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Tuesday, March 29, 2016

EGMR, Große Kammer: Geldstrafe über Journalisten wegen Veröffentlichung aus Ermittlungsakten verletzte Art 10 EMRK nicht

Verletzt eine Geldstrafe wegen einer Veröffentlichung aus geheimen Gerichtsakten einen Journalisten in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung? Nach einem denkbar knappen (4:3) Urteil der zweiten Kammer des EGMR vom 1. Juli 2014 (im Blog dazu hier), in dem diese Frage bejaht wurde, hat die Große Kammer des EGMR mit dem heutigen Urteil im Fall Bédat gegen die Schweiz (Pressemitteilung des EGMR) die Angelegenheit mit deutlicher Mehrheit (15:2) anders entschieden: die Veröffentlichung barg das Risiko einer Beeinflussung des Verfahrens und beeinträchtigte das Privatleben des Beschuldigten; zudem war die verhängte Geldstrafe (4000 CHF) nicht unverhältnismäßig - die Große Kammer sah daher in der Verurteilung des Journalisten, der aus den vertraulichen Ermittlungsakten zitiert hatte, keine Verletzung des Art 10 EGMR. 
Der betroffene Journalist sieht einen schwarzen Dienstag für die Pressefreiheit
Zum Ausgangsfall: Das Drama auf der Großen Brücke von Lausanne
Im Jahr 2003 hatte M.B., ein betrunkener Autofahrer, in Lausanne drei Fußgänger getötet und acht weitere verletzt, bevor er mit seinem Fahrzeug vom Grand-Pont gestürzt war. Arnaud Bédat, Journalist beim Magazin L'illustré, veröffentlichte einen Artikel unter dem Titel "Drama auf der Großen Brücke von Lausanne - die Version des Rasers - die Vernehmung des verrückten Lenkers". Darin beschrieb der Journalist die Vernehmung des in U-Haft befindlichen M.B. durch Polizei und Untersuchungsrichter; außerdem wurden Fotos und Briefe von M.B. an den Untersuchungsrichter abgedruckt. M.B. beschwerte sich darüber nicht, von Amts wegen wurde aber ein Strafverfahren eingeleitet, weil geheime Unterlagen aus dem Strafverfahren veröffentlicht wurden. Im Zug der Untersuchung stellte sich heraus, dass offenbar eine am Zivilverfahren gegen M.B. beteiligte Partei die Unterlagen kopiert und dann in einem Einkaufszentrum verloren hatte; ein Unbekannter habe die Unterlagen dann der Redaktion des "L'illustré" gebracht.

Arnaud Bédat wurde wegen der Veröffentlichung zunächst zu einer bedingten Haftstrafe von einem Monat, in der Instanz zu einer Geldstrafe in der Höhe von umgerechnet rund 2.667 € verurteilt. Der EGMR zitiert - wie schon im Urteil der zweiten Kammer nun auch im Urteil der Großen Kammer - ausführlich aus dem letztinstanzlichen Urteil des Schweizer Bundesgerichts, in dem sich dieses auch mit dem Verhältnis zwischen Geheimhaltungspflicht nach dem Strafgesetzbuch und dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK befasst.

Zur Rechtslage
In der Schweiz stellt der - umstrittene - Art 293 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs die "Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen" unter gerichtliche Strafe:
1  Wer, ohne dazu berechtigt zu sein, aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, die durch Gesetz oder durch Beschluss der Behörde im Rahmen ihrer Befugnis als geheim erklärt worden sind, etwas an die Öffentlichkeit bringt, wird mit Busse bestraft.
2  Die Gehilfenschaft ist strafbar.
3  Der Richter kann von jeglicher Strafe absehen, wenn das an die Öffentlichkeit gebrachte Geheimnis von geringer Bedeutung ist.
Auch die Große Kammer (wie zuvor schon die zweite Kammer) des EGMR zitiert bei der Darstellung der Rechtslage nicht nur die Bestimmungen des Schweizer Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung, sondern auch die Richtlinien zur Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten des Schweizer Presserates (konkret die Bestimmungen zur Anhörung bei schweren Vorwürfen und zur Identifizierung) und die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Rec(2003)13 zur Information durch Medien im Hinblick auf Strafverfahren.

Im Hinblick auf den Rechtsvergleich stellt der EGMR fest, dass alle 30 Europarats-Staaten, zu denen ihm dazu Material vorliegt, die Veröffentlichung von Informationen, die dem Schutz des strafgerichtlichen Ermittlungsverfahrens dienen, unter Strafe stellen. In 23 dieser Staaten trifft das entsprechende Veröffentlichungsverbot alle Personen, in sieben Staaten (darunter Österreich; siehe § 54 StPO) nur die am Verfahren beteiligten Personen.

Das Urteil der Großen Kammer

- Eingriff - gesetzliche Grundlage - legitimes Ziel
Auch vor der Großen Kammer war nicht strittig, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art 10 EMRK vorlag und dass dieser eine ausreichende gesetzliche Grundlage hatte. Im Verfahren vor der Großen Kammer hatte der Beschwerdeführer auch nicht mehr bestritten, dass die gesetzliche Regelung ein legitimes Ziel im Sinne des Art 10 Abs 2 ERMK verfolgte (Gewährleistung des Ansehens und der Unabhängigkeit der Rechtsprechung sowie Schutz des guten Rufes [und] der Rechte anderer).

