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Monday, November 14, 2016

"Einfach JA sagen" - zur Schleichwerbung? Zum OGH-Urteil über Gefälligkeitsartikel in einem Gratisblatt

(Bild aus dem OGH-Urteil)
Mit Urteil vom 26.09.2016, 4 Ob 60/16a, hat der OGH entschieden, dass "Gefälligkeitsartikel" in einem Printmedium nicht als Werbung oder Anzeige gekennzeichnet werden müssen. Das Urteil - über das der Standard hier (aufgrund einer APA-Meldung) berichtet - hat auf Twitter einige Kritik ausgelöst (zB hier, hier, hier, hier, hier oder hier). Hier ein Versuch, die Angelegenheit etwas nüchterner zu sehen:

1. Ausgangspunkt: ein UWG-Verfahren, gerichtet auf Unterlassung nicht gekennzeichneter Werbung
Zunächst einmal: es geht um ein Verfahren nach dem UWG, in dem ein Medieninhaber einer Gratiszeitung die Medieninhaberin einer anderen Gratiszeitung geklagt hat. Der Anspruch richtet sich darauf, dass es die Medieninhaberin der Gratiszeitung unterlassen soll, einerseits entgeltliche Beiträge, und andererseits "unentgeltlich gestaltete Anzeigen oder unbezahlte Werbung" zu veröffentlichen, sofern diese Veröffentlichungen nicht als "Anzeige", "entgeltliche Einschaltung" oder als "Werbung" gekennzeichnet sind.

Konkret geht es um Veröffentlichungen in dieser und dieser Ausgabe von "Tips". Der OGH gibt relevante Ausschnitte aus diesen Zeitungen in seinem Urteil im Faksimile wieder; etwa - wie oben links gezeigt - den Beginn eines Artikels über eine Hochzeitsplanerin; am Ende des Artikels wird dann noch die Telefonnummer und die (mittlerweile nicht mehr errreichbare) Website der Hochzeitsplanerin angegeben.
(Bild aus dem OGH-Urteil)
Ein anderes Beispiel ist diese Seite (links), auf deren oberem Teil "redaktionell" über eine "Hausmesse beim Zweiradspezialisten" berichtet wird, und auf deren unterem Teil ein Inserat dieses Zweiradspezialisten zu sehen ist.

Nach den Feststellungen des Erstgerichts wurde für "das Erscheinen der gesamten Seite 42 [links abgebildet], bestehend aus einem klassischen Inserat in der unteren Seitenhälfte und dem von einem Redakteur der Beklagten verfassten Bericht" von dem darin genannten Unternehmer ein Entgelt von 718,20 € bezahlt. Der Unternehmer hatte mit der beklagten Medieninhaberin "das Erscheinen eines Artikels und eines Inserats gegen Bezahlung eines Gesamtentgelts vereinbart." Vergleichbares stellte das Gericht auch zu einer weiteren Seite dieser Ausgabe der "Tips" fest.

Für die anderen vom Kläger inkriminierten Artikel - also zB auch für den Artikel über die Hochzeitsplanerin - wurde festgestellt, dass für deren Veröffentlichung jeweils kein Entgelt bezahlt wurde (bei zwei Artikeln konnte nicht festgestellt werden, ob für deren Veröffentlichung ein Entgelt bezahlt wurde, was prozessual de facto auf dasselbe hinausläuft).

2. Die Rechtslage
Für den Streit zwischen den Medieninhabern ist vor allem das UWG (Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb) relevant. Dieses Gesetz verbietet - in Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken - irreführende Geschäftspraktiken, zu denen nach Z 11 des Anhangs zum UWG u.a. auch folgende Geschäftpraktik zählt:
Redaktionelle Inhalte werden in Medien zu Zwecken der Verkaufsförderung eingesetzt und das Unternehmen hat diese Verkaufsförderung bezahlt, ohne dass dies aus dem Inhalt oder aus für den Verbraucher klar erkennbaren Bildern und Tönen eindeutig hervorgehen würde (als Information getarnte Werbung).
Außerdem darf man - vereinfacht gesagt - als Unternehmer im geschäftlichen Verkehr auch keine sonstige unlautere Handlung anwenden, die den Wettbewerb "nicht nur unerheblich" beeinflussen kann. So wäre beispielsweise eine Verletzung von Rechtsvorschriften, die sich auf den Wettbewerb auswirkt, ein typischer Fall einer derartigen unlauteren Handlung. Daher kann auch eine Verletzung der Pflicht zur "Kennzeichnung entgeltlicher Veröffentlichungen" (§ 26 Mediengesetz) einen UWG-Verstoß darstellen. § 26 Mediengesetz lautet wörtlich:
Ankündigungen, Empfehlungen sowie sonstige Beiträge und Berichte, für deren Veröffentlichung ein Entgelt geleistet wird, müssen in periodischen Medien als "Anzeige", "entgeltliche Einschaltung" oder "Werbung" gekennzeichnet sein, es sei denn, daß Zweifel über die Entgeltlichkeit durch Gestaltung oder Anordnung ausgeschlossen werden können.
3. "Gekaufte" Artikel müssen gekennzeichnet sein
Das OGH-Urteil ändert nichts daran, dass Artikel, die gewissermaßen mit einem Inserat mitgekauft werden, nach § 26 Mediengesetz zu kennzeichnen sind. Das betraf im konkreten Fall aber nur zwei Beiträge (den oben gezeigten "Bericht" über die "Hausmesse" und einen weiteren), denn nur bei diesen wurde festgestellt, dass die Unternehmer für das Erscheinen des Artikels bezahlt hatten (Gesamtentgelt für Inserat und Artikel zusammen). Die Beklagte wurde daher auch verpflichtet, es zu unterlassen, in ihren periodischen Druckwerken "Ankündigungen, Empfehlungen sowie sonstige Beiträge und Berichte, für deren Veröffentlichung ein Entgelt geleistet wird, zu veröffentlichen, sofern diese Veröffentlichungen nicht als 'Anzeige', 'entgeltliche Einschaltung', 'Werbung' oder in sinngleicher Weise gekennzeichnet sind." Dieser Punkt war auch in der letzten Instanz nicht mehr strittig. Es bleibt dabei: Artikel, für die ein Entgelt bezahlt wird, sind jedenfalls zu kennzeichnen!

