Richter. Dennoch sei die Verhältnismäßigkeit von den nationalen Gerichten - die auch das VgT-Urteil zitierten - eingehend erörtert worden. 
116. The Court, for its part, attaches considerable weight to these exacting and pertinent reviews, by both parliamentary and judicial bodies, of the complex regulatory regime governing political broadcasting in the United Kingdom and to their view that the general measure was necessary to prevent the distortion of crucial public interest debates and, thereby, the undermining of the democratic process.
7. Sinkende Bedeutung der Rundfunkwerbung wegen Internet und sozialen Medien?
Der EGMR hält es weiters für wesentlich, dass das Verbot so umschrieben war, dass es dem Risiko der Verzerrung, die der Staat verhindern wollte, mit der geringst möglichen Beeinträchtigung der Freiheit der Meinungsäußerung begegnen sollte. Das Verbot galt nur der Werbung (wegen deren naturgemäß parteilichen Charakters), der entgeltlichen Werbung (wegen der Gefahr ungleichgewichtigen Zugangs je nach finanziellen Möglichkeiten) und der politischen Werbung (weil diese "das Herz des demokratischen Prozesses" betraf). Außerdem war das Verbot auf bestimmte Medien (Hörfunk und Fernsehen) beschränkt, weil diese die einflussreichsten und teuersten Medien sind. Eine Reihe alternativer Medien sei der beschwerdeführenden NGO zur Verfügung gestanden (RNr 117). 

Das Argument der beschwerdeführenden NGO, die Beschränkung des Verbots auf Hörfunk- und Fernsehwerbung sei angesichts der vergleichbaren Wirkungsmacht neuerer Medien wie des Internet unlogisch, überzeugte den EGMR nicht:
118. [...] However, the Court considers coherent a distinction based on the particular influence of the broadcast media. In particular, the Court recognises the immediate and powerful effect of the broadcast media, an impact reinforced by the continuing function of radio and television as familiar sources of entertainment in the intimacy of the home (Jersild v. Denmark, § 31; Murphy v. Ireland [im Blog dazu hier], § 74; TV Vest [im Blog dazu hier], at § 60; and Centro Europa 7 S.R.L. and Di Stefano v. Italy [im Blog dazu hier], § 132). In addition, the choices inherent in the use of the internet and social media mean that the information emerging therefrom does not have the same synchronicity or impact as broadcasted information. Notwithstanding therefore the significant development of the internet and social media in recent years, there is no evidence of a sufficiently serious shift in the respective influences of the new and of the broadcast media in the respondent State to undermine the need for special measures for the latter.
Dieser Auffassung, wonach der Einfluss des Rundfunks (immer noch) eine regulatorische Sonderbehandlung rechtfertige, tritt die zweite, von Richterin Tulkens verfasste, abweichende Meinung deutlich entgegen: dort heißt es (RNr 11): 
Information obtained through the use of the Internet and social networks is gradually having the same impact, if not more, as broadcasted information. Their development in recent years undoubtedly signals a sufficiently serious shift in the influence of traditional broadcasting media to undermine the need to apply special measures to the latter.
8. Weitere Abwägung 
Dass Rundfunkwerbung nicht mehr teurer sei als Werbung in anderen Medien, mochte die Mehrheit des EGMR nicht glauben: "The Court considers that it is sufficient to note, [...] that broadcasted advertisements had an advantage of which advertisers and broadcasters were aware and for which advertisers would pay large sums of money, far beyond the reach of most NGOs who would wish to participate in the public debate." (RNr 120)

Entgegen der Ansicht der beschwerdeführenden NGO war der EGMR auch nicht der Ansicht, dass die im UK geltenden allgemeinen Regeln, wonach vor Wahlen gratis Sendezeit für wahlwerbende Parteien vergeben wird, für den Beschwerdefall nicht relevant wären: Auch diese "kontrollierte Lockerung" des Verbots müsse ein wesentlicher Faktor in der Beurteilung des Gesamtgleichgewichts ("overall balance") sein, das durch die allgemeine Maßnahme erreicht werde (RNr 121). 

Und schließlich sah der EGMR auch keine Verpflichtung des Staates, den Anwendungsbereich des Verbots einzuschränken, um Werbung von Initiativgruppen außerhalb von Wahlzeiten zu erlauben. Auf nationaler Ebene war dazu vor allem auf die Gefahr von Missbrauch und Willkür hingewiesen worden - was der EGMR billigt:  
122. [...] The risk of abuse is to be primarily assessed by the domestic authorities [...] and the Court considers it reasonable to fear that this option would give rise to a risk of wealthy bodies with agendas being fronted by social advocacy groups created for that precise purpose. Financial caps on advertising could be circumvented by those wealthy bodies creating a large number of similar interest groups, thereby accumulating advertising time. The Court also considers rational the concern that a prohibition requiring a case-by-case distinction between advertisers and advertisements might not be a feasible means of achieving the legitimate aim. In particular, having regard to the complex regulatory background, this form of control could lead to uncertainty, litigation, expense and delay as well as to allegations of discrimination and arbitrariness, these being reasons which can justify a general measure [...]. It was reasonable therefore for the Government to fear that the proposed alternative option was not feasible and that it might compromise the principle of broadcasting impartiality, a cornerstone of the regulatory system at issue [...].
9. Kein europäischer Konsens
Der EGMR betont, dass es keinen Konsens der Konventionsstaaten gibt, wie bezahlte politische Werbung zu regulieren sei. Auch wenn es einen Trend weg von breiten Verboten gebe, so blieben immer noch beträchtliche Unterschiede. Dieser Mangel an Konsens erweitere den Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten (RNr 123).

10. Auswirkungen des Verbots
Die Auswirkungen des Verbots, so der EGMR in RNr 124 des Urteils, würden die überzeugende Rechtfertigung für die allgemeine Maßnahme nicht überwiegen. Die beschwerdeführende NGO könne an (politischen) Hörfunk- und Fernsehdiskussionen teilnehmen; wenn sie eine wohltätige Einrichtung gründe, könne sie für diese auch im Fernsehen werben, und sie habe vor allem vollen Zugang für Werbung in allen Medien außer Hörfunk und Fernsehen, also Presse, Internet (einschließlich social media), "Demonstrationen", Plakate und Flugblätter. 