- Unentbehrlich in einer demokratischen Gesellschaft?
Der EGMR fasst zunächst die allgemeinen Prinzipien zusammen (Abs 48 - 54), wie er sie zuletzt etwa schon im Urteil Pentikäinen (im Blog dazu hier) dargestellt hat. Er betont dabei wiederum, dass der Schutz des Art 10 EMRK für Journalisten unter dem Vorbehalt steht, dass diese in in gutem Glauben handeln, um genaue und verlässliche Information im Einklang mit den Grundsätzen eines verantwortungsvollen Journalismus zu liefern. Das Konzept des verantwortungsvollen Journalismus ("responsible journalism") umfasst auch die Rechtmäßigkeit des Verhaltens von Journalisten: der Umstand, dass ein/e Journalist/in das Gesetz gebrochen hat ist eine relevante, wenn auch nicht entscheidende Überlegung für die Beurteilung, ob er oder sie sich verantwortungsvoll verhalten hat.

Wenn zwei gleichermaßen geschützte Rechte in Konflikt geraten, müssen die widerstreitenden Interessen abgewogen werden. Dabei sollte das Ergebnis das gleiche sein, egal von welcher Seite man an die Sache herangeht - das hat der EGMR in den letzten Jahren für die Abwägung zwischen den nach Art 8 und Art 10 EMRK geschützten Rechten in zahlreichen Fällen ausgesprochen (etwa Von Hannover (Nr. 2) [im Blog hier], Axel Springer AG [im Blog hier], und Couderc und Hachette Filipacchi). Im heute entschiedenen Fall hält der EGMR - insofern neu, aber nicht überraschend - fest, dass analoge Überlegungen auch für die Abwägung zwischen den nach Art 10 und Art 6 Abs 1 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK geschützten Rechten gelten müssen.

Für die Anwendung der allgemeinen Prinzipien auf den konkreten Fall geht der EGMR auf mehrere Kriterien ein:

(i) Wie kam der Journalist in den Besitz der Informationen?
Dem Journalisten war nicht vorgeworfen worden, die Informationen auf illegalem Weg erlangt zu haben. Allerdings konnte er sich nicht im Unklaren darüber sein, dass es sich um vertrauliche Informationen handelt (er hat auch nie bestritten, dass es geheime Informationen im Sinne der maßgebenden Schweizer Strafnorm waren).

(ii) Inhalt des strittigen Artikels
Das Schweizer Bundesgericht hat sich ausführlich mit dem Artikel befasst und darin festgehalten, dass die Art, in der der Journalist aus den Vernehmungsprotokollen zitierte und die Briefe des Beschuldigten wiedergab, auf seine Motive hinwies: er habe sich auf Sensationalismus beschränkt, und die ungesunde Neugierde an solchen Fällen befriedigen wollen. Leser der sehr einseitigen Veröffentlichung würden sich eine Meinung bilden und Vorurteile für das weitere Verfahren haben, ohne den geringsten Respekt für die Unschuldsvermutung (im Originial: "En prenant connaissance de cette publication très partielle, le lecteur se faisait une opinion et préjugeait sans aucune objectivité de la suite qui serait donnée par la justice à cette affaire, sans le moindre respect pour la présomption d'innocence").

Der EGMR hielt fest, dass der Artikel zwar keinen spezifischen Standpunkt zur Frage einnahm, ob das Delikt absichtlich verwirklicht wurde, aber ein sehr negatives Bild des Beschuldigten zeichnete und einen fast spöttischen Ton annahm. Die Überschriften und das große Close-up- Bild des Beschuldigten ließen keinen Zweifel daran, dass der Journalist seinen Artikel in einem sensationalistischen Ton verfassen wollte. Außerdem hat der Artikel die Belanglosigkeit der Aussagen des Beschuldigten und die vielen Widersprüche darin aufgezeigt und sie auch als "wiederholte Lügen" bezeichnet - Fragen, die das Gericht im Strafverfahren erst zu beantworten hatte.

(iii) Beitrag des strittigen Artikels zu einer Debatte im öffentlichen Interesse
Der EGMR "akzeptiert" (kein sehr starkes Wort in diesem Zusammenhang!), dass die gerichtlichen Untersuchungen der Tragödie auf der Großen Brücke von öffentlichem Interesse waren: der besonders außergewöhnliche Fall hatte große Emotionen in der Bevölkerung ausgelöst und auch die Justizbehörden hatten die Presse über einzelne Aspekte der laufenden Untersuchung informiert. Dennoch stelle sich die Frage, ob der Inhalt des Artikels - und speziell die Information, die vom Ermittlungsgeheimnis geschützt war - geeignet war, zur öffentlichen Debatte beizutragen, oder nur die Neugierde einer bestimmten Leserschaft auf Details aus dem Privatleben des Beschuldigten zu befriedigen. Auch hier stützt sich die Große Kammer des EGMR auf die ausführlich begründete Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts:
The Court notes in this connection that after an in-depth assessment of the content of the article, the nature of the information provided and the circumstances surrounding the “Lausanne Bridge” case, the Federal Court, in a lengthily reasoned judgment which contained no hint of arbitrariness, held that neither the disclosure of the records of interviews nor that of the letters sent by the accused to the investigating judge had provided any insights relevant to the public debate and that the interest of the public in this case had at the very most “involved satisfying an unhealthy curiosity”
Auch der Journalist habe nicht gezeigt, wie die Veröffentlichung von Vernehmungsprotokollen, Aussagen der Frau des Beschuldigten und seines Arztes sowie von Briefen des Beschuldigten an den Untersuchungsrichter über banale Aspekte des Alltags in der U-Haft zu einer Debatte von öffentlichem Interesse hätten beitragen können.

(iv) Einfluss des strittigen Artikels auf das Strafverfahren
"Grundsätzlich" verdienen die nach Art 10 und nach Art 6 Abs 1 EMRK geschützten Rechte gleichermaßen Respekt, doch im Hinblick darauf, was bei Strafverfahren auf dem Spiel steht (sowohl für die Unschuldsvermutung der Betroffenen, als auch für die Rechtsprechung an sich), ist es legitim, besonderen Schutz für die Vertraulichkeit gerichtlicher Untersuchungen vorzusehen. Die Vertraulichkeit ist auch gerechtfertigt, um die Meinungsbildung und die Entscheidungsprozesse in der Justiz zu schützen.