4. Keine Kennzeichnungspflicht für "Gefälligkeitsartikel"
Das Problem vor dem OGH waren aber jene Beiträge, die zwar werblich wirkten, für die aber kein Entgelt gezahlt worden war. Der OGH verweist dazu auf die gesetzlichen Bestimmungen in § 26 Mediengesetz und Z 11 des Anhangs zum UWG, die jeweils eindeutig auf Veröffentlichungen abstellen, für die ein Entgelt geleistet wird. Ein gesetzliches Kennzeichnungsgebot für unentgeltliche Werbung besteht hingegen nicht.

Der OGH prüft dann abschließend, ob das "als 'Schleichwerbung' beanstandete Verhalten der Beklagten" (also die unentgeltlichen, "werbenden" Artikel) unter dem Gesichtspunkt des § 1 UWG unlauter ist (eine mögliche Irreführung im Sinne des § 2 UWG prüft er übrigens nicht mehr). Er kommt zum Ergebnis, dass es "unter dem Gesichtspunkt des Transparenzgebots (§ 1 UWG)" keiner zusätzlichen Aufklärung des Publikums bedarf, wenn ein redaktioneller Beitrag "aus Gefälligkeit Äußerungen kommerziellen Charakters mit 'werblichem Überschuss' enthält."

5. Naiv, an "Gefälligkeitsartikel" zu glauben?
Das Unbehagen an diesem Ergebnis ist wohl darauf zurückzuführen, dass bei derartigen Beiträgen an reine Gefälligkeit oft schwer zu glauben ist. Immerhin handelt es sich um eine Gratiszeitung, die nur von Werbung lebt, und in der häufig von Unternehmen berichtet wird, die auch Inserate schalten; schließlich wirken selbst Berichte über Unternehmen, die kein als solches gekennzeichnetes Inserat geschaltet haben, besonders freundlich und enthalten zur besseren Information des Publikums oft gleich alle notwendigen Kontaktinformationen und Hinweise auf besondere Angebote. Da läge es vielleicht nahe, an Zusammenhänge, Geldflüsse oder Gegengeschäfte zu denken - aber solange solche nicht festgestellt sind, kann man im Gerichtsverfahren eben nicht von entgeltlicher (nicht gekennzeichneter) Werbung ausgehen.

Dass der OGH hier von Gefälligkeit ausgeht, ist nicht naiv, sondern notwendig: er kann seiner Entscheidung keine Vermutungen zugrunde legen, sondern muss bei den festgestellten Tatsachen bleiben. Der "Hochzeitsplaner"-Beitrag etwa war demnach unentgeltlich veröffentlicht worden. Offenbar war die Berichterstatterin einfach so überzeugt und begeistert von der Hochzeitsplanerin, dass sie diese Begeisterung - ohne Gegegleistung, aus reiner Gefälligkeit - mit der Welt (bzw. zumindest dem Bezirk Oberpullendorf) teilen wollte.

Im Übrigen wäre es auch medienethisch schwer zu argumentieren, dass (allzu) positive (aber nicht gegen Entgelt erfolgte) Berichterstattung - anderswo vielleicht als "constructive news" eingefordert - als "Werbung" zu kennzeichnen wäre. Schließlich könnte dies wiederum irreführend sein, weil Werbung in diesem Zusammenhang (§ 26 Mediengesetz bzw. Z 11 des Anhangs zum UWG) Entgeltlichkeit voraussetzt (Anderes gilt für audiovisuelle Mediendienste, siehe dazu unter Punkt 6. unten).

Es ist tatsächlich auch nicht unüblich, dass werblich wirkende Artikel außerhalb einer konkreten Entgeltbeziehung entstehen - etwa wenn ein positives Umfeld erst aufbereitet werden soll ("Jetzt haben wir zweimal so schön über Euch geschrieben, wollt Ihr nicht einmal ein Inserat schalten?"). Dass viele Medien - insbesondere natürlich Gratismedien, die nur von Werbung leben - ein "inseratenfreundliches Umfeld" schaffen möchten, ist weder neu noch rechtlich verpönt. Ein Objektivitätsgebot für Printmedien besteht nicht, auch Kampagnenjournalismus bzw. eine Berichterstattung, die die Interessen bestehender und möglicher Inserenten im Auge hat, ist zulässig, Selbst der Ehrenkodex des Presserates schließt das übrigens nicht aus: nach diesem dürfen auch wirtschaftliche Interessen des Verlages redaktionelle Inhalte beeinflussen - bloß nicht in einer Weise, "die Fehlinformationen oder Unterdrückung wesentlicher Informationen zur Folge haben könnte."

