Pages

Monday, February 07, 2022

Koalitions-Sideletter und öffentlich-rechtlicher Rundfunk

Kuhhandel ist ein Spiel für 3-5 Personen im Alter von 10-99 Jahren - oder für (zumindest) zwei Regierungsparteien. Aber dann ist es nicht mehr wirklich ein Spiel, sondern Politik.

Zu den Ende Jänner 2022 bekannt gewordenen Nebenvereinbarungen zwischen den früheren Koalitionsparteien ÖVP und FPÖ und den aktuellen Koalitionsparteien ÖVP und Grüne (zB hier auf profil.at) habe ich hier schon ein paar allgemeine Überlegungen  formuliert, wobei vor allem die Erstellung von Vorschlägen für die Bestellung von VfGH-Mitgliedern im Vordergrund stand. Diese Vorschläge sind von der Bundesregierung bzw. National- und Bundesrat zu erstatten - und unterscheiden sich damit ganz gravierend von Personalentscheidungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, bei denen das Verfassungsrecht dem politischen Einfluss enge Grenzen setzt. In diesem Blogbeitrag geht es nun darum, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den Sidelettern behandelt wird. 

Damit stellt sich auch schon die erste Frage: was steht überhaupt in den Sidelettern?  Die bisherigen Veröffentlichungen erfolgten bruchstückhaft (und natürlich interessengetrieben), ich bin daher nicht sicher, ob das, was aktuell öffentlich zugänglich ist, vollständig ist. Ich stelle daher an den Beginn dieses Beitrags einmal eine Übersicht über das, was mir aus Veröffentlichungen in den Medien bekannt ist:

Sideletter ÖVP/FPÖ 2017

Im Sideletter zu dem 2017 zwischen ÖVP und ÖVP geschlossenen Koalitionsübereinkommen*) heißt es wörtlich: 

„ORF

Es wird auf die Vereinbarung zwischen Norbert Steger und Thomas Zach verwiesen. Diese Vereinbarung liegt bei (siehe Anhang).

Es gibt Einvernehmen darüber, dass die ORF-Gebühren unter Voraussetzung budgetärer Machbarkeit in das Budget des Bundeshaushalts übergeführt werden. Den Zeitpunkt vereinbaren die beiden Koalitionspartner gemeinsam.“

Die darin angesprochene Vereinbarung Norbert Steger und Thomas Zach, zwei Mitgliedern des ORF-Stiftungsrates, lautete (auszugsweise?) wie folgt: 

Kurzfristige Maßnahmen

Channelmanager 1: T.L.
Chefredakteur 1: G.W.
Channelmanager 2: W.R.
Chefredakteur 2: S.M.
Leiter Rechtsabteilung:J.M., K.M.
Leiter Personalabteilung: S.S.
Hauptabteilungsleiter Wissenschaft und Religion (FD2 und FD8): W.P.
Hauptabteilungsleiter Unterhaltung und Film/Serie (FD5 und FD6): H.A.
Sendungsverantwortlicher Daytime: S.A.

Gremien und ORF-Struktur

Bestellungen nach geltender Rechtslage:

Stiftungsrat: 4:4:1 (Vorsitz Dr. Steger, nach allfälligem Ausscheiden Dr. Steger -> Vorsitz VP)
Entsendung aus Publikumsrat in Stiftungsrat: 3:3
Geschäftsführung bei gesamter Neubestellung: 3:2 (GD + 2 VP, 2 FP)

Bestellungen nach neuer Rechtslage:

Stiftungsrat: bleibt unverändert in Bestellung/Entsendung und Anzahl (dzt. geltende Fassung)
Geschäftsführung:     VP: GD (mit Dirimierungsrecht) + 1
                                   FP: 2“

Dass die in bestimmte Funktionen zu bestellenden ORF-Mitarbeiter*innen nur mit ihren Initialen genannt werden, ändert nichts daran, dass Insidern klar erkennbar ist, wer damit gemeint war (zumindest wenn man berücksichtigt, dass der erste Buchstabe der Familienname und der zweite Buchstabe der Vorname ist). 

Schon im Hinblick darauf, dass in dieser Vereinbarung nur von kurzfristigen Maßnahmen die Rede ist, wäre zu erwarten, dass auch Vereinbarungen über mittel- oder langfristige Maßnahmen getroffen wurden, die aber jedenfalls bislang noch nicht an die Öffentlichkeit gekommen sind. 

Sideletter ÖVP/Grüne

Im Sideletter zum Koalitionsübereinkommen zwischen ÖVP und Grünen*) aus dem Jahr 2019 für die aktuelle Gesetzgebungsperiode finden sich folgende einschlägige Passagen: 

„6 ORF

-> Stiftungsräte: Nominierungsrecht 5 x OVP, 2 x unabhängige auf Vorschlag der ÖVP, 2 x Grüne; durch BKA nominiert

Grundsätzlich ist festzuhalten dass alle Besetzungen auf Basis von Kompetenz und Qualifikation erfolgen.

...

Bezüglich der Zusammenarbeit im ORF Stiftungsrat wird auf die Vereinbarung der Vorsitzenden der Freundeskreise der Koalitionspartner verwiesen. Die Grünen haben das Vorschlagsrecht für den Stiftungsratsvorsitzenden, wenn dieser neu zur Wahl steht.“ 

Die hier angesprochene "Vereinbarung der Vorsitzenden der Freundeskreise der Koalitionspartner" (Zach und Lockl) wurde bislang nicht öffentlich bekannt. 