Der strittige Artikel hatte auch zum Ausdruck gebracht, dass der Beschuldigte alles in seiner Macht Stehende unternehme, um es unmöglich zu machen, ihn zu verteidigen. Die Veröffentlichung eines derart gefärbten Artikels noch während der gerichtlichen Untersuchungen birgt das Risiko, das Verfahren in der einen oder anderen Art zu beeinflussen, sei es hinsichtlich der Arbeit des Untersuchungsrichters, der Entscheidungen der Rechtsvertreter des Beschuldigten, der Privatbeteiligten oder der Objektivität und Zusammensetzung des die Strafverhandlung durchführenden Gerichts.

Dabei genügt die abstrakte Gefahr eine Beeinflussung, dass tatsächlich eine Beeinflussung erfolgte, muss nicht nachgewiesen werden. Ob die Maßnahmen zur Durchsetzung der Vertraulichkeit rechtmäßig sind, müsse nämlich in dem Zeitpunkt beurteilt werden können, in dem sie gesetzt werden, nicht erst im Lichte späterer Entwicklungen.

(v) Verletzung des Privatlebens des Beschuldigten
Den Staat trifft sowohl eine positive als auch eine negative Verpflichtung zur Achtung des Privat- und Familienlebens des Beschuldigten. Er darf nicht nur, so der EGMR unter Hinweis auf den Fall Craxi (Nr. 2) keine durch Art 8 geschützte Information preisgeben, sondern muss auch Maßnahmen treffen, um den effektiven Schutz eines Beschuldigten hinsichtlich seiner Korrespondenz zu gewährleisten.

Im konkreten Fall war die veröffentlichte Information von sehr persönlicher - sogar medizinischer - Art, und es wurden auch Briefe des Beschuldigten an den Untersuchungsrichter veröffentlicht. Diese Informationen verlangen den höchsten Schutz nach Art 8 EMRK, zumal der Beschuldigte der Öffentlichkeit nicht bekannt war und der bloße Umstand, dass gegen ihn gerichtliche Ermittlungen geführt wurden, nicht rechtfertigt, ihn wie eine public figure zu behandeln.

Abweichend von der Ansicht der zweiten Kammer des EGMR hält es die Große Kammer hier nicht für ausreichend, dass der Beschuldigte auch privatrechtliche Schritte gegen den Journalisten hätte einleiten können, da solche privatrechtlichen Abhilfemöglichkeiten den Staat nicht aus seinen positiven Verpflichtungen entlassen, die gegenüber einer strafrechtlich beschuldigten Person bestehen. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Beschuldigte im Zeitpunkt der Veröffentlichung in Untersuchungshaft und damit in einer verletzlichen Situation war. Außerdem dürfte er an psychischen Problemen gelitten haben, was seine Vulnerabilität weiter verstärkt habe.

(vi) Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe
Der EGMR sieht auch die verhängte Strafe als nicht unverhältnismäßig an; sie sei in Anbetracht einer früheren Verurteilung bemessen worden und sei zudem nicht vom Journalisten selbst, sondern von dessen Arbeitgeber getragen worden. Die Strafe sei für den Bruch der Vertraulichkeit des Ermittlungsverfahrens verhängt worden und habe als Ziel den Schutz des ordnungsgemäßen Funktionierens der Justiz und auch den Schutz der Rechte des Beschuldigten auf ein faires Verfahren und Achtung seines Privatlebens gehabt; sie habe damit auch keine abschreckende Wirkung auf die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung durch Journalisten, die die Öffentlichkeit über laufende Strafverfahren informieren wollten.

Zusammenfassend kommt die Große Kammer des EGMR damit zum Ergebnis, dass keine Verletzung des Art 10 EMRK vorliegt.

Abweichende Meinungen
Das Urteil wurde mit großer Mehrheit von 15 zu 2 Stimmen gefällt; der spanische Richter López Guerra und die ukrainische Richterin Yudkivska stimmten für das Vorliegen einer Verletzung des Art 10 EMRK und geben ihre Gründe dafür in (gesonderten) abweichenden Meinungen an.

López-Guerra stößt sich zunächst daran, dass der EGMR auf die Art der Berichterstattung abstellt; dies sei für die Frage, ob die Informationen im öffentlichen Interesse seien, nicht relevant. Der Journalist habe die Frage der Schuld oder Unschuld des Beschuldigten weder ausdrücklich noch implizit erwogen, sondern lediglich Statements des Beschuldigten wiedergegeben, ohne den möglichen Ausgang des Verfahrens zu kommentieren. Zudem sei der Artikel drei Monate nach dem Vorfall und deutlich vor der Entscheidung der nationalen Gerichte im Strafverfahren erschienen. Es sei schlicht nicht vorstellbar, dass Information in einer Zeitschrift mit begrenzter Verbreitung ein deutlich später von Berufsrichtern gefälltes Urteil in irgendeiner Weise beeinflussen könne.

Auch habe es keine Notwendigkeit gegeben, in die Äußerungsfreiheit des Journalisten zugunsten des Schutzes des Privatlebens des Beschuldigten einzugreifen. Der Beschuldigte habe keine Abhilfe durch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel nach Schweizer Recht gesucht und auch nicht angegeben, dass seine Privatsphäre verletzt worden sei. Zudem hätte es andere Mittel zum Schutz des Privatlebens gegeben, insbesondere müsse der Staat verhindern, dass die privaten Daten des Beschuldigten während des Verfahrens "geleaked" werden.