Von Qualitätsjournalismus erwartet man anderes, aber Qualitätsjournalismus ist keine Rechtspflicht.

6. Schleichwerbung erlaubt?
Nein, der OGH hat Schleichwerbung nicht erlaubt (anders als das Ritchie Pettauer auf seinem Blog zuspitzt; das Missverständnis entstand wohl, weil im APA-Bericht - unzutreffend - von "Gefälligkeitsartikeln, die im Gegenzug für gebuchte Inserate erscheinen", die Rede ist). Der OGH hatte das UWG und § 26 Mediengesetz auszulegen, beide setzen für unzulässige "als Information getarnte Werbung" Entgeltlichkeit voraus, und die war in den beim OGH noch strittigen Fällen eben nicht festgestellt worden. Der Begriff "Schleichwerbung" kommt im OGH-Urteil nur im unter Anführungszeichen gesetzten Zitat des Klägervorbringens vor.

Ausdrückliche rechtliche Regelungen für "Schleichwerbung" gibt es nur für audiovisuelle Mediendienste. Art. 1 Abs. 1 lit. j AVMD-RL (für Österreich siehe § 2 Z 29 AMD-G, § 1a Z 7 ORF-G und für den Hörfunk in § 19 Abs. 4 lit. b PrR-G) definiert Schleichwerbung so:
die Erwähnung oder Darstellung von Waren, Dienstleistungen, dem Namen, der Marke oder den Tätigkeiten eines Herstellers von Waren oder eines Erbringers von Dienstleistungen in Sendungen, wenn sie vom Mediendiensteanbieter absichtlich zu Werbezwecken vorgesehen ist und die Allgemeinheit über ihren eigentlichen Zweck irreführen kann. Eine Erwähnung oder Darstellung gilt insbesondere dann als beabsichtigt, wenn sie gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegenleistung erfolgt;
Schleichwerbung nach der AVMD-RL muss daher nicht in jedem Fall entgeltlich sein. Der EuGH kam in der Rechtssache C-52/10, "ALTER CHANNEL", zum Ergebnis, dass die Existenz eines Entgelts oder einer ähnlichen Gegenleistung zwar ein Kriterium darstellt, anhand dessen sich die Werbeabsicht eines Fernsehveranstalters feststellen lässt, dass diese Absicht aber bei Fehlen eines solchen Entgelts oder einer solchen ähnlichen Gegenleistung nicht ausgeschlossen werden kann (siehe dazu im Blog hier). Schleichwerbung in diesem Sinne ist in der audiovisuellen kommerziellen Kommunikation verboten (Art. 9 Abs. 1 lit. a AVMD-RL; § 31 Abs. 2 AMD-G; § 13 Abs. 1 ORF-G; § 19 Abs. 4 lit. b PrR-G).

Für Printmedien gilt damit eine andere Rechtslage als für audiovisuelle Mediendienste: § 26 Mediengesetz untersagt unentgeltliche "Schleichwerbung" (so wie sie in der AVMD-RL verstanden wird und für audiovisuelle Mediendienste sowie in Österreich auch für den Hörfunk verboten ist) nicht. Entgeltliche "Schleichwerbung" ist und bleibt auch im Printbereich unzulässig.

7. Kernfrage: Zusammenhang zwischen Entgelt (für Inserat) und Artikel
Um von lauterkeitsrechtlich unzulässiger "als Information getarnter Werbung" ausgehen zu können, muss ein Zusammenhang zwischen dem redaktionell gestalteten Beitrag und einem Entgelt oder einer anderen Gegenleistung festgestellt werden. Das wird häufig letztlich eine Beweisfrage sein und ist im Einzelfall zu würdigen. Als Freibrief für "Paketangebote" von Inserat und Artikel kann das OGH-Urteil jedenfalls nicht gelesen werden, im Gegenteil: wenn ein solches Paket geschnürt wird (Inserat und Artikel zu Gesamtpreis), ist der Artikel jedenfalls nach § 26 Mediengesetz zu kennzeichnen.

8. Das Ende des objektiven/neutralen Journalismus?
Die APA schrieb auch, dass sich die Höchstrichter "von der jahrzehntelangen Vorstellung eines objektiven Journalismus verabschiedet" hätten. Das ist die Zuspitzung einer meines Erachtens tatsächlich etwas unglücklichen Argumentationskette im OGH-Urteil:

Bei Prüfung der Frage, ob durch die unentgeltlichen (aber werblichen) Beiträge ein aus § 1 UWG abzuleitendes Transparenzgebot verletzt wurde, führt der OGH Folgendes aus:
3.1. § 26 MedienG wurde aus der Erwägung eingeführt, dass redaktionellen Beiträgen vom Leserpublikum ein größeres Vertrauen entgegengebracht wird als Anzeigen, weil letztere offensichtlich den Interessen deren dienen, die dafür zahlen (4 Ob 60/92).
Die vor mehr als zwanzig Jahren in Rechtsprechung und Schrifttum vertretene Auffassung, dass der Verbraucher bei der offenen Werbung in Rechnung stellt, dass sie stets subjektiv gefärbt ist, und deshalb geneigt ist, gewisse Abstriche zu machen, während er Stellungnahmen von "neutraler Seite" – Zeitungsberichten, Reportagen in Funk oder Fernsehen, Äußerungen der Wissenschaft – oft unbegrenztes Vertrauen entgegenbringt (Nordemann, Wettbewerbsrecht6, 59 Rz 64, zitiert in 4 Ob 60/92), gilt in dieser Allgemeinheit nicht mehr: Der durchschnittlich aufmerksame und kritische Leser geht heute davon aus, dass auch redaktionelle Beiträge in periodischen Medien nicht "neutral" sind und keine absolute Objektivität in Anspruch nehmen können, weil sie von – zumeist auch namentlich genannten – Journalisten stammen, die ihre persönliche Meinung zum Ausdruck bringen, sei es in politischen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Belangen.
3.2. Besteht demnach – anders als im Fall 4 Ob 60/92 – für den Durchschnittsleser am Charakter der beanstandeten Veröffentlichungen als redaktionelle Beiträge kein Zweifel, bedarf es im Fall der Unentgeltlichkeit dieser Beiträge unter dem Gesichtspunkt des Transparenzgebots (§ 1 UWG) auch dann keiner zusätzlichen Aufklärung des Publikums durch Kennzeichnung, wenn der Beitrag aus Gefälligkeit Äußerungen kommerziellen Charakters mit "werblichem Überschuss" enthält.
Daran überrascht nicht nur das mehrfache Zitat des Urteils 4 Ob 60/92 aus dem Jahr 1992, in dem es allerdings gar nicht um die Frage der Kennzeichnung nach § 26 Mediengesetz ging, sondern um die wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit der "Zugabe" von Gratisinseraten (die als Inserate klar erkennbar waren).

Vor allem überrascht, dass der OGH offenbar der Auffassung ist, dass sich am Medienverständnis der Maßfigur des "durchschnittlich aufmerksamen und kritischen Lesers" zwischen 1992 und heute etwas geändert habe und die Leser heute weniger von einem "neutralen" Journalismus ausgehen würden als noch vor knapp 25 Jahren. Nun ist das mit solchen Maßfiguren (vom "verständigen Verbraucher" bis hin zum - tatsächlich - "durchschnittlich rechtstreuen Schwachsinnigen") so eine Sache: es handelt sich um normative Maßstäbe, nicht um empirisch gestützte Diagnosen. Es ist daher müßig, jetzt zu überlegen, ob sich dieses geänderte Medienverständnis in entsprechenden Studien nachvollziehen lässt.

Eine Begründung für den nach Ansicht des OGH geänderten Maßstab gibt es nicht (liegt der Grund vielleicht in der Zunahme an Gratisblättern, im grassierenden Meinungsjournalismus, im Gerede von der "Lügenpresse", vielleicht sogar in verbesserter Medienbildung?). Ich kann das Argument auch nicht ganz nachvollziehen: auch vor 25 Jahren wurde nicht flächendeckend an die absolute Objektivität geglaubt, aber es war und ist etwas anderes, ob ich zB politisch gefärbten Journalismus erwarte (übrigens vor 25 Jahren zB in den damals noch stärker vertretenen Parteizeitungen), oder ob mir - egal ob in der politischen Kolumne oder im "objektiven" Testbericht - absichtlich nicht gekennzeichnete kommerzielle (und entgeltliche) Werbung untergejubelt wurde. Die Argumentation, mit der die Kennzeichnungspflicht für entgeltliche Beiträge im Mediengesetz begründet wurde, hat heute genauso Gültigkeit wie bei Einführung des Mediengesetzes 1981.

Es scheint, als wolle sich der OGH mit der (vorgeblichen) Maßstabsänderung vom mehrfach zitierten, aber - wie er an anderer Stelle selbst betont - nicht einschlägigen Urteil 4 Ob 60/92 absetzen. Dort ging es jedoch gerade nicht um eine mögliche Täuschung des Publikums über den werblichen Charakter einer Veröffentlichung (der Streit betraf die Inserate, die als solche erkennbar und gedacht waren, für die aber kein Entgelt verlangt wurde).

Tatsächlich hat der OGH noch nie über unentgeltliche redaktionelle Artikel mit "werblichem Überschuss" entschieden, es wäre also gar nicht notwendig gewesen, sich von der Entscheidung 4 Ob 60/92 abzusetzen und dazu ein angeblich geändertes Medienverständnis heranzuziehen. Oder muss man das aktuelle Urteil so lesen, dass der OGH im Jahr 1992 - hypothetisch - noch zum Ergebnis gekommen wäre, unentgeltliche werbende Artikel wären damals nach § 1 UWG unzulässig gewesen?

Für das vom OGH erzielte Ergebnis hätte es gereicht, auf die Voraussetzung der Entgeltlichkeit sowohl nach § 26 Mediengesetz als auch nach Z 11 des Anhangs zum UWG hinzuweisen und festzuhalten, dass sonstige - nicht monetär oder durch eine andere Gegenleistung gestützte - Motive, um besonders positiv über ein Produkt, eine Dienstleistung, oder ein Unternehmen zu schreiben, demnach nicht offengelegt werden müssen.