Und nachdem der EGMR zunächst Internet und soziale Medien als nicht vergleichbar mit Rundfunk abgetan hat, verweist er die beschwerdeführende NGO dann gerade darauf, weil es sich dabei um mächtige Kommunikationswerkzeuge handle (RNr 124): 
"Even if it has not been shown that the internet, with its social media, is more influential than the broadcast media in the respondent State [...], those new media remain powerful communication tools which can be of significant assistance to the applicant NGO in achieving its own objectives."
11. Ergebnis
Im Ergebnis hält die knappe Mehrheit der Großen Kammer daher die von den Behörden gegebene Begründung für das Verbot als relevant und ausreichend, sodass das Verbot nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung anzusehen ist und keine Verletzung des Art 10 EMRK vorliegt. 

12. Zustimmendes Sondervotum von Richter Bratza
Der aus dem Vereinigten Königreich stammende Richter (und frühere EGMR-Präsident) Bratza erklärt seine zustimmende Ansicht in einem ausführlichen Sondervotum. Bemerkenswert an diesem Votum ist vor allem die deutliche Kritik am VgT-Urteil (die im Mehrheitsvotum so nicht zum Ausdruck gebracht wurde) und die Betonung der Notwendigkeit einer "klaren Linie" ("brightline") durch eine allgemeine Maßnahme, auch wenn das Festhalten an einer solchen klaren, allgemeinen Regelung einen Härtefall für den einzelnen Betroffenen darstellen könne. Bratza betont auch, dass nur ein Verbot einer bestimmten Art politischer Äußerung (nämlich Werbung) in einem bestimmten Teil der Medien (Rundfunk) zu beurteilen gewesen sei und Äußerungen anderer Art oder in anderen Medien zulässig blieben. 

Auch Bratza meint, dass die beschwerdeführende NGO nicht gehindert werde, ihre Botschaft im Rundfunk auf andere Art als durch Werbung zu verbreiten, zum Beispiel in dem sie zu aktuellen Sendungen oder Diskussionen beitrage. Diese etwas naive Sicht wird übrigens in der ersten abweichenden Meinung ziemlich zerpflückt; dort heißt es in RNr 13:
The hope that Animal Defenders International will be able to make their views known thanks to “programming” disregards the reality that broadcasting, and television in particular, is driven by commercial advertising. Programming is a matter of editorial choice and is subject to the need to maximize viewership. Even in the context of public broadcasting, with all its obligations of fairness, there is a strong tendency to avoid divisive or offensive topics. Programming choices are not likely to stand on the side of NGOs which may represent minority or controversial views, or are critical of the Government of the day which has considerable control over public broadcasting, even in the presence of important safeguards as to daily programming.
Nach seiner Kritik am Urteil VgT befasst sich Bratza noch ausführlich mit der Bedeutung der - sorgfältig vorbereiteten - nationalen parlamentarischen Entscheidung, wobei er diesbezüglich auf den Unterschied zum Fall Hirst (No. 2) hinweist, in dem wegen der Verweigerung des Wahlrechts für Strafgefangene eine Verletzung des Art 3 1. ZP EMRK festgestellt wurde, was im Vereinigten Königreich bis heute zu massiver Kritik (bis hin zur Forderung nach dem Austritt aus der EMRK) führt. Im weiteren Text des Sondervotums lobt Bratza noch die Sorgfalt der englischen Richter und betont schließlich, dass der EGMR nicht selbst eine Abwägung vorzunehmen habe und auch nicht seine Auffassung, wie eine faire und handhabbare Kompromisslösung gefunden werden könne, an die Stelle jener des nationalen Gesetzgebers stellen solle. Alles in allem hat man beim Lesen des Sondervotums das Gefühl, dass es sich weniger an die Beschwerdeführerin richtet als vielmehr an Regierung, Gesetzgeber und Öffentlichkeit im Vereinigten Königreich. 

13. Abweichende Meinung 1: Ziemele (Lettland), Sajó (Ungarn), Kalaydjieva (Bulgarien), Vučinić (Montenegro), De Gaetano (Malta)
Die erste der beiden abweichenden Meinungen ist deutlich libertär ausgerichtet, mit starken Zweifeln an hoheitlich verordneten Einschränkungen, die der Freiheit dienen sollen, und einigen markanten "soundbites". Schon zu Beginn des Votums wird die Unterscheidung zum Fall VgT zum Thema gemacht:
We are particularly struck by the fact that when one compares the outcome in this case with the outcome in the case of VgT [...] the almost inescapable conclusion must be that an essentially identical “general prohibition” on “political advertising” [...] is not necessary in Swiss democratic society, but is proportionate and a fortiori necessary in the democratic society of the United Kingdom. We find it extremely difficult to understand this double standard within the context of a Convention whose minimum standards should be equally applicable throughout all the States parties to it.
Die abweichende Meinung wendet sich vor allem gegen den Zugang der Mehrheit, die allgemeine Maßnahme gewissermaßen in einem milderen Licht zu sehen als individuelle Beschränkungen. Vor allem der besondere Respekt gegenüber dem Gesetzgeber wird in der abweichenden Meinung nicht geteilt:
9. [...] The fact that a general measure was enacted in a fair and careful manner by Parliament does not alter the duty incumbent upon the Court to apply the established standards that serve for the protection of fundamental human rights. Nor does the fact that a particular topic is debated (possibly repeatedly) by the legislature necessarily mean that the conclusion reached by that legislature is Convention compliant; and nor does such (repeated) debate alter the margin of appreciation accorded to the State. Of course, a thorough parliamentary debate may help the Court to understand the pressing social need for the interference in a given society. In the spirit of subsidiarity, such explanation is a matter for honest consideration. In the present judgment, however, excessive importance has been attributed to the process generating the general measure, which has resulted in the overruling, at least in substance, of VgT, a judgment which inspired a number of member States to repeal their general ban -- a change that was effected without major difficulties.
Die abweichende Meinung sieht ein Verbot politischer Werbung überhaupt als problematisch an: 
12 [...] there seems to be an inherent contradiction in a viable democracy safeguarded by broadcasting restrictions. [...] There is a risk that by developing the notion of positive obligations to protect the rights under Articles 8 to 11, and especially in the context of Articles 9 to 11, one can lose sight of the fundamental negative obligation of the State to abstain from interfering. The very initiative to legislate on the exercise of freedom in the name of broadcasting freedom, and in order to promote democracy in general terms, and for aims which may not necessarily fully conform to one or more of the legitimate aims of Article 10 § 2, remains problematic. The ban itself creates the condition it is supposedly trying to avert – out of fear that small organisations could not win a broadcast competition of ideas, it prevents them from competing at all. It is one thing to level a pitch; it is another to lock the gates to the cricket field.
Und schließlich wendet sich die abweichende Meinung gegen einen gewissen paternalistischen Zug, den sie in der Mehrheitsmeinung erkennt: 
13. [...] Freedom of expression is based on the assumption that the speakers, not the Government, know best what they want to say and how to say it. [...]
14. There can be no robust democracy through benevolent silencing of all voices (except those of the political parties) and providing access only through programming. A robust democracy is not helped by well‑intentioned paternalism. Where there is little scope for restriction of a right, the proportionality analysis requires consideration of the existence of less restrictive alternatives. An individualised consideration of the proposed advertisement, for example like the one that operates for commercial advertisements, is one such possibility. A narrower definition of political advertisement could be another. Moreover, the respondent Government did not consider the difference between public and private broadcasting, which have different standards of impartiality. 
14. Abweichende Meinung 2: Tulkens (Belgien), Spielmann (Luxemburg), Laffranque (Estland)
Ebenfalls mit der Mehrheit nicht einverstanden ist Richterin Tulkens, der sich Präsident Spielmann und Richterin Laffranque anschließen. Anders als in der ersten - fast radikal libertären - abweichenden Meinung sieht diese Meinung Einschränkungen durchaus als möglich an; sie hält es - wie die Mehrheitsmeinung - auch für notwendig, bei der Beurteilung der Maßnahme das Recht der beschwerdeführenden NGO gegen das Streben nach Schutz der demokratischen Debatte abzuwägen. Eine gewisse Regulierung der Debatte im öffentlichen Interesse in Hörfunk und Fernsehen könne daher im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK notwendig sein. 