Yudkivska - die in ihrer abweichenden Meinung mehr Entscheidungen des US Supreme Court als des EGMR zitiert - betont zunächst die Bedeutung des tragischen Ereignisses auf der Großen Brücke für die "relativ kleine" Stadt Lausanne. Praktisch jeder Bewohner könnte ein Opfer oder Verwandte des Opfers gekannt haben. Das Verlangen, mehr darüber herauszufinden, was "Nachbarn" geschehen sei, sei vom Bundesgericht geringschätzig als ungesunde Neugier abgetan worden, was die Große Kammer unterstützt habe. Yudkivska teilt auch nicht die Auffassung, dass der Artikel nicht zur Debatte von öffentlichem Interesse beigetragen habe; die Veröffentlichung der ärztlichen Aussagen und der Briefe an den Untersuchungsrichter hätten vielmehr gerade die Frage des Geisteszustands des Beschuldigten betroffen, die von größtem Interesse für die Öffentlichkeit gewesen sei. Und auch Yudkivska meint, dass es am Beschuldigten gelegen wäre, die Achtung seines Privatlebens durchzusetzen.

Anmerkungen

- Nationaler Beurteilungsspielraum
In meiner Anmerkung zum Kammerurteil habe ich schon darauf hingewiesen, dass der EGMR dem deutschen Bundesgerichtshof zuletzt in Art 10 EMRK-Fällen eine korrekte Abwägung im Beurteilungsspielraum attestiert hatte, beim Schweizer Bundesgericht aber kritischer schien. Das wurde mit dem nunmehrigen Urteil der Großen Kammer korrigiert: nicht nur bei der Darlegung der allgemeinen Grundsätze, sondern auch bei der Anwendung auf den konkreten Fall zeigt sich, dass der EGMR den nationalen Beurteilungsspielraum ernst nimmt. In der Abarbeitung der sechs Kriterien verweist der EGMR überdies zB auf die "fully reasoned decision" des Bundesgerichts (auch: "a lengthily reasoned judgment which contained no hint of arbitrariness") oder auf dessen "in-depth assessment". Das ist freilich nicht bloß als gewisse Anerkennung für das Bundesgericht gedacht, sondern liefert der Sache nach vor allem die Rechtfertigung für den EGMR, sich hier zurückzunehmen und den nationalen Beurteilungsspielraum anzuerkennen - das tut er nämlich nur dann, wenn das nationale Gericht sein Ergebnis, insbesondere in der Abwägung zB zwischen den nach Art 8 und Art 10 EMRK geschützten Rechtspositionen, ausreichend (in der Regel unter Bezugnahme auf die EMRK und relevante Rechtsprechung des EGMR) begründet hat.

- Tonfall der Berichterstattung
In der Sache selbst fällt meines Erachtens zunächst auf, dass der Tonfall bzw die Art und Weise der Berichterstattung eine hervorgehobene Bedeutung erlangt, und zwar bereits auf der Ebene der Frage, ob die Veröffentlichung zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beiträgt. Vereinfacht gesagt: auch wenn die Strafsache als solche von öffentlichem Interesse ist, gilt das noch lange nicht für alle Details aus den Ermittlungsakten, die vielleicht "g'schmackig" sind und zur Stimmungsmache taugen. Dabei kommt es nicht nur auf den Inhalt an, sondern auch auf die Aufmachung, hier im konkreten Fall auch auf die Überschriften und verwendeten Fotos. Für Journalisten kann das durchaus heikel sein, wenn nämlich die Überschriften - wie häufig der Fall - nicht von ihnen selbst getextet werden, und das Interesse des Schlagzeilenredakteurs oft gerade darauf abzielt, die "ungesunde Neugierde" des Publikums zu wecken.

Die starke Ausrichtung auf den Tonfall der Berichterstattung kann man auch als eine Ausprägung des Konzepts des "verantwortlichen Journalismus" sehen, den der EGMR aus Art 10 Abs 2 EMRK ableitet ("Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt ..."). Wenn ein Journalist sich in seiner Berufsausübung unrechtmäßig - nach nationalen Rechtsvorschriften - verhält (hier: Ausschnitte aus geheimen Ermittlungsakten wiedergibt), dann - so würde ich es vereinfacht zusammenfassen - schließt das für sich genommen zwar noch nicht aus, dass sein Verhalten nach Art 10 EMRK gerechtfertigt sein kann. Trägt dieses unrechtmäßige Verhalten aber nicht in seriöser Weise zu einer Debatte von öffentlichem Interesse bei, sondern dient es bloß der Befriedigung von Sensationslust oder sonst ungesunder Neugierde, dann handelt der Journalist nicht mehr verantwortungsvoll im Sinne des Art 10 Abs 2 EMRK.

- Positive Verpflichtung zum Schutz des Privatlebens von Beschuldigten
Vor allem aber fällt auf, dass der EGMR positive staatliche Verpflichtungen zum Schutz des Privatlebens des Beschuldigten gegenüber Veröffentlichungen in den Medien statuiert, und dies ausdrücklich auch neben möglichen zivilrechtlichen Abhilfemaßnahmen des Betroffenen. Noch etwas unscharf scheint dabei, wie stark die Vulnerabilität des Beschuldigten hier eine Rolle spielt: könnte man zB von einem wohlhabenden Bankier, Ex-Finanzminister oder Lobbyisten eher erwarten, dass er selbst zivilrechtlich gegen die Veröffentlichung vertraulicher Aktenteile vorgeht, oder muss hier eine abstrakte Beurteilung Platz greifen - weil man als Beschuldigter jedenfalls verletzlich ist?