So aber wirkt die Argumentation des OGH tatsächlich, als würde er sich von einer "jahrzehntelangen Vorstellung eines objektiven Journalismus" verabschieden. Diese Vorstellung lag aber weder dem Mediengestz zugrunde (die Erläuterungen sprachen nur vom "größeren Vertrauen" in redaktionelle Beiträge, nicht von der Erwartung eines objektiven und/oder neutralen Journalismus) noch der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, sondern sie wurde vom OGH im Jahr 1992 ohne Not aus einem alten deutschen Kommentar importiert - und nun wieder mühsam "exportiert".

Im Übrigen: auch objektiver Journalismus ist vielleicht eine Wunschvorstellung, aber (sieht man vom Rundfunk ab) keine Rechtspflicht.

Tuesday, November 08, 2016

EGMR (Große Kammer), Magyar Helsinki Bizottság: Art. 10 EMRK inkludiert - unter bestimmten Umständen - Recht auf Informationszugang

Art. 10 EMRK schützt die Freiheit der Meinungsäußerung. Dieses Recht, so heißt es in Art. 10 Abs. 1 EMRK ausdrücklich, schließt auch "die Freiheit zum Empfang [...] von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden" ein. Nicht abschließend klar war bislang, ob dieses Recht so weit geht, dass Behörden auf Anfrage Informationen zugänglich machen müssen, die sie nicht von selbst preisgeben wollten. Ein derartiges Recht auf Zugang zu Informationen öffentlicher Einrichtungen ist in vielen Staaten gesetzlich vorgesehen (in Österreich derzeit nur als Recht auf Auskunft, aber nicht auf tatsächlichen Zugang zu den Informationen), die Rechtsprechung des EGMR dazu war bisher nicht eindeutig. 

Mit dem heute verkündeten Urteil der Großen Kammer im Fall Magyar Helsinki Bizottság gegen Ungarn (Appl. no. 18030/11; siehe dazu auch die Pressemitteilung) hat der EGMR sich nun endgültig dazu durchgerungen, Art. 10 EMRK so zu auszulegen, dass dieser auch ein Recht auf Zugang zu Informationen einschließt. Dieses Recht besteht aber nur unter einer Reihe von durchaus einschränkenden Bedingungen, die der EGMR in seinem Urteil darlegt. Vor allem kommt es auf die Rolle des Informationssuchenden an: wesentlich ist das Ziel, mit den begehrten Informationen die Öffentlichkeit über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu informieren - damit kommen als Träger des Rechts vor allem journalistisch tätige Personen und NGOs sowie andere "public watchdogs" in Betracht (zu denen der EGMR nun ausdrücklich auch Blogger zählt).

Hier zunächst einmal eine Darstellung der wesentlichen Inhalte des Urteils, noch ohne Anmerkungen zu den (mehreren) Sondervoten oder zu den Konsequenzen (dazu in den nächsten Tagen vielleicht noch mehr).

Zum Ausgangsfall: 
Die beschwerdeführende NGO, das ungarische Helsinki-Komitee, beobachtet die Umsetzung internationaler Menschenrechtsstandards in Ungarn, engagiert sich für die Rechte von Asylwerbern und beobachtet die Menschenrechtssituation im Bereich der Sicherheitsbehörden und der Justiz. In besonderer Weise befasst sie sich mit dem Zugang zum Recht, Haftbedingungen und dem Recht auf anwaltlichen Beistand. Für eine Studie über die Bestellung von Verfahrenshilfeverteidigern evaluierte die NGO die Leistung von Verfahrenshelfern. Sie kam zum Ergebnis, dass das System der Verfahrenshelfer-Bestellung nicht adäquat funktionierte, vor allem weil die Polizei und andere Untersuchungsbehörden die zu bestellenden Verfahrenshelfer frei auswählen konnten und dabei häufig dieselben Anwälte wählten.

In einem Folgeprojekt beantragte die NGO die Bekanntgabe der Namen der ausgewählten Verfahrenshilfeverteidiger im Jahr 2008 und die Anzahl der Fälle für jeden Anwalt bei 28 Polizeibehörden. 17 Polizeibehörden gaben die Namen bekannt, fünf weitere erst nach gerichtlicher Anordnung. Die Polizeibehörden von Hajdú-Bihar und von Debrecen verweigerten die Auskunft, da die Namen der Verfahrenshelfer keine Daten von öffentlichem Interesse seien; die Bekanntgabe der Information sei nicht im öffentlichen Interesse im Sinne des ungarischen Datenschutzgesetzes, weil die Verfahrenshelfer keine staatlichen oder öffentlichen Aufgaben durchführen würden; ihre Namen seien daher private Daten, die nicht bekanntzugeben seien.

Die NGO ging vor Gericht und gewann in erster Instanz am Bezirksgericht Debrecen. Das zweitinstanzliche Gericht drehte die Entscheidung um, der Oberste Gerichtshof bestätigte diese Entscheidung und betonte dabei insbesondere, dass die Verfahrenshelfer keine Personen seien, die öffentliche Aufgaben erfüllen.