Tulkens hält es aber angesichts der vergleichbaren Stärke neuer Medien wie des Internet für unlogisch, das Verbot nur auf Radio und Fernsehen zu beschränken (siehe schon oben 7.). Auch reiche das britische Verbot politischer Werbung weiter als das vom EGMR als exzessiv erachtete Verbot im Fall VgT. Das breite Verbot sei gegen den Trend, der in anderen Konventionsstaaten zu beobachten sei. Weder die gesetzgebenden Körperschaften noch die nationalen Gerichte hätten überzeugende Argumente vorgebracht, warum weniger weitreichende Beschränkungen, wie sie in anderen Staaten bestünden, abzulehnen seien. 

Die beschwerdeführende NGO habe auf eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse hingewiesen; niemand habe vorgebracht, dass die Werbung schockierend oder verwerflich gewesen wäre. Das Verbot wurde auch unabhängig von der Identität der Organisation angewandt: niemand hatte behauptet, dass die beschwerdeführende NGO finanzkräftig sei und das Ziel oder die Möglichkeit hätte, die Unparteilichkeit des Rundfunkveranstalters zu gefährden oder die öffentliche Debatte unangemessen zu verzerren (oder dass sie einen Deckmantel für eine derartige mächtige Gruppe gebildet hätte). Die NGO habe nur an einer allgemeinen Debatte über Tierschutz teilnehmen wollen. 
To illustrate the scale of the ban’s effect in the applicant NGO’s case, one need only compare its situation to that of a commercial firm: the latter would have had full freedom, limited only by its financial resources, to screen advertisements using animals to promote its products, an approach directly contrary to the values of the applicant NGO.
15. Auswirkungen des EGMR-Urteils?
Das Urteil hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf Österreich (politische Fernsehwerbung in Österreich ist grundsätzlich erlaubt; siehe im Blog dazu jüngst hier, gegen Ende). Spannend kann natürlich sein, ob bzw wie weit der EGMR auch in Zukunft - wie hier in der Mehrheitsmeinung - die parlamentarische und außerparlamentarische Vorbereitung von Rechtsvorschriften bei einer Prüfung von Eingriffen in die Rechte nach Art 10 EMRK einbeziehen wird. Da es in Österreich eine gewisse Tradition gibt, Rundfunk-Rechtsvorschriften eher erst in letzter Sekunde - in den Ausschussberatungen oder auch erst durch Änderungsanträge im Plenum des Nationalrates - zu finalisieren, oft ohne besondere Erläuterungen (vor allem, wenn die Änderungen etwa auf Deals Verhandlungsergebnissen, zB von ORF und VÖZ, beruhen), hätte ich aber wenig Hoffnung, dass man zur Verteidigung österreichischer Rechtsvorschriften auf ähnlich umfassendes Material zurückgreifen könnte, wie es im hier entschiedenen Fall möglich war.

Interessant wäre natürlich eine Prüfung, inwieweit die neuen ungarischen Regelungen, nach denen politische Werbung nun ausgerechnet in Privatsendern - nicht aber im öffentlich-rechtlichen Fernsehen - untersagt ist (siehe zB hier und hier), unter Berücksichtigung des heutigen Urteils mit Art 10 EMRK kompatibel sind. Dass der EGMR nun in der Großen Kammer (mit knapper Mehrheit) das Verbot politischer Werbung im Vereinigten Königreich akzeptiert hat, bedeutet aber jedenfalls nicht, dass alle derartigen Verbote zulässig wären (zumal die schon gefällten Urteile VgT und TV Vest jedenfalls formal nicht "overruled" wurden).

Update 25.04.2013: siehe zu diesem Urteil auch die Blogposts von Jacob Rowbottom, von Ronan Ó Fathaigh und von Rosalind English sowie von Maximilian Steinbeis, der von einer "geradezu karlsruhesk staatstragenden Abwägerei" spricht (eine Formulierung, die man sich merken muss).
Update 26.04.2013: siehe nun auchdie Blogposts von Antoine Buysevon Marc de Werd, von Jeff King und von Thomas Stadler.