- Und in Österreich?
Für Österreich ergibt sich aus dem Urteil eine durchaus spannende Frage: reichen die aktuellen Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit verbotenen Veröffentlichungen aus Ermittlungsakten aus, um den Schutz des Privatlebens von Beschuldigten zu schützen? (§ 54 StPO richtet sich an Beschuldigte und deren Verteidiger, Journalisten sind von diesem Verbot nicht betroffen.)

Das Urteil des EGMR beantwortet diese Frage nicht, da der Gerichtshof einen Fall zu beurteilen hatte, in dem nationale Rechtsvorschriften ein - strafbewehrtes - Verbot der Veröffentlichung aus geheimen Akten enthielten, das auch gegenüber Journalisten galt. Dass der EGMR eine Verurteilung des Journalisten nach dieser Bestimmung nicht als Verletzung des Art 10 EMRK beurteilte, bedeutet im Umkehrschluss nicht zwingend, dass ein Fehlen solcher Vorschriften im Falle einer gleichartigen Veröffentlichung zu einer Verletzung des Art 8 EMRK zulasten des Beschuldigten führen würde. Allerdings hat der EGMR (in Abs 77 des Urteils) deutlich gemacht, dass die Existenz zivilrechtlicher Rechtsbehelfe allein den Staat nicht aus seinen positiven Verpflichtungen entlässt, die - "in jedem Einzelfall" - gegenüber einem Beschuldigten zum Schutz seiner Rechte nach Art 8 EMRK (und wohl auch nach Art 6 EMRK zum Schutz des fairen Verfahrens) bestehen.

Update 31.03./12.04.2016: siehe auch den - der Entscheidung der Großen Kammer zustimmenden - Beitrag von Maximilian Steinbeis im Verfassungsblog und den - das Urteil hart kritisierenden - Beitrag von Dirk Voorhoof auf Strasbourg Observers.

Tuesday, March 22, 2016

EGMR: keine Verletzung des Art 8 EMRK durch Unterbleiben der Strafverfolgung nach Talkshow-"Witzen" auf Kosten eines TV-Moderators

Manuel Luís Sousa Goucha ist ein populärer portugiesischer Fernsehmoderator, seit fast 40 Jahren in den Medien aktiv. 2008 hat er öffentlich bekannt gegeben, homosexuell zu sein. Durch einen "Witz" in einer Comedy Talk Show, der als Anspielung auf seine Homosexualität verstanden werden konnte, sah er sich in seiner Ehre verletzt. Weil er die nationalen Gerichte nicht zur Strafverfolgung der Sendungsmacher bewegen konnte, wandte er sich mit einer auf Art 8 EMRK gestützten Beschwerde an den EGMR. Dieser hat mit seinem heute bekannt gegebenen Urteil Sousa Goucha gegen Portugal (Appl. no. 70434/12) aber gegen den Beschwerdeführer entschieden und festgestellt, dass keine Verletzung des Art 8 - Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - vorliegt.

Ausgangsfall
In einer nach-mitternächtlichen Comedy Talk-Show fragte der Moderator seine Gäste, wer die beste portugiesische TV-Moderatorin sei und gab dafür vier Namen zur Auswahl an, darunter drei Frauen und Herrn Sousa Goucha. Dieser erstattete Strafanzeige wegen Beleidigung, unter anderem gegen den Moderator und die Programmverantwortlichen. Sein Ruf und seine Würde seien dadurch geschädigt worden, dass sein Name in die Liste der möglichen Antworten aufgenommen worden war.

Das Strafverfahren wurde jedoch vom Staatsanwalt nicht fortgeführt, auch eine Art Subsidarantrag von Sousa Gouche blieb erfolglos und wurde vom Gericht verworfen. Dabei wurde festgestellt, dass die Sendungsmacher weder beabsichtigt hatten, die Ehre des Beschwerdeführers anzugreifen, noch es als möglich ansahen, dass seine Ehre dadurch beeinträchtigt würde; die subjektive Tatseite lasse sich damit nicht verifizieren. Weiters hielt das Gericht fest
It should be taken into account that we have before us a comedy show, and that the moment at which the defendant asked her guest a question, referring to Manuel Luís Goucha as ‘one of the best female Portuguese hosts’, was considered to be one of the many jokes said throughout the show, typical of such shows.
[Manuel Luís Goucha] is a public figure and so must be used to having his characteristics captured by comedians in order to promote humour; it being public knowledge that [the applicant’s characteristics] reflect behaviour that is attributed to the female gender, such as his way of expressing himself, his colourful [feminine] clothes, and the fact that he has always lived in a world of women (see, for example, the programmes he has always presented on television).
(Video mit Bildern von Sousa Goucha mit Co-Moderatorin)

Auch in der Instanz blieb der Beschwerdeführer erfolglos; das Berufungsgericht sah durch die Äußerungen in der Sendung noch nicht die Schwelle für den Schutz der Ehre erreicht:
...the expression used in a playful and irreverent context and in the normal style previously adopted by the television show under consideration, even though one may consider it as being in bad taste, does not reach the threshold required by law for the protection of honour and consideration.
Urteil des EGMR

- Hinweis auf EuGH-Rechtsprechung
Zunächst ist bemerkenswert, dass der EGMR das EuGH-Urteil in der Rechtssache C‑201/13, Deckmyn und Vrijheidsfonds zitiert (im Blog dazu hier); dabei ging es um die Frage der urheberrechtlichen Zulässigkeit einer Parodie. Der EGMR nimmt auf dieses Urteil dann auch ausdrücklich Bezug (in Abs 50), um zu begründen, dass für Parodie ein besonders weiter Beurteilungsspielraum im Kontext der Freiheit der Meinungsäußerung eingeräumt werden müsse.