Das Urteil des EGMR

Der EGMR hält (in Abs. 117 des Urteils) fest, dass Art. 10 EMRK - anders als etwa Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte - nicht ausdrücklich auch das Recht erwähnt, Informationen "zu suchen".

- Bisherige Rechtsprechung
In den Absätzen 126 bis 133 des Urteils stellt der EGMR seine bisherige Rechtsprechung dar. Zunächst hatte er - beginnend mit dem 1987 ergangenen Urteil Leander - ausgesprochen, dass das Recht auf den freien Empfang von Informationen im Wesentlichen die Regierung daran hindert, eine Person am Empfang von Informationen zu hindern, die ihr andere mitteilen wollen, dass aber Art. 10 EMRK dem Einzelnen (in den jeweiligen Umständen der Einzelfälle) kein Recht auf den Zugang zu Informationen gebe und keine Verpflichtung der Regierungen schaffe, solche Informationen mitzuteilen.

Der EGMR führt dazu aus, dass diese Fälle insoweit vergleichbar waren, als es um Informationen ging, die für das Privatleben der Betroffen bedeutsam waren, sodass sie auch unter Art. 8 EMRK beurteilt wurden. Später hat der EGMR dann - beginnend mit dem Fall Dammann - ausgesprochen, dass das Sammeln von Informationen ein essentieller Teil der Pressefreiheit ist; im Fall von leicht verfügbaren Dokumenten, zu denen eine öffentliche Einrichtung einem Medium dennoch den Zugang verweigerte, wurde daher von einem Eingriff in die nach Art. 10 EMRK geschützten Rechte ausgegangen (Entscheidung Sdružení Jihočeské Matky; im konkreten Fall war der Eingriff allerdings nicht unverhältnismäßig).

Später wurde ein auf Art. 10 EMRK gestütztes Recht in Fällen anerkannt, in denen der Beschwerdeführer nach nationalen Vorschriften ein Recht auf Informationszugang hatte; dabei nahm der EGMR Bedacht darauf, dass der Zugang zur Information in diesen Fällen ein wesentliches Element der Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit war oder dass es Teil des legitimen Sammelns von Informationen im öffentlichen Interesse war, mit dem Ziel, diese Information mitzuteilen und zu einer öffentlichen Debatte beizutragen (insbesondere die Fälle Kenedi, Youth Initiative for Human RightsRoşiianu, Guseva; ähnlich auch Gillberg). Im Rückblick, so der EGMR, sei diese Rechtsprechungslinie keine Abweichung von den Leander-Prinzipien gewesen, sondern eine Weiterentwicklung, indem es um Situationen ging, in denen eine Hand des Staates ein Recht zum Empfang von Informationen anerkannt habe, während die andere Hand die Durchsetzung dieses Rechts frustrierte oder vereitelte.

Eine weiterer, mit dieser Rechtsprechungslinie eng verbundener Zugang hat sich in den Fällen Társaság a Szabadságjogokért (im Blog dazu hier) und Österreichische Vereinigung (im Blog dazu hier) herausgebildet. Hier hat der EGMR unter bestimmten Bedingungen - unabhängig von Überlegungen des nationalen Rechts - die Existenz eines beschränkten Rechts auf Informationszugang als Teil der in Art. 10 EMRK verbürgten Rechte anerkannt. Im Fall Társaság betonte der EGMR die Rolle der NGO als "sozialer Wachhund", der legitimerweise Informationen über eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses sammelte; Ähnliches gilt auch für den Fall Österreichische Vereinigung.

Als Abschluss der Ausführungen zur bisherigen Rechtsprechung versucht der EGMR (in Abs. 133), dem Eindruck der Widersprüchlichkeit der bisherigen Rechtsprechung entgegenzutreten:
The fact that the Court has not previously articulated in its case-law the relationship between the Leander principles and the more recent developments described above does not mean that they are contradictory or inconsistent.
Er meint dazu, dass mit den Aussagen in den Fällen Guerra ua, Gaskin und Roche, wonach dem Einzelnen unter den dort jeweils gegebenen Bedingungen kein Recht auf Zugang zu Informationen zukam (und die Regierung nicht zur Information verpflichtet war), nicht ausgeschlossen worden sei, dass ein ein solches Recht für den Einzelnen (bzw. eine korrespondierende Pflicht für die Regierung) unter anderen Umständen bestehen könne.

- Materialien
Die Auseinandersetzung mit den "Travaux préparatoires" (den historischen Materialien aus den Vorbereitungsarbeiten zur EMRK) führt den EGMR nicht zum Ergebnis, dass ein Recht auf Zugang zu Informationen mit der Textierung von Art. 10 EMRK ausgeschlossen werden sollte (wie insbesondere die Regierung des Vereinigten Königreichs als Unterstützerin der ungarischen Regierung vorgebracht hatte).