Ergänzend zum Sideletter wurde im Sommer 2020 eine weitere zunächst nicht veröffentlichte Vereinbarung zischen ÖVP und Grünen*) mit folgendem Inhalt abgeschlossen:

„Vereinbarung:

ÖVP und Grüne kommen überein, dass die bestqualifizierten Persönlichkeiten entsprechend der Kriterien des ORF-Gesetzes beim künftigen ORF-Direktorium zum Zug kommen sollen.

Es wird ein Verhältnis von 3:2 für die ÖVP sowie der Generaldirektor für die ÖVP festgelegt. Beide Seiten verpflichten sich auch möglichst je eine weibliche Person zu nominieren.

Dazu beginnen die Freundeskreise bzw. von beiden Seiten nominierten Stiftungsräte eine Personalsuche. Die dabei gefundenen Personen werden eingeladen sich zu bewerben.“ 


Wie sind diese Sideletter rundfunkrechtlich zu beurteilen? 

Zum ÖVP/FPÖ-Sideletter

Zunächst fällt auf, dass im veröffentlichten ÖVP/FPÖ-Regierungsprogramm in recht allgemeinen Worten von der Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Auftrags und von der "Erarbeitung von Leitlinien für ein ORF-Gesetz NEU" die Rede war, dass aber die inhaltlich tatsächlich weitreichende Überlegung, anstelle der derzeitigen Beitragsfinanzierung über das Programmentgelt (fälschlich oft als "GIS-Gebühren" bezeichnet) eine Finanzierung über das Bundesbudget vorzusehen, nur im Sideletter vereinbart wurde und bislang nicht bekannt war. Aber egal wie man dieses Vorhaben inhaltlich beurteilt, es gibt keinen Zweifel darüber, dass es den Regierungsparteien zusteht, Gesetzesvorschläge für eine derartige Reform vorzubereiten und zu beschließen, und dies auch in einer Koalitionsvereinbarung festzuhalten (wie man eine derartige Regelung konkret ausgestaltet, damit sie mit dem BVG-Rundfunk vereinbar ist, ist eine andere Frage). 

Anders ist es mit dem Inkludieren der Vereinbarung der Stiftungsratsmitglieder Steger und Zach in den Sideletter der Koalitionsparteien. Auf den ersten Blick ist offen, welche rechtliche Wirkung der im Koalitions-Sideletter enthaltene Verweis auf diese Vereinbarung haben soll: geht es dabei nur um eine "Information", oder soll die verwiesene Vereinbarung auch inhaltlich zur Vereinbarung der Koalitionsparteien gemacht werden? 

Meines Erachtens spricht viel für die zweite Auslegungsmöglichkeit: der Verweis findet sich unter der Überschrift "ORF", wo  systematisch Vereinbarungen zum ORF zu erwarten sind und auch tatsächlich getroffen werden. Die Formulierung lautet auch nicht etwa "die Koalitionspartner nehmen die Vereinbarung zur Kenntnis", sondern es wird auf diese verwiesen und angemerkt, dass diese im Anhang zum Sideletter enthalten ist, was ebenfalls dafür spricht, dass sie ein Teil der Gesamtvereinbarung ist, die zwar von Steger und Zach (gewissermaßen als einer Art Untergruppe der Koalitionsverhandler) ausgemacht wurde, aber die Koalitionspartner binden soll. Schließlich spricht dafür noch, dass in der Steger/Zach-Vereinbarung auch auf Vorhaben Bezug genommen wird, die jedenfalls nicht der Stiftungsrat umsetzen kann, sondern für die es einen Gesetzesbeschluss braucht ("Bestellungen nach neuer Rechtslage"), bzw. die von der Regierung, nicht aber vom Stiftungsrat oder dessen Mitgliedern erfüllt werden können (Bestellung der Stiftungsratsmitglieder durch die Bundesregierung). 

Legt man dieses Verständnis zugrunde, vereinbaren die Koalitionsparteien aber damit direkt, wer bestimmte Funktionen im ORF erhalten soll. Der ORF hat jedoch - schon aufgrund des Bundesverfassungsgesetzes über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks und gemäß § 1 Abs. 3 ORF-Gesetz - unabhängig zu sein, womit vor allem auch Unabhängigkeit von Staats- und Parteieinfluss gemeint ist (vgl. dazu auch § 4 Abs. 6 ORF-G). Soweit also in diesem Sideletter (durch Verweisung auf die Vereinbarung Steger/Zach) die Koalitionsparteien vereinbaren, wie die Personalauswahl innerhalb des ORF zu erfolgen hat, ist dies evident rechtswidrig (dei Auswahl der von der Bundesregierung zu entsendenden Stiftungsratsmitglieder hingegen kann von den Koalitionspartnern vereinbart werden) . 

Und was gilt für die Vereinbarung zwischen Steger und Zach? Beide waren (und sind) Mitglieder des Stiftungsrates, eines im Wesentlichen einem Aufsichtsrat vergleichbaren Organs des ORF, für den das ORF-Gesetz klare Kompetenzen festlegt. An Personalangelegenheiten obliegt dem Stiftungsrat (als Kollegialorgan) nach § 21 Abs. 1 Z 2, 3 und 5 ORF-Gesetz "die Bestellung und Abberufung des Generaldirektors", "die Festlegung der Zahl der Direktoren sowie der Geschäftsverteilung", sowie "die Bestellung und Abberufung der Direktoren und Landesdirektoren auf Vorschlag des Generaldirektors". Für Stellenbesetzungen im journalistischen und programmgestaltenden Bereich besteht keine Kompetenz des Stiftungsrates. Bei allen Stellenbesetzungen (einschließlich Generaldirektor*in und Direktor*innen) ist zudem nach § 27 Abs. 2 ORF-Gesetz "in erster Linie die fachliche Eignung zu berücksichtigen." 

