Ausgangsfall
Der Ausgangsfall begann vor mehr als zehn Jahren. In seiner Ausgabe vom 10.04.2006 veröffentlichte das Magazin profil einen Artikel mit dem Titel "Schwere Hypothek", in dem über enorme Verluste der Hypo Alpe-Adria Bank aus Spekulationsgeschäften berichtet wurde. Der Artikel enthielt Kritik am Bankvorstand, nannte aber auch den Treasurer der Bank mit vollem Namen. Wörtlich hieß es in diesem Artikel unter anderem:
Als das Alarmsystem anschlug, hatte die Katastrophe längst ihren Lauf genommen. Am Mittwoch, dem 17. November 2004, zeigte das zur Risikosteuerung und -kontrolle eingesetzte Softwareprogramm in der Zentrale der Hypo Alpe-Adria-Bank in Klagenfurt an sämtlichen zuständigen Stellen des Hauses genau jene Daten, die Managern eines Kreditinstituts gemeinhin den kalten Schweiß auf die Stirn treiben: horrende Verluste im Veranlagungsgeschäft. [...]Der genannte Treasury-Manager beantragte die Zuerkennung einer Entschädigung nach § 7a Abs. 1 Mediengesetz (Schutz vor Bekanntgabe der Identität in besonderen Fällen). Das Landesgericht für Strafsachen Wien wies seinen Antrag ab, das OLG Wien als Berufungsgericht drehte die Entscheidung jedoch um. Es sprach aus, dass durch die Veröffentlichung, "in der mehrmals der Name des Antragstellers Christian R***** als einer gerichtlich strafbaren Handlung Verdächtiger im Zusammenhang mit Spekulationsverlusten der H*****-Bank genannt wurde, Angaben über die Identität des Antragstellers veröffentlicht wurden, die geeignet sind, in einem nicht unmittelbar informierten größeren Personenkreis zum Bekanntwerden seiner Identität zu führen, wodurch seine schutzwürdigen Interessen verletzt wurden, ohne dass wegen seiner Stellung in der Öffentlichkeit, wegen eines sonstigen Zusammenhangs mit dem öffentlichen Leben oder aus anderen Gründen ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an der Veröffentlichung dieser Angaben bestanden hat."
Der für die Transaktionen verantwortlich zeichnende Treasury-Manager Christian Rauscher wurde daraufhin umgehend von seinem Arbeitsplatz verbannt. (Der Sohn des ehemaligen SPÖ-Finanzlandesrats Max Rauscher war für profil für eine Stellungnahme nicht erreichbar.) [...] Gegen Rauscher laufen beim Landesgericht Klagenfurt (Aktenzahl 3 St 79/06x) Vorerhebungen wegen Verdachts der Untreue, gegen den Vorstand steht der Vorwurf der unrichtigen Darstellung der Jahresabschlüsse, kurz gesagt der Bilanzfälschung, im Raum. [...]
Die inkriminierten Transaktionen wurden allesamt zwischen 20. September und 5. Oktober 2004 getätigt. Rauscher soll dabei laut Darstellung von Hypo-Boss Kulterer entgegen den Vorgaben mittels so genannter Swaps auf eine hochexplosive Mischung zweier Entwicklungen an den Finanzmärkten gesetzt haben: einerseits auf fallende Zinsen, andererseits auf einen Anstieg von Dollar und Yen gegenüber dem Euro.
Die Medieninhaberin des profil, die Verlagsgrupep News GmbH, wurde gemäß § 7a Abs 1 Mediengesetz zur Zahlung einer Entschädigung von 3.000 € verpflichtet.
Die Medieninhaberin stellte einen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens (entsprechend der Rechtsprechung, die in solchen Fällen eine analoge Anwendung des § 363a StPO zulässt), blieb damit aber erfolglos. Mit Beschluss vom 17.03.2010, 15 Os 95/09y, wies der OGH - in dem für "Fachsachen nach dem Mediengesetz" zuständigen Senat - den Erneuerungsantrag zurück.
Der OGH hielt fest, dass eine identifizierende Berichterstattung nur zulässig ist, "wenn und soweit dem Namen bzw sonstigen Identitätsmerkmalen des (hier:) Verdächtigen ein eigenständiger Informations- oder Nachrichtenwert zukommt. Dieser Informationswert muss, um die Zulässigkeit einer identifizierenden Berichterstattung zu begründen, das schutzwürdige Anonymitätsinteresse des Betroffenen überwiegen." Für den konkreten Fall kam der OGH zum Ergebnis, dass das OLG Wien die Abwägung korrekt vorgenommen habe. Zu berücksichtigen sei auch, dass erst eine "frühe Verdachtslage" vorgelegen sei, weil der Artikel schon fünf Tage nach Einlangen der Anzeige der Finanzmarktaufsichtsbehörde (FMA) - die, darauf legt der OGH wert, "keine Strafverfolgungsbehörde ist" - veröffentlicht wurde (die Vorerhebungen gegen den Treasurer wurden erst sechs Wochen nach der Veröffentlichung eingeleitet; das Strafverfahren gegen ihn übrigens später gänzlich eingestellt). Der Hinweis auf die politische Funktion des Vaters des Verdächtigten sei thematisch nicht begründet gewesen. Dem Magazin, so hatte bereits das OLG Wien argumentiert, wäre die Möglichkeit "einer zwar investigativen, jedoch anonymitätswahrenden Reportage" offen gestanden, die Offenlegung des vollen Namens habe der bereits gebotenen Information nichts von öffentlichem Interesse hinzugefügt.