Thursday, April 18, 2013

EGMR: Durchsuchung bei Zeitungsherausgeber, um Verfasser eines Artikels zu identifizieren, als Verletzung der Art 8 und 10 EMRK

Die Durchsuchung einer Zeitungsredaktion, um den Verfasser eines Artikels (der verbotene Veröffentlichungen enthält) herauszufinden, ist eine Verletzung des Rechts auf Achtung der Wohnung nach Art 8 EMRK, wenn der Artikelverfasser auch mit weniger eingriffsintensiven Mitteln ausfindig gemacht werden könnte. Wenn laut Durchsuchungsbeschluss zudem "alle Dokumente und Objekte" zu suchen und zu beschlagnahmen sind, die "in welcher Form und auf welchem Medium auch immer" in Bezug zur verbotenen Veröffentlichung stehen, und Polizisten dazu einen USB-Stick an den Rechner des Journalisten anhängen, liegt jedenfalls auch eine Verletzung des Art 10 EMRK vor, da damit journalistische Quellen identifiziert werden können.
Das hat der EGMR heute in seinem Urteil im Fall Saint-Paul Luxembourg (Appl. no. 26419/10) entschieden (siehe dazu auch die Pressemitteilung des EGMR).

Der Ausgangsfall:
Eine in Luxemburg in portugiesischer Sprache erscheinende Wochenzeitung hatte in einem Bericht über Familie, der die Obsorge über zwei Minderjährige entzogen werden sollte, die Namen der Minderjährigen (und des verantwortlichen Sozialarbeiters) genannt, obwohl dies gesetzlich untersagt ist. Die Autorenzeile des Artikels lautete auf "Domingo Martins"; ein Journalist (exakt) dieses Namens schien in der Liste der offiziell anerkannten Journalisten Luxemburgs nicht auf, wohl aber ein "De Araujo Martins Domingos Alberto".

Der Sozialarbeiter beschwerte sich beim Direktor des Sozialdienstes, der sich wiederum an den Generalprokurator wandte. Das Bezirksgericht Luxemburg eröffnete ein Verfahren gegen Unbekannt wegen Verletzung des Jugendschutzgesetzes, übler Nachrede und Verleumdung. Der Untersuchungsrichter erließ eine Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung gegen die Beschwerdeführerin als Herausgeberin der Zeitung, mit dem Ziel, alle Dokumente und Objekte zu suchen und zu beschlagnahmen, die - in welcher Form und auf welchem Medium auch immer - in Bezug zu den Verstößen stehen, und insbesondere alle Unterlagen, die bei der Identifizierung des Urhebers der Rechtsverletzung bzw des Mitarbeiters der Zeitung, der den strittigen Artikel redigiert hatte, nützlich sein könnten.

Die Polizei führte am 7. Mai 2009 die Hausdurchsuchung durch, wobei sie davon ausging, dass es ausschließlich um die Identifizierung des Autors gehen sollte, was auch im Polizeibericht - mit Bezugnahme auf eine Rücksprache beim Untersuchungsrichter - so dokumentiert wurde.

Der Autor des Artikels übergab der Polizei eine Exemplar der Zeitung, ein Notizbuch, Dokumente, auf die er sich bei der Verfassung des Berichts gestützt hatte, sowie eine CD mit dem redigierten Artikel. In Beisein eines Juristen der Zeitung unterzeichnete der Autor auch ein Protokoll über die Beschlagnahme, ohne Bemerkungen hinzuzufügen.

Die Aussagen über die Durchsuchung differieren etwas: die Beschwerdeführerin sah in der Übergabe der Unterlagen eine erzwungene Kooperation, da die Polizei dem Journalisten zu verstehen gegeben habe, dass er angesichts des gerichtlichen Beschlusses keine andere Wahl habe als zu kooperieren. Ein Polizist habe auch einen USB-Stick am Computer des Journalisten angeschlossen; ob Daten kopiert wurden, wisse die Beschwerdeführerin nicht. Ein Unternehmensjurist sei anwesend gewesen und habe nichts dagegen gehabt, dass der USB-Stick am Rechner des Journalisten angeschlossen wurde. Nach dem Polizeibericht habe sich der Journalist, mit Zustimmung des Chefredakteurs, zur Kooperation bereiterklärt; er habe das Notizbuch, die Kopie des Artikels und die weiteren Dokumente freiwillig herausgegeben und auch freiwillig, ohne dass er dazu aufgefordert worden sei, Zugang zum Computer gewährt. Dabei habe er sich nie auf den Quellenschutz berufen. Der Vorgang habe zwischen 12 und 15 Minuten gedauert und ohne Druck in einem freundlichen und respektvollen Klima stattgefunden. Die Richtigkeit des Polizeiberichts und der Niederschrift über die Beschlagnahme wurden von der Beschwerdeführerin nicht bekämpft.

Am 10. Mai 2009 beantragte die Beschwerdeführerin die Nichtigerklärung der Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung, was von den luxemburgischen Gerichten in allen Instanzen abgelehnt wurde. Am 11. Mai 2009 ordnete der Untersuchungsrichter die Aufhebung der Beschlagnahme und die Rückstellung aller sichergestellten Unterlagen an.

Verletzung von Artikel 8 EMRK
Die beschwerdeführende Herausgeberin der Zeitung machte geltend, dass die Durchsuchung in den Geschäftsräumen einer Zeitung eine Verletzung des durch Art 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung der "Wohnung" sei.

Der EGMR verwies zunächst auf seine Rechtsprechung, dass der Begriff der "Wohnung" in Art 8 EMRK (im französischen bzw englischen Original der EMRK "domicile" bzw "home") nicht auf Privatwohnungen beschränkt ist und auch Geschäftsräume umfasst. Dass der Journalist mit der Polizei kooperiert habe, nehme der Durchsuchung und Beschlagnahme nicht ihren Eingriffscharakter (Hinweis auf das Urteil Sanoma Uitgevers, dazu im Blog hier). Es lag daher ein Eingriff in das Wohnungsrecht vor, der gesetzlich vorgesehen war und einem legitimen Ziel diente, Allerdings war der Eingriff im konkreten Fall nicht verhältnismäßig (und damit nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig): denn der Journalist hatte den Artikel mit Domingos Martins gezeichnet, und auch wenn in der offiziellen Journalistenliste kein exakt diesem Namen entsprechender Eintrag zu finden war, so gab es doch einen dort genannten Journalisten gerade der betroffenen Zeitung, dessen in der Liste genannter Name alle Elemente des Autorennamens enthielt. Der Untersuchungsrichter hätte also zunächst eine weniger eingriffintensive Maßnahme wählen können um die Identität des Journalisten herauszufinden.