- Völkerrecht / Rechtsvergleichung
Völkerrechtliche Quellen und rechtsvergleichende Überlegungen führen den EGMR in Richtung Anerkennung eines Rechts auf Zugang zu Informationen. So sei in der großen Mehrheit der Konventionsstaaten ein Recht auf Zugang zu Informationen und/oder zu Dokumenten von öffentlichen Einrichtungen vorgesehen. Es bestehe ein breiter Konsens innerhalb des Europarats, ein individuelles Recht auf Zugang zu staatlichen Informationen anzuerkennen, damit die Öffentlichkeit Angelegenheiten von öffentlichem Interesse untersuchen und sich darüber eine Meinung bilden könne. Auch das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen sowie der UN-Sonderberichterstatter zur Freiheit der Meinungsäußerung haben ein Recht insbesondere von "public watchdogs" auf Zugang zu staatlichen Informationen als Folge des Rechts der Öffentlichkeit, Informationen zu empfangen, angesehen.

- Eine "Klarstellung der klassischen Grundsätze"
Vor diesem Hintergrund hält der EGMR fest, dass er nicht daran gehindert sei, Art. 10 EMRK so auszulegen, dass er ein Recht auf Informationszugang einschließt. Ziel und Zweck der EMRK erfordern, dass sie so ausgelegt wird, dass die darin verbürgten Rechte effektiv und praktisch, nicht illusorisch und theoretisch sind. Die Auffassung, dass das Recht auf Zugang zu Informationen unter keinen Umständen in den Anwendungsbereich des Art. 10 EMRK fällt, würde zu Situationen führen, in denen die Freiheit, Informationen "zu empfangen und mitzuteilen" in einem derartigen Maße beeinträchtigt würde, dass der Wesensgehalt der freien Meinungsäußerung betroffen wäre. In Umständen, in denen der Zugang zu Informationen für die Ausübung des Rechts auf Empfang und Mitteilung von Information instrumentell ist, kann das Versagen des Zugangs einen Eingriff in dieses Recht darstellen (Abs. 155).

Der EGMR weicht damit im Wortlaut von den Aussagen im Urteil Leander (und einigen nachfolgenden) ab, aber er stellt es ausdrücklich als gebotene "Klarstellung der klassischen Grundsätze" dar. Der EGMR hält daran fest, dass das Recht, Informationen zu empfangen, nicht so ausgelegt werden kann, dass der Staat verpflichtet wäre, aus eigenem Informationen zu sammeln und zu verbreiten. Art. 10 EMRK überträgt dem Einzelnen auch kein Recht auf Zugang zu Informationen einer öffentlichen Einrichtung. Allerdings kann ein solches Recht dann entstehen, wenn die Verpflichtung zur Offenlegung gerichtlich angeordnet wurde (was hier nicht gegenständlich war) oder in Umständen, in denen der Zugang zur Information instrumentell für die Ausübung des Rechts des Einzelnen auf freie Meinungsäußerung ist. Wörtlich heißt es in Abs. 156 des Urteils:
The Court further considers that Article 10 does not confer on the individual a right of access to information held by a public authority nor oblige the Government to impart such information to the individual. However, as is seen from the above analysis, such a right or obligation may arise [...] in circumstances where access to the information is instrumental for the individual’s exercise of his or her right to freedom of expression, in particular “the freedom to receive and impart information” and where its denial constitutes an interference with that right. [Hervorhebung hinzugefügt]
Kriterien für den Informationszugang: 
Ob es ein Recht auf Informationszugang gibt, muss daher in jedem Einzelfall im Lichte der besonderen Umstände des jeweiligen Falles beurteilt werden. Der EGMR gibt (in den Abs. 158 bis 170 des Urteils) Hinweise, welche Kriterien für diese Beurteilung relevant sein können.

  a) Zweck des Informationsersuchens
Eine Voraussetzung ist, dass die informationssuchende Person das Ziel verfolgt, ihre Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Informationen an andere auszuüben. Maßgeblich ist hier etwa, ob das Informationsersuchen als relevante Vorbereitungshandlung für journalistische Tätigkeit dient oder für andere Aktivitäten, die ein Forum für öffentliche Debatten bieten. Diese Voraussetzung stellt daher insbesondere auf Medien oder NGOs als "social watchdogs" ab. Abzuklären ist dabei auch, ob der Zugang zur Information "notwendig" ist, d.h. ob die Verweigerung des Zugangs die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung hindern oder beeinträchtigen würde.

  b) Art der angefragten Information
Informationen oder Dokumente, zu denen Zugang gesucht wird, müssen im Allgemeinen einen "public-interest test" bestehen. Offenzulegen wäre die Information unter anderem dann, wenn dadurch Transparenz über die Führung öffentlicher Angelegenheiten oder Angelegenheiten von gesellschaftlichem Interesse geschaffen wird und damit die Teilhabe der Öffentlichkeit an der "public governance" ermöglicht wird.