Das Urteil des EGMR
Das Ergebnis des EGMR überrascht nicht, weil - wie erwähnt - ein Parallelfall schon im selben Sinn vom EGMR entschieden wurde (Standard Verlags GmbH gegen Österreich [Nr. 3]). Damals ging es ebenfalls um eine Entschädigung wegen identifizierender Verdachtsberichterstattung nach § 7a Mediengesetz, die dem Treasurer der Hypo Alpe-Adria Bank vom OLG Wien zugesprochen worden war. Das Urteil des OLG Wien in jenem Fall datierte vom 14.02.2007, also noch vor der Rechtsprechung des OGH, die in solchen Fällen seit August 2007 einen Erneuerungsantrag an den OGH in analoger Anwendung des § 363a StPO zulässt. Die Beschwerde der Medieninhaberin des Standard lag dem EGMR somit schon deutlich früher - im August 2007 - vor, und der EGMR entschied "schon" im Jänner 2012, dass die Gründe, die das OLG Wien für die Zuerkennung der Entschädigung gefunden hatte, zwar "relevant", aber nicht "ausreichend" waren (mehr dazu im Blog hier; s. auch den Bericht des Standard über das EGMR-Urteil).
In seinem heutigen Urteil im Fall Verlagsgruppe News GmbH gegen Österreich (Appl. no. 60.818/10) kommt der EGMR (einstimmig) zum selben Ergebnis. Unstrittig war, dass ein Eingriff in das nach Art. 10 EMRK geschützte Recht vorlag, und dass dieser Eingriff auf Gesetz beruhte und einem legitimen Ziel diente. Zu prüfen war daher nur mehr, ob der Eingriff im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft unentbehrlich war.
Der EGMR verweist auf das Urteil im Fall Standard Verlags GmbH (Nr. 3), dem ein "einigermaßen ähnlicher" Sachverhalt zugrunde lag. Dennoch müsse der konkrete Einzelfall analysiert werden: "Even so, the Court emphasises that an examination of the case may lead to different conclusions as certain of the criteria of assessment defined by the Court’s case-law depend heavily on an assessment of the specific publication and the conduct of its author." (Abs. 37)
Allzu große Mühe macht sich der EGMR dann aber doch nicht mit der Einzelfallprüfung: er geht zwar der Reihe nach die "Caroline-Kriterien" durch (siehe dazu vor allem die Urteile der Großen Kammer Von Hannover Nr 2 [im Blog dazu hier], Axel Springer AG [im Blog dazu hier] und Couderc und Hachette Filipacchi Associés), bleibt dabei aber meist recht knapp:
- Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse Anders als der Beitrag im Standard behandelte der hier zu beurteilende Artikel nicht die Verbindungen zwischen der Politik und den Verlustgeschäften der Bank, sodass die Berichterstattung nicht schon aus diesem Grund zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beigetragen hat. Der EGMR verweist aber darauf, dass der Betroffene als Leiter der Treasury-Abteilung einer fast zur Hälfte im Eigentum des Landes Kärnten stehenden Bank für diese Bank Verträge über viele Millionen Euro eingehen konnte, wobei die Steuerzahler für einen Großteil der daraus entstandenen Verluste aufkommen müssen. Und auch wenn die FMA - wie der OGH betont hatte - keine Strafverfolgungsbehörde ist, so ist sie doch die wesentliche Aufsichtsbehörde über den Bankensektor, und sie hatte ausreichende Gründe für eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft gefunden. Damit kam der EGMR zum Ergebnis, dass der Artikel einen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leistete.
- Bekanntheit der Person, über die berichtet wird Der Betroffene war keine Person des öffentlichen Lebens und auch niemand, der das Licht der Öffentlichkeit gesucht hatte. Der EGMR begnügt sich hier mit dem Hinweis, dass die Frage, ob es sich beim Betroffenen um eine "public figure" handle, nur eines von mehreren Kriterien ist.
- Methode der Informationsbeschaffung und Wahrheitsgehalt des Berichts
Die Richtigkeit des Artikels war nicht strittig. Auch die Methoden der Informationsbeschaffung wurden nicht in Streit gezogen. Die Identität des Betroffenen war zum Veröffentlichungszeitpunkt zudem schon aufgrund anderer Berichte bekannt.
- Form und Folgewirkungen der Veröffentlichung,
Der Betroffene hatte schwere Auswirkungen des Berichts auf sein Privat- und Berufsleben behauptet. Das OLG Wien hatte allgemein Auswirkungen auf sein privates und berufliches Leben anerkannt. Im Verfahren vor dem EGMR wurde das nicht näher thematisiert, der EGMR nimmt hier einfach an, dass der Artikel einen signifikanten Effekt auf das Privatleben und die berufliche Position des Betroffenen gehabt haben muss.
- Schwere der Sanktionen
Die dem Betroffenen zugesprochene Entschädigung von 3.000 € ist, so der EGMR, "weder symbolisch noch vernachlässigbar."
- Ergebnis
Auch beim Ergebnis verliert der EGMR nur wenige Worte und formuliert fast wortgleich wie im "Standard"-Urteil:
49. In sum, the Court finds that the reasons given by the domestic courts were “relevant” but not “sufficient”. The Court therefore considers that the domestic courts have exceeded the narrow margin of appreciation afforded to them regarding restrictions on debates of public interest. It follows that the interference with the applicant company’s right to freedom of expression was not “necessary in a democratic society”.PS [Update 15.11.2016]: siehe zu diesem Urteil nun auch den Beitrag von Holger Hembach auf Telemedicus.
50. Consequently, there has been a violation of Article 10 of the Convention.
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