Das Gesetz verlangt von Stiftungsratsmitgliedern zudem dieselbe Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit, wie sie für Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft gelten (§ 20 Abs. 2 ORF-G), und es verlangt auch die Verschwiegenheit über alle ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit bekannt werdenden Umstände des ORF (§ 19 Abs. 4 ORF-G). Außerdem gilt für die Mitglieder des Stiftungsrates, dass sie "bei der Ausübung ihrer Funktion im Österreichischen Rundfunk an keine Weisungen und Aufträge gebunden [sind]; sie haben ausschließlich die sich aus den Gesetzen und der Geschäftsordnung ergebenden Pflichten zu erfüllen" (§ 19 Abs. 2 ORF-G).

In dem so abgesteckten gesetzlichen Rahmen ist es zulässig, dass Mitglieder des Stiftungsrates Vereinbarungen über die Ausübung ihres Stimmrechts treffen, nach der Art typischer Syndikatsvereinbarungen. Wenn sich Steger und Zach also ausmachen, dass sie bei bestimmten Abstimmungen gemeinsam stimmen werden, ist dies dann zulässig, wenn dem paktierten Stimmverhalten kein gesetzliches Hindernis entgegensteht. Ein solches Hindernis wäre es etwa, wenn nicht die Eignung maßgebend sein sollte, sondern zB eine gewisse Parteinähe oder ein anderes unsachliches Kriterium. Soweit in der Vereinbarung zwischen Steger und Zach Personen genannt wurden, die auf bestimmte Positionen im ORF unterhalb der Direktor*innen-Ebene bestellt werden sollten, ist dies nicht nur eine Überschreitung der dem Stiftungsrat (als Kollegialorgan, und mehr noch einzelnen Stiftungsratsmitgliedern) zukommenden Kompetenz, sondern wäre auch insofern gesetzwidrig, als damit vor der zwingend vorzunehmenden Ausschreibung dieser Personen bereits eine Festlegung auf diese Personen - unabhängig vom Ergebnis der Ausschreibung - erfolgen sollte. 

Dass die Umsetzung dieser Vereinbarung im Ergebnis nicht zur Gänze erfolgt ist und überdies nur soweit möglich ist, als der Generaldirektor "mitspielt", macht es nicht besser, sondern führt nur dazu, dass sich auch der Generaldirektor zumindest am Rande des gesetzlich Zulässigen bewegt: denn nur, wenn sich die bereits im "Sideletter zum Sideletter" (Steger/Zach-Vereinbarung) namentlich Genannten auch zufällig als tatsächlich die bestgeeigneten Personen herausstellen, dürfte er dem Wunsch der Stiftungsratsmitglieder nachkommen (dass man aber die "Besteignung" bei Spitzenfunktionen nicht immer eindeutig beurteilen kann, habe ich bereits im vorigen Blogbeitrag im Hinblick auf den VfGH näher ausgeführt). 

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Vereinbarung nur Steger und Zach binden kann. Für die weiteren den "Freundeskreisen" der Koalitionsparteien zuzurechnenden Stiftungsratsmitglieder kann diese Vereinbarung keine Wirkung entfalten, da diese ja selbst an "keine Weisungen und Aufträge" gebunden sind, insbesondere also auch nicht an Vereinbarungen, die die Vorsitzenden der jeweiligen "Freundeskreise" treffen. 

Bemerkenswert ist an der Vereinbarung von Steger und Zach auch, dass sie sich auch auf Entscheidungen des Publikumsrates bezieht, dem diese Personen nicht angehören. Auch dort soll eine politische Aufteilung der vom Publikumsrat zu entsendenden Stiftungsratsmitglieder (3:3) erfolgen. Da davon auszugehen ist, dass Steger und Zach nicht etwas vereinbaren würden, von dem sie wissen, dass sie darauf keinen Einfluss nehmen können, liegt es nahe, dass sie davon ausgingen, faktisch auf eine ausreichende Anzahl von Publikumsratsmitgliedern einwirken zu können, damit diese im Sinne der Vereinbarung abstimmen. Die Mitglieder des Publikumsrates sind übrigens genauso weisungsfrei und unabhängig wie jene des Stiftungsrates.

Fazit: die Vereinbarung zwischen ÖVP und FPÖ, soweit sie die Vereinbarung zwischen Steger und Zach integriert, und die Vereinbarung zwischen Steger und Zach selbst gehen über das gesetzlich Zulässige deutlich hinaus. Diese Vereinbarungen zeigen zudem eine Vermischung zwischen Regierungspolitik und Ausübung einer Organfunktion im ORF, die der verfassungsgesetzlich postulierten Unabhängigkeit des Rundfunks widerspricht. 

Zum ÖVP/Grüne-Sideletter

Die Festlegung im Sideletter über die Aufteilung der Nominierungsrechte der von der Bundesregierung (nach § 20 Abs. 1 Z 3 ORF-G) zu entsendenden Stiftungsratsmitglieder ist eine in einer Koalitionsvereinbarung zulässige Abrede, da es um Bestellungen geht, die von der Bundesregierung (im Übrigen ohne vorherige  Ausschreibung und ohne nähere Qualifikationskriterien) vorzunehmen sind. Die allgemeine salvatorische Klausel, dass "alle Besetzungen auf Basis von Kompetenz und Qualifikation erfolgen", bezieht sich wohl auch auf die Nominierung der von der Bundesregierung zu entsendenden Stiftungsratsmitglieder, aber da es dafür ohnehin keine besonderen Kompetenz- oder Qualifikationserfordernisse gibt, läuft sie hier wohl eher ins Leere. 