Was da im Detail darunter fällt, wird teilweise etwas zirkelhaft definiert ("The public interest relates to matters which affect the public to such an extent that it may legitimately take an interest in them"), aber im Kern geht es um Angelegenheiten, die das Wohl der Bürger im gemeinschaftlichen Leben betreffen, um kontroversielle Angelegenheiten, wichtige soziale Themen oder Probleme, über die die Öffentlichkeit informiert werden möchte. Nicht dazu gehören Angelegenheiten, an denen es bloß ein voyeuristisches Interesse gibt.

  c) Die Rolle des Antragstellers 
Der Rolle, die der Informationssuchende beim Empfang und der Mitteilung von Informationen an die Öffentlichkeit wahrnimmt, kommt besondere Bedeutung zu. Wichtig ist dabei, ob eine Person, die Zugang zu Informationen beantragt, dies mit dem Ziel der Information der Öffentlichkeit in der Funktion eines "public watchdog" tut. Dies beschränkt das Recht auf Zugang zu Informationen nicht auf Medien und NGOs; ein hohes Schutzniveau kommt etwa auch akademischen Forschern zu. Wegen der wichtigen Funktion des Internets bei der Verbesserung des Zugangs zu Nachrichten und der Erleichterung der Verbreitung von Informationen kann auch die Funktion von Bloggern und populären Nutzern von Social Media mit jener von "public watchdogs" verglichen werden (Abs. 168).

  d) Parate und verfügbare Information 
Eine Rolle spielt auch, ob Informationen "ready and available" sind (wenngleich der EGMR den Einwand, das Zusammenstellen der Information sei schwierig, im Fall Österreichische Vereinigung nicht gelten ließ). Der EGMR ist aber der Auffassung, dass der Umstand, dass die begehrte Information parat und verfügbar ist, ein wichtiges Kriterium in der Gesamtbeurteilung darstellt, ob die Verweigerung des Informationszugangs einen Eingriff in das durch Art. 10 EMRK geschützte Recht darstellt.

Anwendung der Kriterien im vorliegenden Fall
Für den EGMR steht nicht in Zweifel, dass die NGO ihr Recht ausüben wollte, die Öffentlichkeit über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse zu informieren und aus diesem Grund die Informationen nachgefragt hat. Die begehrten Informationen betrafen das Feld der geplanten Studie, eine anonymisierte Auskunft hätte es nicht ermöglicht, die Frage der mehrfachen Bestellungen zu Verfahrenshelfern zu klären und verifizierbare Ergebnisse zur Unterstützung der Kritik am bestehenden System der Verfahrenshelferbestellung zu produzieren. Ohne die begehrte Information wäre die NGO nicht in der Lage gewesen, zu einer Debatte von öffentlichem Interesse mit genauer und verlässlicher Information beizutragen.

Die nationalen Gerichte hatten sich nur mit der Frage des Status der Verfahrenshelfer befasst, nicht aber mit dem "public-interest" Charakter der begehrten Informationen. Nach Ansicht des EGMR war aber die Bestellung von Verfahrenshilfeverteidigern eine Angelegenheit von eminentem öffentlichem Interesse, egal ob die Verfahrenshelfer "öffentliche Aufgaben" im Sinne nationaler Rechtsvorschriften erfüllen. Auch die Rolle der NGO stand nicht in Zweifel: es handelt sich um eine etablierte NGO, die sich mit der Verbreitung von Informationen zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit befasst. Und schließlich war die Information "ready and available", es war nicht vorgebracht worden, dass die Offenlegung besonders beschwerlich gewesen wäre.

Eingriff, gesetzliche Grundlage, legitimes Ziel
Damit liegt, so der EGMR, ein Eingriff in ein durch die EMRK geschütztes Recht vor. Der Eingriff war im Datenschutzgesetz vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel (Schutz der Rechte anderer).

In einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich?
Bei der letztlich entscheidenden Frage, ob der Eingriff (die Verweigerung des Informationszugangs) in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich war, kommt es zur Abwägung mit den durch Art. 8 EMRK geschützten Rechten der von der Offenlegung betroffenen Personen. Der EGMR hält dazu fest, dass die begehrten Informationen die Namen der bestellten Verfahrenshelfer und die Zahl der erfolgten Bestellungen betrafen. Für den EGMR geht es damit zwar um personenbezogene Daten, die sich jedoch vorwiegend auf die Ausübung beruflicher Aktivitäten im Zuge öffentlicher Verfahren beziehen und damit keine private Angelegenheit darstellen.

Damit stellt sich noch die Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Hier betont der EGMR die Bedeutung des Rechts auf ein faires Verfahren, dem nach der EMRK höchste Bedeutung zukommt. Jede Kritik oder vorgeschlagene Verbesserung am Verfahrenshilfe-System, das so unmittelbar mit dem Recht auf ein faires Verfahren  zusammenhängt, ist eine Angelegenheit von legitimem öffentlichen Interesse. Der Vorwurf, dass Verfahrenshelfer von der Polizei systematisch aus dem selben Pool von Anwälten bestellt würden und diese polizeiliche Maßnahmen daher kaum bekämpfen würden, gibt tatsächlich Anlass zu legitimer Sorge. Das Thema betrifft daher den Kern eines Konventionsrechts und die Verweigerung des Informationszugangs beeinträchtigt den Beitrag der NGO zu einer öffentlichen Debatte in einer Angelegenheit von allgemeinem Interesse.

Die Gründe für die Verweigerung des Zugangs - Datenschutzbedenken betreffend die bestellten Verfahrenshelfer - waren daher zwar relevant, aber nicht ausreichend, sodass der Eingriff nicht in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich war. Mit 15 zu 2 Stimmen stellte der EGMR daher eine Verletzung des Art. 10 EMRK fest.

[Update: siehe zu diesem Urteil auch Marjolein Schaap-Rubio Imbers auf Strasbourg Observers, Renata Uitz auf ECHR Blog und Rupert Paines auf Panopticon]