Mit 6 zu 1 Stimmen stellte der EGMR daher eine Verletzung des Art 8 EMRK fest. Die schwedische Richterin Jäderblom verfasste eine abweichende Meinung, nach der die Beschwerde als offensichtlich unbegründet abzuweisen wäre, weil sich die Maßnahme nicht gegen die Beschwerdeführerin (sondern gegen den betroffenen Journalisten) gerichtet habe. Ein vorsichtig der Mehrheitsmeinung zustimmendes Sondervotum gab der belgische Richter Lemmens ab; er meint, dass der EGMR nicht so definitiv hätte feststellen sollen, dass gelindere Mittel zur Identifikation des Artikelverfassers hätten eingesetzt werden können (da die luxemburgische Regierung aber nicht dargelegt habe, dass der Richter ohne Durchsuchung den Verfasser nicht hätte identifizieren können, stimmte er der Feststellung einer Verletzung des Art 8 EMRK zu). 

Verletzung von Artikel 10 EMRK
Zweiter Beschwerdegrund war die Verletzung des Art 10 EMRK: die strittige Maßnahme hätte im Ergebnis darauf abgezielt, die Quellen des Journalisten ausfindig zu machen und damit auch eine einschüchterende Wirkung gehabt. Die luxemburgische Regierung hielt dem entgegen, dass es nicht Ziel der Durchsuichung und Beschlagnahme gewesen sei, Quellen des Journalisten ausfindig zu machen.

Der EGMR verwies zunächst auf seine Rechtsprechung zur Bedeutung des Schutzes journalistischer Quellen (Martin; Roemen und Schmit; Tillack; Thoma;  Cumpănă und Mazăre; Sanoma Uitgevers; Telegraaf Media; Ernst). Für den konkreten Fall hielt er fest, dass keine Quellen identifiziert worden waren. Dennoch seien die Polizisten im Hinblick auf den weiten Umfang der ihnen mit der Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung eingräumten Befugnisse in der Lage gewesen, auf Informationen zuzugreifen, die der Journalist nicht veröffentlichen wollte, und die Identität andere Quellen zu erfahren. Dies reiche aus, um einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin nach Art 10 EMRK auf Freiheit des Empfangs und der Mitteilung von Nachrichten anzunehmen.

Der Eingriff war gesetzlich vorgesehen und diente einem legitimen Ziel. Allerdings war der Durchsuchungs-und Beschlagnahmebeschluss sehr weit gefasst (alle Dokumente und Objekte, die - in welcher Form und auf welchem Medium auch immer - in Bezug zu den Verstößen stehen). Damit wurden den ausführenden Beamten umfassende Befugnisse eingeräumt und sie alleine hatten - ohne irgendwelche Schutzmaßnahmen - bei der Durchsuchung zu bewerten, ob sie diese oder jene Unterlagen sicherstellen sollten.

Auch wenn der EGMR nicht feststellen konnte, ob Ziel der Durchsuchung (auch) die Identifikation journalistischer Quellen war, so war doch angesichts des weiten Formulierung des Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses diese Möglichkeit nicht auszuschließen. Der EGMR konnte sich auch der Ansicht der luxemburgischen Regierung nicht anschließen, wonach die Quellen des Artikels ohnehin schon in eben diesem Artikel genannt waren. Dass einige Quellen in einem Artikel genannt werden, heißt noch nicht, dass nicht andere mögliche Quellen im Rahmen einer Durchsuchung identifiziert werden könnten. Nach Ansicht des EGMR war die Durchsuchung insofern unverhältnismäßig, als sie es den Polizisten ermöglichte, nach Quellen des Journalisten zu suchen. Das Anhängen eines USB-Sticks am Computer eines Journalisten ist jedenfalls geeignet, Daten aus dem Speicher des Rechners zu übertragen und zu Informationen zu gelangen, die nichts mit dem konkreten Fall zu tun haben. Hätte man tatsächlich nur den Autor des strittigen Artikels herausfinden wollen, hätte der gerichtliche Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss deutlich enger ausfallen müssen.

Der EGMR stellte daher einstimmig fest, dass die Maßnahme der Durchsuchung und Beschlagnahme unverhältnismäßig und damit eine Verletzung des Art 10 EMRK war.

Anmerkung:
Art 10 EMRK gewährleistet auch den Schutz journalistischer Quellen (bzw nach österreichischer Begrifflichkeit: des "Redaktionsgeheimnisses"), lässt aber Eingriffe unter den Voraussetzungen des Art 10 Abs 2 EMRK zu, also soweit sie gesetzlich vorgesehen sind, einem in Art 10 Abs 2 EMRK genannten legitimen Ziel dienen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Als nicht "notwendig" in diesem Sinne beurteilt der EGMR jedenfalls überschießende Eingriffe, sei es weil der Durchsuchungsbeschluss nicht auf die zur Verfolgung der konkreten Straftat unmittelbar erforderlichen Eingriffe beschränkt ist, oder weil es noch andere nicht ausgeschöpfte, aber potentiell auch zielführende Ermittlungsmöglichkeiten gäbe. Beides kam im hier vorliegenden Fall zusammen: der EGMR nahm - durchaus überzeugend - an, dass der Artikelverfasser einfacher hätte identifiziert werden können, und zudem war der Gerichtsbeschluss ein Blankoscheck an die Ermittler, die damit so gut wie jedes Dokument in der Zeitungsredaktion in Augenschein nehmen hätten können und - wohl gedeckt von diesem Beschluss - sogar einen USB-Stick zur Datenübertragung vom Computer eines Journalisten nutzen konnten.

Das österreichische Medienrecht ist beim Schutz des Redaktionsgeheimnisses (§ 31 Mediengesetz) deutlich strenger. Dass aber in der Praxis vereinzelt auch ähnlich weitreichende Beschlüsse wie im hier vorliegenden Fall vorkommen können, zeigte der bekannte "Am Schauplatz"-Fall (im Blog dazu zB hier, hier, hier und hier): dort hatte die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt angeordnet, das "gesamte - bisher noch nicht sichergestellte - für die ORF-Dokumentation 'Am Schauplatz, Am rechten Rand' hergestellte Originalrohmaterial (Bild- und sämtliche Tonspuren)" sicherzustellen - und es bedurfte erst mit einer Entscheidung des OGH (im Blog dazu hier), um diese ganz offensichtlich zu weitgehende Anordnung zu stoppen.

PS: zu weiteren noch beim EGMR anhängigen Fällen zum Redaktionsgeheimnis siehe im Blog hier.