Auch der ÖVP/Grüne-Sideletter verweist für die "Zusammenarbeit im ORF Stiftungsrat" auf die "Vereinbarung der Vorsitzenden der Freundeskreise der Koalitionspartner". Dazu ist festzuhalten, dass es eine Zusammenarbeit (der Koalitionspartner!) im ORF-Stiftungsrat nicht geben kann, da dort nicht  Parteien tätig sind, und selbst die von den Parteien nach § 20 Abs. 1 Z 1 ORF-G vorgeschlagenen Stiftungsratsmitglieder nicht von den vorschlagenden Parteien zu einer "Zusammenarbeit" verhalten werden dürfen. Der letzte Satz des Sideletters ("Die Grünen haben das Vorschlagsrecht für den Stiftungsratsvorsitzenden ..."), greift dann unmittelbar in die Unabhängigkeit des ORF ein, weil er für eine durch den Stiftungsrat zu treffende Entscheidung den Vorschlag einer Partei vorsieht. Zwar wäre dasselbe (personelle) Ergebnis auch zu erreichen, wenn sich eine ausreichende Anzahl von Stiftungsratsmitgliedern darauf verständigt, für eine bestimmte Person als Vorsitzende*n des Stiftungsrates abzustimmen (wiederum in der Art eines Syndikatsvertrages), aber dies müsste die autonome Entscheidung der einzelnen Stiftungsratsmitglieder sein, nicht eine von Koalitionsparteien getroffene Festlegung, die von den Stiftungsratsmitgliedern letztlich bloß "exekutiert" werden soll. 

Dieses bekannte, aber doch irritierende politische Verständnis, wie mit der Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks  umgegangen wird, zeigt sich auch in der Zusatzvereinbarung zwischen ÖVP und Grünen aus 2020. Dort kommen ÖVP und Grüne "überein, dass die bestqualifizierten Persönlichkeiten entsprechend der Kriterien des ORF-Gesetzes beim künftigen ORF-Direktorium zum Zug kommen sollen." Das heißt nichts anderes, als dass sich sich zwei Parteien dazu verpflichten, dass Dritte, auf die sie von Verfassung wegen keinen Einfluss ausüben dürfen, das Gesetz einhalten. 

Im unmittelbar darauffolgenden Satz steht dann das exakte Gegenteil: dort wird nämlich - durch Vereinbarung politischer Parteien - ein nach politischer Ausrichtung bestimmtes "Verhältnis" für das "Direktorium" und "der Generaldirektor für die ÖVP" festgelegt. Auch wenn das nicht bedeutet, dass die aufgrund dieser Vereinbarung schließlich bestellten Personen diese politische Ausrichtung teilen müssen, so wird damit doch unmittelbar auf politischer Ebene (durch die Vorsitzenden der Regierungsparteien) eine politische Aufteilung der Generaldirektor*in- und Direktor*innen-Funktionen vereinbart, was in deutlichem Widerspruch zum Geist des Bundesverfassungsgesetzes über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks steht. Auch dass die "Freundeskreise" mit der Personalsuche beginnen sollen, ist nicht nur deshalb gesetzwidrig, weil es nicht Aufgabe einzelner Stiftungsratsmitglieder oder Gruppen von Stiftungsratsmitgliedern ist, "Personalsuche" zu betreiben, sondern auch weil die politischen Parteien keinerlei Befugnis haben, zu vereinbaren, was Stiftungsratsmitglieder zu tun oder zu unterlassen haben.

Interessant wären nähere Informationen über die "Transmission" dieser politischen Vereinbarung zum tatsächlichen Stimmverhalten der Stiftungsratsmitglieder bei der Bestellung der hier paktierten Funktionen. Jedes Stiftungsratsmitglied, das sich bei der Abstimmung an Vorgaben eines "Freundeskreis-Vorsitzenden" hielt, und jeder "Freundeskreis-Vorsitzende", der seinem Stimmverhalten die "3:2 für die ÖVP sowie der Generaldirektor für die ÖVP"-Vereinbarung zugrunde legte, sollte jedenfalls nochmal genau darüber nachdenken, was in Art. I Abs. 2 BVG-Rundfunk und in § 1 Abs. 3 und § 19 Abs. 2 ORF-Gesetz steht. 

Fazit: auch der Sideletter zwischen ÖVP und Grünen und die Zusatzvereinbarung aus dem Jahr 2020 gehen über das gesetzlich Zulässige deutlich hinaus. Diese Vereinbarungen versuchen Einfluss auf die  Entscheidungen von gesetzlich zur Weisungsfreiheit und Unabhängigkeit verpflichteten  Stiftungsratsmitgliedern des ORF zu nehmen, was der verfassungsgesetzlich postulierten Unabhängigkeit des Rundfunks widerspricht. 

Offene Fragen

Der Inhalt der bisher veröffentlichten Sideletter (bzw. die veröffentlichten Ausschnitte) wurde von den daran beteiligten Personen bisher nicht bestritten, sondern im Gegenteil - soweit sie sich dazu geäußert haben - bestätigt. Offen ist aber immer noch, ob es weitere den öffentlich-rechtlichen Rundfunk  betreffende Vereinbarungen gibt. 