- Zur Zulässigkeit/Anwendbarkeit des Art 8 EMRK
Der Beschwerdeführer wurde in der Talk Show in einer Reihe weiblicher Moderatorinnen genannt; nach seiner Ansicht wurde damit Geschlecht und sexuelle Orientierung vermischt. Der EGMR hält dazu fest, dass Geschlecht und sexuelle Identität "two distinctive and intimate characteristics" sind. Jede Vermengung dieser Charakteristika stellt einen Angriff auf den Ruf der Person dar; Art 8 EMRK kommt daher zur Anwendung.

- In der Sache
Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung des Art 8 EMRK resultiert nicht aus einem Urteil, sondern aus der Verweigerung der Strafverfolgung gegenüber den Sendungsmachern. Für den EGMR stellt sich daher die Frage, ob der Staat im Rahmen seiner positiven Verpflichtungen nach Art 8 EMRK einen angemessen Ausgleich zwischen dem Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens und dem Recht der anderen Parteien auf freie Meinungsäußerung erreicht hat.

Der EGMR berücksichtigt dabei, dass der Beschwerdeführer ein prominenter TV-Moderator und damit eine "public figure" im Sinne der Rechtsprechung war. Außerdem spielt Umfeld und Art der als ehrverletzend angesehenen Äußerung - der "Witz" wurde in einer Late-Night Comedy Show gemacht - eine wesentliche Rolle. Satire ist eine Form des künstlerischen Ausdrucks und zielt - mit ihren Eigenschaften der Übertreibung und Realitätsverzerrung - auch auf Provokation. Jeder Eingriff in das Recht von Künstlern, sich in satirischer Form auszudrücken, muss daher besonders sorgfältig geprüft werden (Hinweis ua auf das Urteil Vereinigung bildender Künstler [im Blog dazu hier]). Der EGMR habe, so heißt es in Abs 50 weiter, im Fall Nikowitz (im Blog dazu hier) das Kriterium des "verständigen Lesers ("reasonable reader") eingeführt, der bei satirischem Material zu berücksichtigen sei (tatsächlich kommt im Urteil Nikowitz das Kriterium des verständigen Lesers nicht vor, nur das Kriterium des durchschnittlichen Lesers ["average reader"] - eine doch überraschende Unschärfe in diesem Urteil).

Unter diesen Umständen könne eine Verpflichtung des Staates nach Art 8 EMRK zum Schutz des guten Rufs des Beschwerdeführers dann entstehen, wenn die Aussagen über das nach Art 10 EMRK akzeptable Maß hinausgingen. Das kann der EGMR hier aber nicht feststellen. Die nationalen Gerichte hatten den spielerischen und respektlosen Stil der Sendung und den dort üblichen Humor berücksichtigt und waren zum Ergebnis gekommen, dass eine verständige Person den "Witz" nicht als Beleidigung/üble Nachrede ansehen würden, weil er auf das Verhalten des Beschwerdeführers und seine Ausdrucksweise abgezielt habe. Eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit zum Schutz des Rufs des Beschwerdeführers wäre in diesem Fall unverhältnismäßig gewesen.

- Zu Artikel 14 EMRK
Auch das Verbot der Diskriminierung nach Art 14 EMRK wurde nicht verletzt: Der EGMR hielt dazu fest, dass sich die nationalen Gerichte mit der farbenfrohen Kleidung des Beschwerdeführers befasst hatten und mit den TV-Shows, die er moderierte und die vorwiegend von Frauen gesehen wurden. Es gäbe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gerichte zu einem anderen Ergebnis gekommen wären, wenn der Beschwerdeführer nicht homosexuell wäre (was an sich ein schwaches Argument ist, weil der Beschwerdeführer ja gerade der Auffassung war, dass ein derartiger "Witz" bei nicht homosexuellen Moderatoren nicht gemacht worden wäre). Der EGMR kommt jedenfalls zum Ergebnis, dass die Entscheidung, keine Strafverfolgung einzuleiten, durch das Ergebnis einer Abwägung zwischen den nach Art 8 und Art 10 EMRK geschützten Interessen bestimmt war und die Homosexualität des Beschwerdeführers dabei keine Rolle spielte.

Zusammengefasst:
Dass in Late-Night Shows respektlose Witzchen gemacht werden, muss man als Betroffener, wenn man eine "public figure" ist, schon aushalten - jedenfalls wenn es einen entsprechenden Anknüpfungspunkt gibt (wie hier den "femininen" Kleidungsstil des Betroffenen).

Update 03.04.2016: siehe nun auch den Beitrag von Hugh Tomlinson auf Inforrm's Blog.

Thursday, March 17, 2016

EGMR zum Streit um die Reputation eines Theaterdirektors "mit Hang zur etatüberschreitenden Geste" (nicht Hart- sondern Hoffmann)

Ein ehemaliger Theaterdirektor mit "Hang zur etatüberschreitenden Geste", der um seine Reputation kämpft - das könnte eine aktuelle Geschichte rund um das Burgtheater sein. Tatsächlich spielte die Sache aber in Magdeburg und war Ausgangspunkt eines langen gerichtlichen Streits, der nun vor dem EGMR sein Ende fand. Mit der heute veröffentlichten Entscheidung vom 23.02.2016 im Fall Max K. Hoffmann gegen Deutschland (Appl. nos. 66861/11 und 33478/12) wurde die Beschwerde des Theaterdirektors als offensichtlich unbegründet für unzulässig erklärt.

Max K. Hoffmann war mehr als zehn Jahre hindurch Generalintendant des Theaters der Landeshauptstadt Magdeburg. Nach Budgetkürzungen wurde der Etat des Theaters im Jahr 2002 um 386.000 € überzogen. Daraufhin löste der Stadtrat den Vertrag mit dem Generalintendanten wegen der Budgetüberschreitung und wegen dessen Verhaltens gegenüber Mitarbeitern und dem Bürgermeister, die er mit der Stasi verglichen hatte. In einem nachfolgenden Gerichtsverfahren mit der Stadt wurde ein Vergleich geschlossen, mit dem der Generalintendant eine Zahlung von € 215.000 erhielt.

Im Oktober 2003 brachte der MDR einen Bericht (der Ende 2003 auf 3sat wiederholt wurde), in dem es ua hieß: "knietief im Dispo nämlich ist das Theater der Landeshauptstadt, weil dessen ehemaliger Generalintendant Max K. Hoffmann einen Hang zur etatüberschreitenden Geste hat. Woraufhin er entlassen wurde". 2006 klagte der Ex-Generalintendant sowohl MDR als auch 3sat, weil seine Reputation durch den Bericht geschädigt worden sei. Das Gericht in Leipzig (Klage gegen den MDR) kam zum Ergebnis, dass Teile des Berichts faktisch unrichtig waren (die Entlassung sei wegen des Stasi-Vergleichs ausgesprochen worden, nicht wegen der Budgetüberschreitung), es liege aber keine schwere Beeinträchtigung des Rufs des Intendanten vor; nur materielle Schäden - die aber nicht nachgewiesen worden seien - wären zu ersetzten. Das Gericht in Hannover (Klage gegen 3sat) wies die Klage gänzlich ab, da es sich um Werturteile gehandelt habe, die auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhten.

Schließlich klagte der Ex-Intendant auch noch die Stadt Magdeburg, was wegen des geschlossenen Vergleichs erfolglos blieb. In allen drei Verfahren blieben auch die Rechtsmittel bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht erfolglos.

Vor dem EGMR machte der Ex-Intendant geltend, dass seine Ehre und sein guter Ruf durch die nationalen Gerichte nicht ausreichend geschützt wurden und er daher in seinen durch Art 8 EMRK garantierten Rechten verletzt worden sei.

Der EGMR beurteilte die Beschwerde einstimmig als offensichtlich unbegründet. Die Abwägung ist kurz und klar, entsprechend den bekannten Kriterien der Abwägung im Fall widerstreitender Interessen nach Art 10 und Art 8 EMRK (zuletzt in Couderc et Hachette Filipacchi Associés, Abs 93; und Axel Springer AG, Abs. 90-95 [im Blog dazu hier], und Von Hannover (Nr 2), Abs. 109-113 [im Blog dazu hier]. Im Einzelnen:

1. Die Berichte betrafen den Wechsel des Managements in einem öffentlich finanzierten Theater. Insbesondere wegen der Budgetüberschreitung war die Debatte zu Budget und Management des Theaters von öffentlichem Interesse, jedenfalls in der betroffenen Region.
2. Der Beschwerdeführer war über mehr als zehn Jahre Generalintendant des Theaters gewesen und relativ bekannt. Außerdem war er nicht Gegenstand des Berichts gewesen, sondern wurde nur im Zusammenhang mit dem überraschenden Umstand erwähnt, dass bei der folgenden Fusion der Theater der Direktor des kleineren Hauses Generalintendant beider Häuser wurde.
3. Zum Verhalten des Beschwerdeführers hielt der EGMR fest, dass dieser nach der Entlassung weder einen Widerruf noch eine Berichtigung verlangt habe, sondern drei Jahre bis zur Klage gewartet habe. Er habe damit keine angemessenen Mittel eingesetzt, umd die Folgen der angeblichen Verletzung zu mindern.
4. Zum Wahrheitsgehalt der Veröffentlichung stellte der EGMR fest, dass nach den Urteilen der nationalen Gerichte die Information zur Beendigung des Dienstverhältnisses nicht "als solche" falsch war ("not incorrect as such"), wohl aber unpräzise. Das Gericht in Hannover habe aber festgehalten, dass das Format des Berichts und die verwendete Sprache nicht die Erwartung einer präzisen Darstellung er Ereignisse erweckt habe, sondern eines kurzen und künstlerischen Überblicks über die Theaterlandschaft in Magdeburg.
5. Zu den Folgen der Veröffentlichung schließlich habe der Beschwerdeführer zwar behauptet, dass der Umstand, dass er keine neue Beschäftigung habe finden können, mit dem falschen Ruf zusammenhingen, er habe eine Neigung zur Budgetüberschreitung. Der EGMR hielt dazu aber fest, dass der Beschwerdeführer dazu in den nationalen Gerichtsverfahren keine Beweise habe vorlegen können.

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien kam der EGMR somit zum Ergebnis, dass die Abwägung durch die nationalen Gerichte deren Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat.

PS: Das ist wahrlich kein gewichtiger Fall in der Art 10/Art 8 EMRK-Rechtsprechung des EGMR. Spannender, auch in der öffentlichen Wahrnehmung, war heute sicher das Urteil im Fall Kahn gegen Deutschland (Pressemitteilung), in dem es um die Veröffentlichung von Bildern der Kinder eines prominenten Fußballers ging. Das Privileg des Bloggers ist es aber, sich auch mal mit unwichtigeren Fällen zu beschäftigen - und mir lag angesichts der aktuellen Debatte um die Rechnungshof-Rohberichte zum Burgtheater - heute eben gerade diese Story näher.

Friday, March 04, 2016

Der ORF-Stiftungsrat und das Rechtsgutachten als Mediationsersatz

Der Österreichische Rundfunk hat nach § 4 Abs 2 ORF-G "ein differenziertes Gesamtprogramm von Information, Kultur, Unterhaltung und Sport für alle anzubieten." Diese Verpflichtung bezieht sich - Stichwort: Gesamtprogramm - eigentlich nicht auf die Tätigkeit der ORF-Organe, zumal diese ja eher nicht zum "Programm" gehört, das den HörerInnen und SeherInnen angeboten wird.

Nach den Berichten über die gestrige Sitzung des ORF-Stiftungsrats kann man aber zweifeln, ob das auch der Stiftungsrat selbst so sieht. Da war etwa ein großer Sportblock, in dem es um violette Krawatten, Austria Wien und Rapid ging, auch Information (zB über das vorläufige Jahresergebnis) und Kultur (Generalsanierung und Bundesdenkmalamt) waren vertreten. Und nicht zuletzt gab es auch Unterhaltung, wurde doch eine neue Runde in der reality soap "ORF's next Generaldirektor/in" eingeläutet. Um den Unterhaltungswert zu steigern, hat der Stiftungsrat sogar ein neues Spannungselement eingebaut: ein professorales Rechtsgutachten, fein austariert erstellt von zwei Professoren, denen der Stiftungsrat vertraut (wenn auch vielleicht der eine Freundeskreis dem einen Professor und der andere Stiftungsrat dem anderen Professor jeweils etwas mehr vertraut*).

Das Gutachten wird für den Fall erstellt, dass ein Kandidat/eine Kandidatin entweder entgegen der Ausschreibung die Bewerbung verspätet abgibt oder sich gar nicht erst bewirbt, sondern sonst ins Spiel gebracht - von Mitgliedern des Stiftungsrats "nachnominiert" - wird.

Die Rechtsfragen dazu sind seit langem bekannt, höchst überschaubar und vergleichsweise einfach. Bräuchte der Stiftungsrat - dem einige Mitglieder mit juristischem Hintergrund angehören - dazu wirklich inhaltliche (juristische) Unterstützung, so könnte das Gremienbüro des ORF oder die hauseigene Rechtsabteilung die entscheidenden Fragen aus dem Stand genauso "rechtssicher" beantworten wie das durch ein extern erstelltes professorales Rechtsgutachten möglich ist.

Warum wird also ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben? Wohl nicht allein zur Förderung des rundfunkrechtlichen Schrifttums (so nett ich das auch fände). Der Vorsitzende des Stiftungsrats meint, es gebe "ernst zu nehmende unterschiedliche Rechtsmeinungen", nach dem Vorsitzenden des anderen Freundeskreises geht es "um die Frage des Handlungsspielraums für das Gremium." Ja, eh. Bloß: wenn es jetzt ernst zu nehmende unterschiedliche Rechtsmeinungen gibt - warum sollten diese dann weniger ernst zu nehmen sein, nur weil es ein Gutachten zweier Verfassungsrechtler gibt? Fände, wer das wollte, nicht für eine jetzt ernst zu nehmende abweichende Rechtsansicht auch noch einen anderen Professor/eine andere Professorin für ein Gegengutachten?

Rechtssicherheit ist mit einem Rechtsgutachten nicht zu erreichen. Tatsächlich erfüllen solche Gutachten ja meist andere Zwecke, mit denen ich mich an anderer Stelle ("Das professorale Gutachten als juristische Allzweckwaffe") schon einmal näher befasst habe. Das vom Stiftungsrat nun beauftragte Gutachten lässt sich aber nicht so einfach in die von mir dort angesprochenen Kategorien (PR-, Alibi-, Tarnkappen-Gutachten) einordnen, weil es weder der PR-mäßigen Behübschung der eigenen Rechtsauffassung dient, noch der Rechtfertigung für ein Handeln in der rechtlichen Grauzone, und weil zudem auch offengelegt wird, dass die beauftragten Professoren das im Auftrag des ORF schreiben und nicht aus eigenem wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse.

Das Rechtsgutachten als ausgegliederte Konfliktlösung (oder statt einer Mediation)
Die "unterschiedlichen Rechtsanschauungen" bestehen - folgt man den einschlägigen Medienberichten - zwischen den sogenannten "Freundeskreisen". Ich kann mir den Auftrag für das Rechtsgutachten daher nur so erklären, dass damit ein gesichtswahrender Ausweg für die Auflösung dieses - weniger juristisch als (personal)politisch erklärbaren - Konflikts gefunden wurde: Weil sich rot und schwarz im Stiftungsrat nicht auf das Procedere einigen können (und weil ein "Nachgeben" einer Seite sofort, gerade auch von den Medien, als Niederlage für diese Seite gesehen würde), wird die Auflösung dieses Konflikts delegiert.

Die Situation ähnelt einem Schiedsverfahren: jede Seite benennt einen SchiedsrichterGutachter, diese würden sich üblicherweise auf einen Vorsitzenden/eine Vorsitzende einigen. Hier hat man auf diesen weiteren Schritt verzichtet (obwohl das dem zu unterhaltenden Publikum noch mehr Spannung hätte bieten können), die beiden Gutachter müssen sich eben so einigen (was freilich juristisch kein großes Problem darstellen sollte). Man kann das als stellvertretende Konfliktlösung sehen oder als Ersatz für ein Mediationsverfahren, in dem die Freundeskreise zu einem gemeinsamen Verständnis hätten kommen können, wie sie ihre Aufgabe (den/die am besten geeignete/n Generaldirektor/in zu bestellen) in prozeduraler Hinsicht abwickeln wollen.

Spannend wird natürlich, ob der mit dem Gutachten dann stellvertretend geschlossene Frieden zwischen den Konfliktparteien auch halten wird, oder ob (oder vielleicht besser: wann und wo) neue Konfliktlinien aufbrechen. In diesem Sinne: weiterhin gute Unterhaltung!

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*) Disclosure: ich kenne beide und vertraue natürlich beiden (werde aber mit ihnen sicher nicht über ihr Gutachten reden).