Update 01.05.2013 bzw 20.05.2013: siehe zu diesem Fall, speziell zur dabei vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, den Blogpost von Stijn Smet auf Strasbourg Observers, sowie von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog; siehe auch den Beitrag von Willem F. Korthals Altes auf European Courts.

Thursday, April 04, 2013

VfGH zur Abwägung zwischen Rundfunkfreiheit des ORF und Freiheit der journalistischen Berufsausübung der ORF-JournalistInnen

Darf sich der (stv.) Chefredakteur eines ORF-Landesstudios von seinen JournalistInnen per Rundmail wünschen, dass sie einen Attentäter nicht als "christlichen Fundamentalisten" bezeichnen? KommAustria und Bundeskommunikationssenat (Bescheid des BKS vom 28.03.2012) hatten ein solches Mail als Verletzung des § 32 Abs 1 ORF-Gesetz gesehen (nach dieser Bestimmung hat der ORF die Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit aller programmgestaltenden Mitarbeiter sowie die Freiheit der journalistischen Berufsausübung aller journalistischen Mitarbeiter bei Besorgung aller ihnen übertragenen Aufgaben im Rahmen dieses Bundesgesetzes zu beachten).

Der Verfassungsgerichtshof sieht das anders: mit Erkenntnis vom 14.03.2013, B 518/12 (noch nicht im RIS) hat er den Bescheid des Bundeskommunikationssenates nun aufgehoben, weil der ORF dadurch in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Meinungsäußerungs- und Rundfunkfreiheit verletzt worden sei.

Der VfGH sieht dabei mehrere Grundrechtsträger - zunächst den ORF selbst: "auch die Einflussnahme auf den Inhalt der Berichterstat­tung durch leitende programmgestaltende Mitarbeiter [fällt] in den Schutz­bereich der Rundfunk­frei­heit des ORF" heißt es dazu im Erkenntnis. Grundrechtsträger sind aber auch die journalistischen MitarbeiterInnen, sodass eine Abwägung stattzufinden hat. Im Einzelnen führt der VfGH aus (Hervorhebungen hinzugefügt):
Journalistische Mitarbeiter des ORF [...] genießen die aus Art. 10 EMRK abzuleitende Freiheit der journalistischen Berufsausübung, die durch das BVG Rundfunk konkretisiert wird [...]. Insofern besteht auch eine staatliche Schutzpflicht in den Rechtsbeziehungen zwischen dem Journalisten und dem Rundfunkveranstalter, bei dem er beschäftigt und für den er tätig ist (EGMR 17.9.2009, Fall Manole ua., Appl. 13.936/02, Z 95 ff., 107 [Anm: dazu im Blog hier]). Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend sieht § 32 Abs. 1 ORF-G vor, dass journalistische Mitarbeiter in Ausübung ihrer Tätigkeit insbesondere nicht dazu verhalten werden dürfen, etwas abzufassen oder zu verantworten, was der Freiheit der journalistischen Berufsausübung widerspricht. Ein Recht der journalistischen Mitarbeiter auf uneingeschränkte Veröffentlichung von Sendungen mit bestimmten Inhalten ist aber weder dem Art. I Abs. 2 BVG Rundfunk noch der Bestimmung des § 32 Abs. 1 ORF-G zu entnehmen, anders gewendet: der ORF ist nicht dazu verpflichtet, die von den journalistischen Mitarbeitern gestalteten, ihrer jeweiligen Überzeugung entsprechenden Sendungsinhalte zu veröffentlichen.
Die Freiheit der journalistischen Berufsausübung ist nicht schrankenlos, sondern ihrerseits durch die Rundfunkfreiheit des ORF und insbesondere das Objektivitätsgebot begrenzt (vgl. VfSlg. 12.086/1989). Die Kollision zwischen der individuellen Freiheit der einzelnen journalistischen Mitarbeiter und der ihr insoweit entsprechenden Schutzpflicht einerseits und der Rundfunkfreiheit des ORF andererseits ist durch Abwägung der Interessen im Rahmen von Art. 10 Abs. 2 EMRK zum Ausgleich zu bringen. Auf einfachgesetzlicher Ebene treffen § 33 ORF-G und das auf seiner Grundlage ergangene Redakteursstatut, die insbesondere auch Regelungen darüber enthalten, wie bei einem Konflikt zwischen der Medienfreiheit des einzelnen Mitarbeiters und der Pflicht zur Wahrung des Objektivitätsgebots im Fall der redaktionellen Bearbeitung des Beitrags eines journalistischen Mitarbeiters vorzugehen ist, Vorkehrungen dafür, dass die Medienfreiheit des einzelnen journalistischen Mitarbeiters gewahrt wird.
Gestützt auf seine Rundfunkfreiheit ist der ORF unter Wahrung der Meinungsfreiheit des einzelnen journalistischen Mitarbeiters jedenfalls berechtigt, auf Sendungsinhalte Einfluss zu nehmen, soweit dies zur Einhaltung der dem ORF verfassungsgesetzlich aufgegebenen Verpflichtung zur Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung und zur Berücksichtigung der Meinungsvielfalt erforderlich ist, wie sich aus Art. I Abs. 2 BVG Rundfunk ergibt. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einflussnahme auf Sendungsinhalte durch den ORF (dh. durch das eine Anweisung gebende Organ) ist jedoch nicht auf diese Fälle beschränkt, steht dem ORF doch das von Art. 10 EMRK iVm dem BVG Rundfunk geschützte Recht zu, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben seine Sendungen zu gestalten. Dabei hat der ORF, wenn es wie hier um den Ausgleich kollidierender Ansprüche zweier Grundrechtsträger geht, einen Beurteilungsspielraum, der seine Grenze in der individuellen Freiheit des einzelnen journalistischen Mitarbeiters findet.
Der ORF und die dem einzelnen Mitarbeiter vorgesetzten Organe dürfen – jenseits der Entscheidung, ob ein bestimmter von einem journalistischen Mitarbeiter gestalteter Beitrag überhaupt gesendet wird – auf den Inhalt der Sendung nicht dergestalt Einfluss nehmen, dass Tatsachenmitteilungen in Nachrichtensendungen unterdrückt werden müssen, bestimmte Quellen, wie zB Agenturmeldungen, nicht ausgewertet werden dürfen oder bereits recherchierte Fakten unberücksichtigt bleiben müssen. Den Organen des ORF ist im Rahmen der Rundfunkfreiheit aber nicht jede Möglichkeit genommen, gegenüber journalistischen Mitarbeitern auf Bewertungen Einfluss zu nehmen, die – zumal bei unsicherer Tatsachenlage – eine Berichterstattung zur Folge haben könnten, die in Konflikt mit den gesetzlichen Vorgaben geraten könnte. [...]
Dabei muss der ORF zur Abwendung der Feststellung einer Gesetzesverletzung nicht nachweisen, dass eine solche Einflussnahme tatsächlich erfolgen muss, damit der ORF die Verletzung des Objektivitätsgebots oder anderer gesetzlicher Vorgaben vermeiden kann. Vielmehr muss als Voraussetzung für die Feststellung einer Verletzung des ORF-G begründbar sein, dass die Freiheit der journalistischen Berufsausübung in unverhältnismäßiger Weise beschränkt wurde, etwa dadurch, dass die Annahme zutrifft, eine anweisende Person habe aus dem Motiv gehandelt, Informationen über bestimmte Tatsachen zu unterdrücken.
Mit anderen Worten: eine Einflussnahme von Vorgesetzten auf die Berichterstattung ist zulässig, und der ORF braucht sich bei einer dementsprechenden Weisung oder einem "Wunsch" auch nicht freibeweisen, dass die Einflussnahme notwendig war, um eine sonst drohende Gesetzesverletzung abzuwenden. Nur wenn man begründen kann, dass die Weisung (der "Wunsch") gerade dazu dienen sollte, die gebotene objektive Berichterstattung zu verhindern, läge ein Verstoß gegen § 32 Abs 1 ORF-G vor.