Eine von außen nicht zu beantwortende Frage ist auch, ob es für die den ORF betreffenden Vereinbarungen einen Abtausch bzw. eine Junktimierung gab, oder ob nur innerhalb des Themenkomplexes ORF abgetauscht wurde. Grundsätzlich kann man zwar bei einer Koalitionsvereinbarung keine einzelnen Punkte "heraustrennen" (siehe dazu schon im vorigen Blogpost). Aber auch wenn das "Verstecken" der Vereinbarung in einem nicht veröffentlichten Sideletter darauf hindeuten könnte, dass die darin zusammengefassten Punkte eine Zusammenhang haben, halte ich es für absurd, dass es etwa - wie dies medial diskutiert wurde - einen Abtausch zwischen "Kopftuchverbot für Lehrerinnen" und Vorschlagsrecht für den Stiftungsratsvorsitzenden gegeben hätte. Zudem ist die Bedeutung des/der ORF-Stiftungsratsvorsitzenden doch eher zeremonial - ohne stabile Mehrheit im Stiftungsrat ist er/sie für eine erfolgreiche Tätigkeit ganz wesentlich darauf angewiesen, eine Mehrheit für die eigenen Positionen vereinen zu können. 

Was kann man tun? Die schwierigste Frage zuletzt, und ich will hier (aus verschiedenen Gründen) auch keine Antwort versuchen, der Beitrag ist ohnehin schon viel zu lang. Nur kurz: ich gehe nicht davon aus, dass ein Stiftungsratsmitglied vortreten und bekennen wird, nach Vorgabe des Koalitions-Sideletters oder des Vorsitzenden des "Freundeskreises" - und damit gesetzwidrig - abgestimmt zu haben. Wahrscheinlich sind alle unabhängig voneinander zur Überzeugung gekommen, dass gerade diejenigen Bewerber*innen, die schließlich zum Zug gekommen sind, die unter allen Bewerber*innen bestgeeigneten Personen waren. Und es ist gut möglich, dass dies auch tatsächlich der Fall ist. 

Aber es geht bei der verfassungsgesetzlich gebotenen Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht allein darum, unter denjenigen Personen, die sich schließlich für eine Funktion beworben haben, die bestgeeigneten auszuwählen. Es geht zum Beispiel auch darum, bei allen potentiell für eine Funktion in Frage kommenden Personen die Überzeugung zu stärken, dass die Entscheidung schließlich vom Stiftungsrat in voller Unabhängigkeit getroffen und nicht vorweg in Parteienverhandlungen ausgedealt wird. Wenn klar ist, dass "3:2 für die ÖVP" entschieden werden soll, wird das nicht alle potentiell geeigneten Bewerber*innen zur Bewerbung motivieren.  

Und zuletzt: wenn man weiß, wie bisher zB Entscheidungen über die Generaldirektorin/den Generaldirektor des ORF getroffen wurden (siehe zB hier [Punkt 2.] oder hier), könnte man schon Verständnis entwickeln dafür, wenn sich ein kleinerer Koalitionspartner absichern möchte, um den Einfluss des größeren Koalitionspartners im ORF in einem angemessenen Rahmen zu halten. Aber dies dürfte nicht über politische Deals erfolgen, die in die verfassungsrechtlich gebotene Unabhängigkeit des Rundfunks eingreifen, sondern durch Vereinbarungen auf jenem Gebiet, auf dem die Koalitionsparteien tätig werden können und dürfen: dem der Gesetzgebung. Wenn man meint, dass der Einfluss einer politischen Gruppierung im ORF zu groß ist, weshalb nicht eine Koalitionsvereinbarung darüber aushandeln, wie auf legistischem Weg zB eine ausgewogenere Bestellung des Stiftungsrates festgelegt werden könnte? 

Dass dies schwierig ist, ist schon klar: so hat die neue Medienministerin, die laut profil den Sideletter nicht kannte (aber ganz zufälligerweise kurz nach Unterzeichnung das darin paktierte Kopftuchverbot für Lehrerinnen gefordert hat), schon angekündigt, dass eine Gremienreform bei der nächsten ORF-Gesetz-Novelle kein Thema sein wird. 

PS: der Vorsitzende des grünen "Freundeskreises" fürchtet laut einem Bericht im Standard "angesichts der aktuellen Debatte, dass sich künftig schwer Personen finden werden, die sich 'de facto ehrenamtlich' als Stiftungsrat betätigen." Dazu hätte ich zwei Anmerkungen: 1. es ist nicht "de facto ehrenamtlich", sondern "de jure", und 2. ich halte die Ehrenamtlichkeit tatsächlich für ein Problem, wie ich in diesem Blogbeitrag schon näher ausgeführt habe. 

-----

*) Die Sideletter wurden jeweils von den Parteiobleuten der Koalitionsparteien unterzeichnet. Man könnte in rechtlicher Hinsicht natürlich prüfen, inwieweit allein durch die Unterschrift der Vorsitzenden /Obleute eine  rechtlich bindende zivilrechtliche Vereinbarung zustande kommen könnte (insbesondere wenn die Parteisatzungen für bestimmte Vereinbarungen eine Mitbefassung anderer Organe vorsehen),  oder auch, inwieweit derartige Abkommen überhaupt, allenfalls nur teilweise, als bindender Vertrag im zivilrechtlichen Sinne anzusehen wären, aber letztlich interessiert im hier gegebenen Zusammenhang nur die durch die Unterschrift der Vositzenden/Obleute dokumentierte politische Bindungswirkung. 

Nominierungsrechte in Koalitions-Sidelettern - am Beispiel VfGH

Vor gut einer Woche wurden Nebenvereinbarungen zwischen den  früheren Koalitionsparteien ÖVP und FPÖ und den aktuellen Koalitionsparteien ÖVP und Grüne bekannt (zB hier auf profil.at), in denen es auch (oder insbesondere) um die Besetzung wichtiger öffentlicher Funktionen - angefangen von Mitgliedern des  Verfassungsgerichtshofs über das Direktorium der Nationalbank bis hin zu Aufsichtsratsmitgliedern bei Unternehmen mit staatlicher Beteiligung - ging. Dabei wurde überwiegend festgelegt, welchem der Koalitionspartner ein Nominierungsrecht zukommt, ein einzelnen Fällen wurden auch schon Namen festgeschrieben. 

Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk war Gegenstand solcher Nebenvereinbarungen, und zwar nicht nur in personeller Hinsicht, sondern - im ÖVP-FPÖ-Sideletter - auch im Hinblick auf eine grundlegende Änderung der Finanzierungsform (Budget- statt Beitragsfinanzierung). Die Sideletter werfen insofern Fragen im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlich verankerten Unabhängigkeit des Rundfunks auf. Darauf gehe ich im nächsten Blogbeitrag ein; hier aber vorweg einmal ein paar Überlegungen zur Personalauswahl in Koalitionszeiten, insbesondere im Hinblick auf den Verfassungsgerichtshof. 

Zur Personalauswahl in Koalitionszeiten

Wenn Koalitionsparteien vereinbaren, eine Legislaturperiode lang gemeinsam zu regieren, dann ist es sinnvoll, schon absehbare Konfliktpunkte im Koalitionsvertrag vorweg zu regeln. Dazu zählen nicht nur inhaltliche Streitpunkte, sondern vor allem auch Verfahrensfragen, und darunter die Frage, wie man in der Bundesregierung – die nur einstimmig Beschlüsse fassen kann – zu einer Entscheidung kommt, wenn eine Ernennung in eine wichtige öffentliche Funktion durch die Bundesregierung (oder auf Vorschlag der Bundesregierung durch den Bundespräsidenten) zu erfolgen hat. 

Dass man für solche Fälle vereinbart, welche der Koalitionsparteien das „Nominierungsrecht“ hat, kann zu einer möglichst reibungsfreien Entscheidungsfindung beitragen. Bestünde dazu nämlich keine vorweg vereinbarte Aufteilung, müsste in jedem Anlassfall während der Regierungsperiode ad hoc darüber das Einvernehmen erzielt werden, was die Gefahr unsachlicher Gegengeschäfte ("Junktimierungen") eher verschärfen als verringern würde (ob die in den Sidelettern festgeschriebenen Nominierungsrechte Gegenstand von Junktimierungen waren, werden wir wohl nie wissen, denn letztlich gilt bei Koalitionsvereinbarungen, dass Einigkeit über einen Punkt nur besteht, wenn über alle Punkte Einigkeit besteht und damit kein Punkt im Koalitionsabkommen - und seinen Sidelettern - völlig unabhängig von allen anderen Punkten ist). 

Die Aufteilung von "Nominierungsrechten" heißt per se auch nicht, dass damit ein vorgeschriebenes Ausschreibungsverfahren umgangen oder präjudiziert würde oder dass ungeeignete Personen in die Funktion kommen. Es kann (und sollte) bloß bedeuten, dass die Ausschreibung erfolgt, danach das Auswahlverfahren durchgeführt wird und schließlich – nach „Nominierung“ durch Partei A oder B – von der Bundesregierung die Person, die sich in diesem Verfahren als bestgeeignete erwiesen hat, ernannt bzw. vorgeschlagen wird. 

Das wirft die Frage auf: wenn ohnehin die bestgeeignete Person ernannt werden soll, wozu muss dann ein „Nominierungsrecht“ festgelegt werden? 

Diese Frage lässt sich meines Erachtens leicht beantworten, wenn man das Offensichtliche einräumt: bei den wirklichen "Spitzenjobs", um die es in den nun bekanntgewordenen Sideletters geht, lässt sich zwar einigermaßen objektiv beurteilen, wer dafür jedenfalls nicht geeignet ist. Wer aber unter mehreren grundsätzlich gut geeigneten Personen die am besten geeignete ist, lässt sich kaum in unstrittiger Weise „objektivieren“. 

Beispiel Verfassungsgerichtshof

Nehmen wir als Beispiel den Verfassungsgerichtshof: für eine Ernennung zum Mitglied dieses Höchstgerichts gibt es in der Bundesverfassung nur wenige Formalvoraussetzungen, die von sehr vielen Personen (mehreren tausend!) erfüllt werden (Art 147 Abs 2 und 3 B-VG: abgeschlossenes Jus-Studium, mindesten zehnjährige juristische Berufserfahrung; die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Mitglieder müssen "aus dem Kreis der Richter, Verwaltungsbeamten und Professoren eines rechtswissenschaftlichen Faches an einer Universität" stammen). 

Darüber hinaus gibt es in Fachkreisen (hier grob vereinfacht: Personen, die eine Vorstellung davon haben, was der VfGH tut und wie er arbeitet) ein zwar diffuses, aber doch ziemlich unstrittiges Bild davon, was man von einem zu bestellenden VfGH-Mitglied erwartet. Ich würde das ganz vereinfacht einmal so umschreiben: VfGH-Mitglieder sollten erfahrene Persönlichkeiten sein, die einen ausgezeichneten fachlichen und persönlichen Ruf haben und die in ihrem Berufsfeld (ob Wissenschaft, Verwaltung, Gerichtsbarkeit oder Anwaltschaft) bisher nachweisbar hervorragende Arbeit geleistet haben, also gewissermaßen im Spitzenfeld ihrer jeweiligen Disziplin mitmischen. 

Legt man diesen groben Maßstab an, verengt sich die Auswahl schnell auf eine recht überschaubare Zahl von Personen – wohl weniger als hundert, wahrscheinlich eher zwei bis drei Dutzend Personen. Ich bin davon überzeugt, dass man sich in juristischen Fachkreisen unabhängig von jeder politischen Orientierung recht zuverlässig darauf einigen könnte, wer jedenfalls zu diesem harten Kern grundsätzlich fachlich und persönlich in Frage kommender Personen gehört. Wahrscheinlich wird man sich nicht auf jede einzelne Person einigen können, aber jedenfalls auf eine ausreichend große Schnittmenge, mit der der VfGH doppelt oder dreifach besetzt werden könnte. 

Wie also aus diesem Kreis von grundsätzlich ausgezeichnet geeigneten Personen jene auswählen, die dem Bundespräsidenten zur Ernennung vorgeschlagen werden soll? 

Dabei können viele Faktoren eine Rolle spielen, zum Beispiel auch, wer im Gremium der VfGH-Mitglieder gerade zu ersetzen ist: als etwa der Steuerrechtler Hans Georg Ruppe Ende 2012 aus dem VfGH ausschied, folgte ihm Markus Achatz nach, wiederum ein Professor für Steuerrecht – eine spezifische fachliche Expertise, die am VfGH gefragt ist. Ich weiß nicht, ob sich damals zB auch eine Umwelt- oder Strafrechtsexpertin beworben hat - aber wenn, hätte sie schon wegen ihrer Spezialisierung bei dieser konkreten Position einen Startnachteil gehabt, auch wenn ihre Qualifikation abstrakt ebenbürtig gewesen wäre. 

Da die Bundesverfassung das Vorschlagsrecht für Mitglieder des VfGH auf Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat verteilt, ist es auch nachvollziehbar, dass politische Überlegungen eine Rolle spielen. Das müssen (und sollten) nicht parteipolitische Überlegungen sein, aber vielleicht würde zB eine Partei, die stark auf das Thema „Law and Order“ setzt, jemanden nominieren, der sich zu einem „Law and Order“-Thema habilitiert hat, oder eine ökologisch orientierte Partei jemanden, die sich im Bereich des Umweltrechts einen Namen gemacht hat. Das ist keine überraschende und rundheraus abzulehnende „Politisierung“ des VfGH, sondern logische Konsequenz des verfassungsrechtlich vorgebebenen Konzepts, dass eben Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat die Vorschläge erstatten müssen, womit auch eine (mittelbare) demokratische Legitimation gewährleistet sein soll.

Dass in einer demokratischen Republik die gewählte Volksvertretung und die von deren Vertrauen getragene Bundesregierung eine wesentliche Rolle bei der Ernennung von Mitgliedern des Verfassungsgerichtes spielt, ist nicht wirklich überraschend oder gar skandalös. Natürlich wären andere Modelle denkbar, wobei meines Erachtens weniger an eine radikale Abkehr vom bestehenden Modell zu denken wäre als an eine gewisse Qualitäts- und Konsenssicherung und allenfalls eine Verbesserung und verstärkte Transparenz des Auswahlverfahrens. Nur als mögliche Beispiele: offene Bewerbungen, Anhörungen, eine Art Qualitätssicherungs-Panel (wie etwa den Ausschuss nach Art. 255 AEUV für den EuGH, Ansätze gibt es in Österreich auch für die Präsident*innen und Vizepräsident*innen von Bundesfinanzgericht und Bundesverwaltungsgericht, siehe § 5 Abs 5 BFGG und § 3 Abs 3 BVwGG). Denkbar wären zB auch erhöhte Quoren für Vorschläge durch den Nationalrat oder eine andere Verteilung der Vorschlagsrechte mit einer geringeren Dominanz der Bundesregierung.

Verfassungspolitisch könnte man also an verschiedenen Schrauben drehen, aber von der Illusion, dass es für jede ausgeschriebene Stelle eines VfGH-Mitglieds genau nur die eine bestgeeignete Person gäbe, auf die man sich bei einem objektiven Auswahlverfahren jedenfalls verständigen könnte, sollte man sich verabschieden. 

Das heißt: „Nominierungsrechte“ für Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs in einem Sideletter zu einer Koalitionsvereinbarung schrecken mich nicht per se, solange man darauf vertrauen kann, dass nicht bereits vor der Ausschreibung feststeht, wer die Funktion erhält und dass bei der Nominierung nur ausgezeichnet für die Funktion geeignete Personen berücksichtigt werden. Kritisch wird es also, wenn in einer Vereinbarung zwischen Koalitionsparteien schon Namen festgeschrieben werden. Und unverständlich ist es für mich, wenn man sich in einem solchen Sideletter zwischen Koalitionsparteien darauf einigt, dass jemand VfGH-Mitglied werden soll, bei dem die Qualifikation dafür jedenfalls nicht augenfällig ist. Dass diese Person schließlich nicht bestellt wurde, ist immerhin ein Zeichen für ein Funktionieren gewisser Kontrollmechanismen. Aber trotzdem fragt man sich, wie die Einigung auf diese Person zustande kam: welche Informationen lagen den entscheidenden Personen (den Parteiobleuten) vor, wie haben sie sich über das potentielle Bewerber*innenfeld informiert, welche Qualifikation hatten sie selbst, um das Vorliegen der Qualifikation des im Sideletter schon „Nominierten“ zu beurteilen?  

Natürlich hat die - traditionelle, jetzt eben auch mal nachlesbare - Aufteilung der Nominierungsrechte für VfGH-Mitglieder auch "Nebenwirkungen". Die wichtigste ist, dass Personen, die sich für diese Funktion interessieren, zumindest den Eindruck bekommen können, sie wären gut beraten, die Nähe jener zu suchen, die sie potentiell nominieren würden. Weil der Grundsatz "wen man nicht kennt, kann man nicht nominieren" gilt, scheint es sinnvoll, sich bekannt zu machen und sich als Bewerber*in im jeweiligen Umfeld strategisch zu positionieren. Das kann zB beratend sein, mit Gutachten, durch anwaltliche Vertretung im jeweiligen politischen Nahebereich oder ganz allgemein mit dem Bemühen, eher als kooperative*r Ansprechpartner*in aufzufallen und weniger durch konfrontative Kritik. Wer diese "Positionierungsarbeit" nicht leisten will oder nicht leisten kann, könnte eher außen vor bleiben. Auch hier gilt: das ist eine Folge der durch die Bundesverfassung im weiteren Sinne politisch angelegten Bestellung von VfGH-Mitgliedern (und man muss das auch nicht als Fehler beurteilen, sondern kann darin zB auch die Chance sehen, dass letztlich nur im politischen Umgang erfahrene, bewährte und verlässliche Personen in dieses Höchstgericht - das in vielen Fällen sehr politische Wertungsentscheidungen treffen muss - entsandt werden und dass dort im wesentlichen jenes Meinungsspektrum abgebildet wird, das im demokratischen Prozess die Oberhand gewonnen hat).

Dass zumindest der Eindruck entsteht, dass es Bewerber*innen nicht schaden kann, mit den jeweils wesentlichen Personen in der vorschlagsberechtigten Partei in gutem Einvernehmen zu stehen, mag auch ein wenig die Professor*innen- und Beamt*innen-Dominanz im VfGH erklären, denn diese Gruppen tun sich meist deutlich leichter, sich bei vorschlagsberechtigen Parteien „in Erinnerung zu rufen“ als zB Richter*innen. Im Übrigen ist bei Professor*innen auch die Sichtbarkeit ihrer Qualifikationen meist besser, denn sie müssen publizieren und sich so der Fachwelt stellen, viele treten auch mit Gutachten hervor, aus denen man gegebenenfalls bestimmte Orientierungen ableiten kann.  Die Qualifikationen von Personen aus der Gerichtsbarkeit (die aber in letzter Zeit ohnehin kaum gefragt sind, siehe im Blog dazu hier) oder aus der Anwaltschaft, die berufsbedingt weniger wissenschaftlich publizieren und oft auch nicht in gleichem Maße in der Öffentlichkeit stehen (können), sind in der Regel deutlich weniger sichtbar.  

Eine mich (als Unbeteiligten) eher belustigende Nebenwirkung des Systems parteipolitisch verteilter Nominierungsrechte ist es auch, dass sich gewisse "infights" zwischen Personen, die sich für die Funktion eines VfGH-Mitglieds bewerben möchten, auf eine ganz andere Ebene als die Ausschreibung verlagern. Wenn klar ist, dass das Nominierungsrecht für ein VfGH-Mitglied der Partei A zukommt, muss man das Rennen in dieser Partei für sich entscheiden, und da kann es um die Frage gehen, ob zB Bundesland A oder Bundesland B in dieser Partei gerade stärker ist, ob in dieser Partei gerade Föderalismus oder Zentralismus en vogue ist, oder wessen ehemalige Assistent*innen (oder Freunde oder Feinde aus Uni-Zeiten) in welchem politischen Büro mehr Einfluss auf ihre Chef*innen haben. Die der Partei A zuzurechnenden Kandidat*innen kämpfen da viel mehr gegeneinander als mit Kandidat*innen, die der Partei B zuzurechnen sind (falls sich diese überhaupt bewerben - weil man sich ja typischerweise für die Funktion eines VfGH-Mitglieds nur bewirbt, wenn man ein Signal bekommt, dass es aussichtsreich sein könnte). 

Zusammenfassung (tl;dr) 

Die Aufteilung von "Nominierungsrechten" für die Erstattung von Vorschlägen für die Bestellung von VfGH-Mitgliedern ist eine logische Folge davon, dass die Bundesverfassung dafür Vorschlagsrechte für Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat - und damit eine politisch dominierte Entscheidung - vorsieht. Damit das in einer Koalitionsregierung funktioniert, ist es auch zweckmäßig, ein Procedere festzulegen, wie die (notwendig einstimmige) Entscheidung der Bundesregierung oder die (um den Koalitionsfrieden zu wahren ebenfalls notwendig gemeinsame) Entscheidung von National- oder Bundesrat zustande kommt, und sei es dadurch, dass für bestimmte Funktionen entweder der Koalitionspartei A oder der Koalitionspartei B das Recht zukommt, die dem Bundespräsidenten vorzuschlagende Person auszuwählen. Wird nur das "Nominierungsrecht" festgelegt, aber noch kein Name fixiert, bedeutet dies auch nicht zwingend, dass das Ausschreibungsverfahren umgangen würde oder eine unsachliche Auswahl erfolgt, zumal es für die Besetzung einer derartigen Spitzenfunktion in der Regel nicht nur genau eine einzige bestgeeignete Person gibt, sondern eine - durchaus im weiteren Sinne politische - Auswahl zu treffen ist.

Diese Überlegungen gelten freilich nur für jene Funktionen, bei denen - wie beim VfGH - der Bundesregierung oder National- und Bundesrat eine Entscheidungsbefugnis zukommt. Dort, wo das Verfassungsrecht einem derartigen Einfluss von Bundesregierung, National- und Bundesrat aber Grenzen setzt, wie das beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufgrund des Bundesverfassungsgesetzes über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks der Fall ist, gelten andere Regeln - auf diese gehe ich im folgenden Blogbeitrag ein.