Für den konkreten Fall analysiert der VfGH dann noch das Mail des stv. Chefredakteurs, das - so der VfGH - eine "zurückhaltend formulierte" Empfehlung gewesen sei: "Der Verfasser der E-Mail hat somit auf Grundlage der Annahme einer unsicheren Tatsachenlage eine Empfehlung abgegeben, die im Zusammenhang mit der vorangehenden Begründung nachvollziehbar ist."

Der Bundeskommunikationssenat habe daher nicht davon ausgehen können, dass die Aufforderung durch den für die Sendung verantwortlichen Redakteur, eine bestimmte Formulierung nicht zu verwenden, die Freiheit der journalistischen Mitarbeiter in einem Ausmaß beeinträchtigt hätte, das die Feststellung einer Verletzung des ORF-G rechtfertigen würde. Die Feststellung der Verletzung des § 32 Abs 1 ORF G bedeute unter diesen Umständen eine Verletzung des Art 10 EMRK iVm dem Art I Abs 2 BVG Rundfunk.

Tuesday, April 02, 2013

Vermischte Lesehinweise (38): Medienvielfalt, Medienregulierung, Telekomrecht, ...

Nach längerer Zeit wieder einmal eine bunte Zusammenstellung von  Lesehinweisen (bzw Links) zu den Schwerpunktthemen dieses Blogs.

1. Medienvielfalt, vor allem zur High-Level Group on Media Freedom and Pluralism
Die im Oktober 2011 von Kommissions-Vizepräsidentin Kroes ad hoc eingesetzte "High Level Group on Media Freedom and Pluralism", bestehend aus der früheren lettischen Präsidentin Prof. Vaira Vīķe-Freiberga als Vorsitzender und Prof. Herta Däubler-Gmelin, Prof. Luís Miguel Poiares Pessoa Maduro und Ben Hammersley als weiteren Mitgliedern, hat am 21.01.2013 ihren Endbericht abgeliefert (mehr dazu auf der Übersichtsseite der Kommission mit dem Endbericht, einer auch deutschsprachigen Zusammenfassung und den Terms of Reference).

Der Bericht enthält einige Empfehlungen, wie sie in der akademischen Diskussion um Medienfreiheit und Medienvielfalt in der einen oder anderen Form schon vielfach gemacht wurden, beinhaltet also für Beobachter der einschlägigen Diskussion nichts wirklich Neues. An Bedeutung gewinnen die Empfehlungen freilich dadurch, dass sie in einem von der Kommission (mit entsprechender PR-Begleitung) eingeladenen Bericht stehen, sodass zu erwarten ist, dass sich die Kommission bei ihrem weiteren Vorgehen daran orientieren könnte (siehe dazu zB den Blogbeitrag von Neelie Kroas: Media freedom is a delicate flower). Besonders interessant sind natürlich die Empfehlungen, die vor dem Hintergrund der ungarischen Situation gelesen werden können (etwa: "Die EU sollte befugt sein, auf der Ebene der Mitgliedstaaten zum Schutz der Freiheit und Vielfalt der Medien einzugreifen, um dadurch den Wesensgehalt der Rechte zu garantieren, die den EU‐Bürgern durch die Verträge verliehen werden"), und damit zusammenhängend auch die Empfehlungen zu einem stärkeren "Monitoring" der Medienfreiheit:
"Um die europäischen Werte der Freiheit und des Pluralismus zu stärken, sollte die EU der europäischen Grundrechteagentur in ihrem Arbeitsprogramm eine Beobachtungsrolle in Bezug auf die Freiheit und Vielfalt der Medien auf nationaler Ebene zuweisen und die entsprechenden Mittel bereitstellen. Die Agentur würde dann über etwaige Gefahren für die Freiheit und Vielfalt der Medien in der EU regelmäßig Bericht erstatten. [...] Als Alternative zu dem in der vorangehenden Empfehlung vorgeschlagenen Mechanismus könnte die EU auch eine unabhängige Beobachtungsstelle einrichten, die idealerweise im Hochschulbereich anzusiedeln und teilweise von der EU zu finanzieren wäre, in ihrer Tätigkeit aber völlig unabhängig sein müsste."
Schließlich empfahl die High Level Group auch unabhängige "Medienräte" mit der Kompetenz zur Verhängung von Bußgeldern:
"Alle EU‐Länder sollten über unabhängige Medienräte verfügen, die politisch und kulturell ausgewogen sowie sozial vielfältig besetzt sind. Die Ernennung der Mitglieder sollte transparent und mit Kontrollmechanismen und Verfahrensgarantien erfolgen. Solche Gremien wären zuständig für die Untersuchung von Beschwerden, ähnlich einem Bürgerbeauftragen für die Medien, würden aber auch kontrollieren, ob die Medienunternehmen z. B. Verhaltensregeln veröffentlicht, ihre Eigentumsverhältnisse offengelegt und Erklärungen zu Interessenkonflikten abgegeben haben. Medienräte sollten über echte Durchsetzungsbefugnisse verfügen, um beispielsweise Bußgelder verhängen, die Veröffentlichung von Entschuldigungen anordnen oder die Berufszulassung für journalistische Tätigkeiten entziehen zu können. Nationale Medienräte sollten sich an eine Reihe europaweiter Normen halten und von der Kommission beaufsichtigt werden, um sicherzustellen, dass sie die europäischen Werte wahren."
Vor allem - aber nicht nur - die britische Presse sah darin einen Angriff auf die Pressefreiheit und begann dementsprechend zu kampagnisieren. Hier eine kleine Auawahl:
Das Thema ist jedenfalls nicht erledigt, die Kommission hat nun als Folge des Berichts erst mal zwei Konsultationen gestartet: eine Konsultation zur Medienfreiheit und -vielfalt und eine Konsultation zur Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden für audiovisuelle Medien; siehe dazu auch die Pressemitteilung der Kommission sowie eine Rede von Neelie Kroes.

Mit der Frage, welche Kompetenzen die EU im Bereich der Medienvielfalt und Medienfreiheit hat, setzten sich ForscherInnen des Centre for Media Pluralism and Media Freedom (CMPF) am European University Institute auseinander und schrieben diesen Bericht: Policy Report: European Union Competencies in Respect of Media Pluralism and Media Freedom (siehe dazu auch diesen Beitrag im LSE Media Policy Blog). Und einen interessanten Beitrag zu den "Soft Law"-Initiativen bringt Konstantina Bania: EU soft-law initiatives designed to protect media pluralism: Effective instruments or unnecessary public expenditure?

2. Medienregulierung im UK (+ NZ, AUS): Leveson und die Folgen
Nach dem Leveson-Bericht (siehe dazu im Blog hier) wurden nun im Vereinigten Königreich Vorschläge zur Reform der Presseregulierung gemacht, die im Wesentlichen auf eine neue, durch "Royal Charter" etablierte Selbstregulierungseinrichtung hinauslaufen, die wiederum durch ergänzende strafrechtliche Bestimmungen gestützt ("underpinned") werden soll; insbesondere durch die Möglichkeit von "exemplary damages", was als eine Art "Strafschadenersatz" zu verstehen ist. Die Details finden sich in der Draft Royal Charter on Self-Regulation of the Press, dazu gibt es die ergänzenden Regelungen in der Crime and Courts Bill ("statutory underpinning"), wobei es sich jeweils noch um Entwürfe handelt.

Zur Diskussion über die Entwürfe siehe zB After the Leveson report: What you need to know (ifex), - The 'Leveson Deal' -What is it? (Media Standards Trust), Victory, or "Leveson lite"? (Media Reform Coalition), Rafael Behr auf New Statesman, After Leveson (Stephen Sedley), ein Bericht im Guardian zur Reaktion der Medien und ein weiterer Bericht im Guardian zur Kritik Reaktion des Ex-PCC-Vorsitzenden Meyer. Als Beispiel  dafür, wie sich die Kritik  betroffener Medien gestaltet, verweise ich auf eine Story im Telegraph: Royal Charter: The men who want to kill our free press ("The new system of regulation will turn British newspapers into battlegrounds between opposing lobbyists, vested interests, pedants and anyone else with an axe to grind", illustriert unter anderem mit einem Bild von Hugh Grant, der sich als Opfer der Abhöraktionen für eine Reform eingesetzt hat). Bemerkenswert ist auch der Bericht von Alan Rusbridger, Chefredakteur des Guardian, über die Besprechungen zwischen Vertretern der betroffenen Medien, wie sie mit den Leveson-Empfehlungen umgehen wollten: "Who should guard the Guardian?" (mit Reaktionen anderer Pressevertreter).

Zur juristischen Analyse empfehle ich Hugh Tomlinson, QC, Leveson, Article 10 and Apologies: another red herring und Why extending exemplary damages is the best approach for public interest journalism, weiters Carl Gardner, The Leveson Royal Charter deal und Press Regulation: Th International Aspect, Gill Phillips, Briefing Note on Exemplary Damages and Costs, Ned Beale / Cara Gillingham, Leveson: Inquisitorial Arbitration, sowie Jacob Rowbottom, Leveson, Press Freedom and the Watchdogs ("If there is one lesson to take from Leveson it is that as well as emphasising the checking function of the press, we also ask what checks the press are subject to.").

Im Netz wurde auch umfassend erörtert, inwieweit Blogger in das System eingebunden sind; sie dazu zB die Beiträge Don't Panic (auf Information Rights and Wrongs), Bloggers and the Royal Charter (auf Paul Bernal's Blog), Hacked off, the law, bloggers and small publishers (auf hackinginquiry.org), Leveson vs the Bloggers: How to Make Regulation Work for Everyone (LSE Blog), The Royal Charter, Bloggers and Internet regulation – an extension too far? (Tim Lowles) und Why press regulation should cover blogs (Carl Gardner).

Zum Vergleich - insbesondere mit dem Leveson-Bericht - möchte ich noch auf einen aktuellen Bericht der Neuseeländischen Law Commission hinweisen: The News Media meets "New Media", Rights, Responsibilities and Regulation in the Digital Age (NZLC R128, 2013) Report by the New Zealand Law Commission (12,6 MB pdf); Übersichtsseite (siehe auch den Bericht auf Inforrm's Blog). Unter anderem schlägt die NZLC einen einheitlichen "standards body" (eine Art Medienrat) für alle Mediengattungen vor: "We recommend that the New Zealand Press Council, the Broadcasting Standards Authority and the Online Media Standards Authority be replaced with a single independent standards body with jurisdiction over all news media broadcasters, newspapers, and online providers."

Und schließlich ist noch der schon ein Jahr alte "Finkelstein-Report" zu erwähnen, der Bericht der australischen "Independent Media Inquiry", geleitet von Ray Finkelstein, QC (Übersichtsseite"Report of the Independent Inquiry into the Media and Media Regulation")

3. Medien - Diverses: 
4. Telekom:
5. USA- und Kanada-lastige Lesehinweise: