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Thursday, May 19, 2016

Medien als Wach- oder Jagdhunde? EGMR zur Veröffentlichung eines alten Gutachtens über psychische Probleme einer Gerichtssachverständigen für Psychologie (Fürst-Pfeifer gegen Österreich)

Muss eine Gerichtssachverständige für Psychologie hinnehmen, dass in einer Zeitung (und online) ein 15 Jahre altes Gutachten thematisiert wird, in dem ihr psychische Probleme attestiert wurden? Zwei österreichische Oberlandesgerichte und nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben die Frage bejaht (Urteil vom 17. Mai 2016, Fürst-Pfeifer gegen Österreich, Appl. nos. 33677/10 und 52340/10); die österreichischen Untergerichte und immerhin drei der sieben Mitglieder der entscheidenden Kammer des EGMR waren anderer Ansicht.

Der Fall zeigt exemplarisch die oft schwierige Gratwanderung zwischen dem Schutz des guten Rufs einerseits und der Freiheit der Meinungsäußerung andererseits. Was ein Richter, der sich der Mehrheitsmeinung anschließt, in seinem Separatvotum als "unbestreitbar klar" ansieht, sieht die abweichende Meinung zweier anderer Richter als "einseitiges, unausgewogenes und fundamental ungerechtes Urteil." 

Der Ausgangsfall
Die Beschwerdeführerin vor dem EGMR ist seit dem Jahr 2000 als "allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Sachverständige für Familien-, Kinder- und Jugendpsychologie" tätig und wurde von Gerichten ua in Sorge- und Besuchsrechtsstreitigkeiten herangezogen. Am 23. 12. 2008 wurde im Bezirksblatt und auf "meinbezirk.at" ein Artikel mit der Überschrift "Gutachterqualität im Visier" veröffentlicht; Untertitel: "Aufgedeckt: NÖ Sorgerechts-Sachverständige selbst ein Therapie-Fall". Weiter hieß es in diesem Artikel:
Sich abwechselnde Hoch- und Tiefphasen, Panikattacken, Selbstmordgedanken, optische, mit paranoiden Ideen gekoppelte, Erscheinungen – und doch als, von Gerichten bestellte, Gutachterin tätig, die in den letzten zwölf Jahren rund 3.000 Elternpaaren bei Sorgerechts-Streitereien auf den Zahn fühlte. Jetzt scheint‘s für die [Beschwerdeführerin] aber eng zu werden: Tauchte doch nun ein, ihre Psyche bewertendes, Gutachten auf ...
Besagtes Gutachten stammt aus dem Jahre 1993, wurde im Zuge eines Zivilprozesses von der Wiener Neurologin [Dr. M.] erstellt (Klage auf Grund eines, von [der Beschwerdeführerin] angeblich gebrochenen, Heiratsversprechens) – und förderte die, bereits eingangs erwähnten, Defizite zutage. Zudem kam [Dr. M.] zum Schluss, die Psychosen [der Beschwerdeführerin] seien erblich bedingt, zeige die Familien-Historie doch eine Häufung des Krankheitsbildes.
Drei Jahre später wurde [die Beschwerdeführerin] vom Wiener Neustädter Landesgericht in die Gutachter-Szene eingeführt, ihre Integrität stand über eine Dekade nicht zur Debatte – bis jetzt.
Danach folgten im Artikel Aussagen eines Parteimitglieds der Grünen, der Anzeige gegen die Beschwerdeführerin erstattet hatte, der Kinder- und Jugendanwältin des Landes und des Vizepräsidenten des LG Wiener Neustadt. Der Artikel endete mit dem Hinweis, dass die Beschwerdeführerin nicht mehr telefonisch erreichbar sei und sich aus sämtlichen Fällen zurückgezogen habe.

In der Folge wurde, so der EGMR, ein Verfahren zur Überprüfung der weiteren Eignung der Beschwerdeführerin als Gerichtssachverständige eingeleitet [dabei ist, wie in der abweichenden Meinung ausgeführt wird, ebenso nichts herausgekommen wie bei der Strafanzeige].

Die Beschwerdeführerin begehrte beim LG St. Pölten (wegen der Online-Veröffentlichung) und beim LG Innsbruck (wegen der Print-Publikation) eine selbständige Entschädigung nach § 8a Mediengesetz wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs (§ 7 Mediengesetz). Beide Landesgerichte gaben ihren Anträgen statt. Im Rechtsmittelverfahren wurden die Entscheidungen vom OLG Wien und OLG Innsbruck jeweils umgedreht und die Anträge der Beschwerdeführerin abgewiesen, im Wesentlichen mit der Begründung, dass die Tätigkeit der Gerichtssachverständigen der öffentlichen Sphäre zuzuordnen sei; die Presse habe ihre Aufgabe als public watchdog erfüllt (und wahrheitsgemäß berichtet).

Das Urteil des EGMR
Die Beschwerdeführerin machte vor dem EGMR geltend, dass die österreichischen Gerichte ihre Verpflichtung zum Schutz des Privatlebens (Art 8 EMRK) verletzt hätten.

- Zur Zulässgkeit
Die österreichische Regierung wandte ein, dass kein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a StPO) gestellt und der Instanzenzug somit nicht ausgeschöpft worden sei. Das lässt der EGMR nicht gelten: anders als im Fall ATV Privatfernseh-GmbH wurde die Beschwerde hier ja von der Antragstellerin, nicht vom Antragsgegner erhoben, und Antragsteller im selbstständigen Entschädigungsverfahren können keinen Erneuerungsantrag stellen (siehe zB OGH 26.06.2008, 15 Os 41/08f).

- Abwägung Art 8 / Art 10 EMRK
Die inhaltliche Entscheidung des EGMR, die von der knappen Mehrheit von 4 RichterInnen getragen wird (Sajó, Zupančič, Tsotsoria, Kucsko-Stadlmayer), ist recht knapp ausgefallen.

Der EGMR weist zunächst allgemein auf die positiven Verpflichtungen der Konventionsstaaten zum Schutz der durch Art 8 EMRK garantierten Rechte hin (Urteil Karakó), dass der Schutz des Privatlebens unter anderem gegen die Freiheit der Meinungsäußerung abgewogen werden muss (Urteil Węgrzynowski and Smolczewski; im Blog dazu hier), und dass der Beurteilungsmaßstab grundsätzlich derselbe sein muss, egal ob der EGMR nach Art 8 EMRK oder nach Art 10 EMRK angerufen wird (Urteile Axel Springer AG - im Blog dazu hier - und Von Hannover (Nr. 2), im Blog dazu hier). Wurde die derartige Abwägung ("balancing exercise") von den nationalen Behörden/Gerichten in Übereinstimmung mit den vom EGMR entwickelten Kriterien vorgenommen, bräuchte es besonders starke Gründe für den EGMR, seine Beurteilung an die Stelle der Beurteilung durch die nationalen Gerichte zu setzen, es besteht für diese daher ein großer Spielraum ("wide margin"; Urteil Delfi AS).

Die eigentliche Auseinandersetzung mit dem konkreten Fall findet sich in den Absätzen 43 bis 47 des Urteils. Der EGMR hält fest, dass die Information über den psychischen Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin aus dem Gutachten einer gerichtlich bestellten Sachverständigen in einem öffentlichen zivilrechtlichen Gerichtsverfahren stammte. Zudem - wie die zitierten Stellungnahmen zeigten - habe dieses Gutachten bereits "politische Reaktionen" ausgelöst und sei damit Teil einer laufenden öffentlichen Debatte gewesen. Der Artikel habe sich nicht auf laufende Gerichtsverfahren bezogen, sondern auf die Frage, ob der psychische Zustand der Beschwerdeführerin ihrer Ernennung zur Sachverständigen entgegenstehen würde. Die Beschwerdeführerin habe nie geltend gemacht, dass das Gutachten auf ungesetzliche Weise besorgt worden sei, auch sei der Wahrheitsgehalt des Artikels nie bestritten worden.

Der EGMR meint auch, dass der Inhalt des Artikels ausgewogen gewesen sei; er habe über Tatsachen berichtet und nicht nur auf die Befriedigung öffentlicher Neugier abgezielt. Abgesehen von einer "catchy" Sub-Headline seien nur Tatsachen und Kommentare Dritter enthalten gewesen.

Schließlich hält der EGMR fest, dass eine ernsthafte Debatte über die psychische Gesundheit einer Gerichtssachverständigen für Psychologie, hervorgerufen durch einen begründeten Verdacht, als Debatte von allgemeinem Interesse anzusehen ist. Es darf keinen Zweifel an der geistigen Eignung einer solchen Sachverständigen geben, um das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit aufrechtzuerhalten. Der EGMR sieht keine starken Gründe, zu einer anderen Beurteilung zu kommen als die nationalen Gerichte, wonach die Beschwerdeführerin, die häufig im sehr sensiblen Gebiet der Kinderpsychologie zur Sachverständigen bestellt wurde, ähnlich wie eine Beamtin in Ausübung ihres Amts zu behandeln ist. Da der Artikel auch keine beleidigenden oder ausfälligen Attacken enthielt, sei es auch nicht notwendig gewesen, die Beschwerdeführerin im Sinne der Rechtsprechung (Urteil Janowski) vor derartigen Angriffen zu schützen.

Der EGMR kommt damit zum Ergebnis, dass die Entscheidungen des OLG Wien und des OLG Innsbruck einen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen gefunden haben.

- Zustimmendes Sondervotum des Richters Zupančič
Der slowenische Richter Zupančič stimmt dem Ergebnis der Mehrheit zu, würde es aber im Aufbau und Fokus anders angehen. Er sieht den Ursprung des Problems in der Frage, ob die österreichischen Behörden die "psychologische Fitness" der Beschwerdeführerin nicht ab initio hätten prüfen müssen, zum Zeitpunkt ihrer "Ernennung" zur Gerichtssachverständigen. Wäre das geschehen, so stünde man nicht vor dem aktuellen Problem. [Ich kann dem Richter dabei nicht folgen: es steht nirgends im Urteil, dass eine entsprechende Prüfung nicht stattgefunden hätte - für die Eintragung in die Gerichtssachverständigen-Liste ist immerhin Voraussetzung, dass man körperlich und geistig geeignet ist (§ 2 Abs 2 SDG); das Auftauchen eines früheren Gutachtens besagt auch nicht, dass zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Liste die Voraussetzungen nicht gegeben gewesen wären, und die Beschwerdeführerin ist ja auch nach dem Bekanntwerden des alten Gutachtens schließlich nicht von der Liste gestrichen worden].

Weiters hebt Richter Zupančič hervor, dass alle Sorgerechts-Verfahren, in denen die Beschwerdeführerin als Sachverständige bestellt war, unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurden und angesichts dieser Geheimhaltung die Veröffentlichung des Artikels möglicherweise der einzige Weg gewesen sei, die Öffentlichkeit und die Behörden auf das mögliche Problem aufmerksam zu machen. Das Ziel des Artikels sei das "whistleblowing" gewesen, zumal andere Wege anscheinend ("apparently") nicht offen gestanden seien. [Auch dieser Meinung kann ich nicht folgen: dass tatsächlich die Veröffentlichung des Artikels der einzige Weg des whistleblowing sein hätte können, ergibt sich aus dem Sachverhalt nicht; im veröffentlichten Artikel wird ein (damals) grüner AK-Funktionär - der im Übrigen hier nicht in politischer Funktion tätig wurde, sondern Teil eines Sorgerechtsstreits war - damit zitiert, dass ihm dieses Gutachten erst "vor wenigen Tagen" zugespielt worden wäre, es ist nicht erkennbar, dass die daraufhin erstattete "Anzeige" und Information des Bezirksblatts der einzig geeignete Weg gewesen wäre, eine allenfalls notwendige Untersuchung in Gang zu bringen - gerade die von Zupančič in der Folge zitierte Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum Schutz von Whistleblowern stellt darauf ab, dass interne Kanäle - für die Meldung von Fehlverhalten, das Menschen gefährdet - nicht existieren oder nicht funktionieren - und dafür gibt es eben im Sachverhalt keinen Anhaltspunkt, nicht umsonst flüchtet sich Zupančič in das Wort "apparently", also eine nicht weiter begründete Annahme].

Zupančič sieht einen ausgewogenen ("well-balanced") Text des Artikels und meint, dass das Ziel der Veröffentlichung sicherlich nicht gewesen sei, den Ruf der Beschwerdeführerin zu beschädigen [mir schiene das angesichts der Unter-Überschrift "Sorgerechts-Sachverständige selbst ein Therapie-Fall" nicht zwingend die einzig mögliche Auslegung]. Abschließend wird noch der Hausverstand bemüht ("a commonsensical addendum"): Kandidaten für jegliche wichtige öffentliche Funktion müssten "beyond reproach" (ohne Tadel) sein; auch der geringste Zweifel an ihrer psychologischen Eignung müsse zur Entfernung schon von der Bewerbung für eine solche Funktion führen. Zupančič sieht die Eintragung als Sachverständige dann auch nicht als Recht, sondern als Privileg, das begründungslos verweigert werden könne! [Ich wäre gespannt, wie der EGMR eine begründungslose Verweigerung der Eintragung allenfalls im Lichte des Art 6 EMRK sehen würde.]

Das Separatvotum endet mit folgendem Satz:
This is one of those rare cases where it is undeniably clear that the public interest of the multiplicity of family-law cases in question, and the consequent freedom of the press, must prevail over the applicant’s right to privacy.
Und wie so oft: je mehr betont wird, dass etwas unbestreitbar sei, desto mehr weckt dies Zweifel und fordert zur Bestreitung geradezu heraus. Diese Herausforderung haben auch die drei in der Minderheit gebliebenen RichterInnen angenommen und sich in zwei getrennten "dissenting opinions" mit ihrer Kritik nicht zurückgehalten.

- Abweichende Meinung der Richter Wojtyczek und Kūris
Die ausführlichere und argumentativ deutlich gewichtigere "dissenting opinion" stammt von den polnischen bzw litauischen Richtern Wojtyczek und Kūris. Sie werfen dem Urteil mehrere schwere Fehler vor: erstens sei es so strukturiert und argumentiert, dass Artikel 10 EMRK faktisch Vorrang vor Artikel 8 gegeben werde. Zweitens werde die Rechtsprechung selektiv und "offhandedly" (unüberlegt) angewendet. Und drittens sei die Argumentation auf eine fehlerhafte Darstellung und fehlerhafte Auslegung der Tatsachen gestützt.

Die beiden Richter konstatieren eine immer dringendere Notwendigkeit, den effektiveren Schutz der Persönlichkeitsrechte gegenüber zunehmend übermächtigen Medien, die unter dem Schutz eines "öffentlichen Interesses" (das häufig simuliert werde) agierten, sicherzustellen, ebenso wie gegenüber
der Beeinträchtigung der Privatsphäre durch Personen, die Medien zum Schaden des Rechts auf Privatleben, als Werkzeug für welche Interessen auch immer zu verwenden suchen. Im Wortlaut:
As time goes by, there must be growing awareness of the increasingly pressing need to ensure more effective protection for personality rights, in particular privacy rights, vis-à-vis a progressively all-powerful media, acting under the aegis of “public interest” (often a simulated one), as well as vis‑à‑vis the impingement on individuals’ privacy rights by those seeking to use the media as a tool for pursuing, to the detriment of privacy rights, whatever interests they may have.
Diese Linie sei vom EGMR im Urteil der Großen Kammer im Fall Bédat (im Blog dazu hier) verfolgt worden, die Mehrheit habe die Ergebnisse des Falls Bédat aber im vorliegenden Fall ignoriert. Im Fall Bédat habe der EGMR die Persönlichkeitsrechte einer Person geschützt, die einer schweren Straftat angeklagt war, bei der Menschen gestorben waren, und die psychische Probleme hatte. Der Vorfall war dort legitimerweise bereits Gegenstand einer lebhaften öffentlichen Debatte gewesen, noch bevor es zur Veröffentlichung kam, durch die in die Privatsphäre des Angeklagten eingegriffen wurde. Demgegenüber habe es im hier entschiedenen Fall vor der Veröffentlichung gar keine öffentliche Debatte über die Arbeit der Beschwerdeführerin gegeben gegeben, geschweige denn eine strafrechtliche Untersuchung. Die Mehrheitsmeinung stehe in schockierend deutlichem Gegensatz zum Urteil Bédat.

Das Minderheitsvotum fordert die Beschwerdeführerin geradezu auf, den Fall an die Große Kammer weiterzuziehen, es gehe nämlich um ein grundlegendes Problem, "the task of looking into which (and of rectifying what is rectifiable) lies with the Grand Chamber." Das Urteil sei nämlich nicht nur in klarem Gegensatz zu Bédat, sondern auch zu etwas, das zunehmend in der Luft liege, im Angesicht einer noch nie dagewesenen Eskalation einer all-durchdringenden rücksichtslosen Information über das Privatleben von Individuen ("what is increasingly in the air, in the face of an unprecedented escalation of all-permeating non‑scrupulous information about individuals’ private lives").

Eine der Antworten des EGMR darauf sei das Konzept des verantwortungsvollen Journalismus ("responsible journalism").
The minimum level of this broader responsibility is somewhat similar to Hippocrates’s “thou shall do no harm” commandment to the medical profession: the media shall do no harm to the community’s general interest, as well as no gratuitous harm to the persons about whom it imparts information. Whereas at times it is not obvious how the first part of this commandment is to be fulfilled (because the general interest may not be understood by all in the same way), the second part is less contradictory: in ethical journalism it is undisputed that what the media publishes or broadcasts may be hurtful, and therefore it should constantly be aware of the impact of its words and images on the lives of others. If this precept is not respected, responsible journalism is an empty phrase. If it is ignored by the Court when examining a case where the freedom of the media comes up against personality rights, then responsible journalism, although often referred to in its case-law, is to be considered not as a principle of the law of the Convention, but a mere decoration. [Hervorhebung hinzugefügt]
Angesichts der ständig wachsenden Möglichhkeiten der Medien, in die Privatsphäre einzudringen, seien von vielen nationalen und internationalen Gerichten Konzepte wie das "right to be left alone" oder jüngst das "right to be forgotten" entwickelt worden. Das gegenständliche Urteil hingegen zeige eine Einstellung, wonach die Freiheit der Medien fast in jedem Fall verletzt würde, wenn Details auch der intimsten Erfahrungen eines Menschen nicht öffentlich bekannt werden dürften.

Das Minderheitsvotum wirft der Mehrheit auch vor, dass sie das Ineinandergreifen von Artikel 8 und Artikel 10 EMRK in einem solchen Fall als Ausrede benützt hätten, um einen "Artikel 8-Fall" in einen Artikel 10-Fall" zu transformieren, auf eine Art, dass die Rechte nach Artikel 8 nur mehr sekundäre Bedeutung hätten. Es scheint, als würde die Mehrheit Artikel 8 als Ausgangspunkt ignorieren: "Thus, the reputation of the individual concerned is treated as something for which the media could not care less, unless there is (most likely ex ante) 'iron' evidence that an individual’s reputation will be unwarrantably damaged by a publication."

Die Mehrheit beschränke sich darauf, zu prüfen, ob die österreichischen Gerichte die Prinzipien des Art 10 EMRK korrekt angewendet hätten. Ob die österreichischen Gerichte auch die Prinzipien des Art 8 EMRK korrekt angewendet hätten, werde demgegenüber nicht erwähnt. Das Urteil verlange "most careful scrutiny" für den Eingriff in das nach Art 10 EMRK geschützte Recht der Presse, aber nicht in gleicher Weise "most careful scrutiny" auch für Eingriffe in Art 8 EMRK.
No balance between the rights protected under Article 8 and those protected under Article 10 is possible if only the latter are scrutinised and if only interference with the latter must be justified by 'particularly strong reasons#, while the former are examined with less attention. There can be no fair balancing exercise if all the weight is placed on one side of the scales while the other is left almost unloaded, especially when the existing case-law contains many arguments in the latter’s favour.
Im dritten Teil der abweichenden Meinung gehen die beiden Richter auf die "Von Hannover"-Kriterien ein (nach dem Urteil Von Hannover (Nr. 2), im Blog dazu hier). Diese Kriterien sind der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, die Bekanntheit der Person, über die berichtet wird, und der Gegenstand des Berichts, das frühere Verhalten der Person, der Inhalt, die Form und die Folgewirkungen der Veröffentlichung und (hier nicht relevant) die Umstände, unter denen Fotos aufgenommen wurden. Im vorliegenden Urteil seien diese Kriterien entweder nicht oder einseitig und oberflächlich angewendet worden. Die Mehrheit habe nur allgemeine Erwägungen zur Vergleichbarkeit der Gerichtssachverständigen mit Angehörigen der Justiz bzw Beamten in offizieller Funktion getroffen. Weiters sei bloß die Art, in der die Information erlangt wurde, berücksichtigt. worden. Dabei habe sich die Mehrheit darauf beschränkt, dass die Information auf legalem Weg erlangt wurde, aber die Frage, weshalb die Information überhaupt ans Licht kam, nicht berührt.

Auch der Hinweis auf das Urteil Janowski sei unzutreffend: in jenem Fall sei es um den Schutz vor (beleidigender) Kritik gegangen; nirgends in diesem Urteil aber stehe, dass Beamte in offizieller Funktion gegen Eingriffe in ihr Privatleben nur dann geschützt wären, wenn dieser Eingriff auch beleidigende Bemerkungen umfasse. Die abweichende Meinung wirft der Mehrheit auch hier grundsätzliches methodisches Versagen vor:
Maintaining that those not acting in any 'official capacity' enjoy full-fledged protection of privacy under the Convention, whereas the privacy of those who 'act in their official capacity' can be intruded upon by virtually anyone and in virtually any circumstances, provided that this intrusion is executed without 'offensive and abusive verbal attacks', is an awry interpretation of the very core of the idea of democratic government. Such an interpretation has no basis in the undisputed democratic requirement of citizens’ supervision of politicians and other officials. Indeed, it turns things inside out: the idea that those whom the community has entrusted with an official function should not be rewarded with privacy incommensurable with the attention which the public may legitimately pay to their activities and their persons is distorted and downgraded to a belief that persons in an 'official capacity' must be subject to a form of retribution for taking up that function whereby they enjoy virtually no privacy at all, so long as they are not verbally attacked in an 'offensive and abusive' manner. By reducing the protection of the applicant’s privacy (and, if this judgment is followed in hypothetical future cases, that of other applicants 'acting in their official capacity') from interference by the media to mere protection against 'offensive or abusive verbal attacks', this judgment does a major disservice to the interpretation of Article 8, and to the methodology of interpretation of the Convention in general.

Nach der Mehrheitsmeinung könnte praktisch jede Information über jeglichen Umstand in Bezug auf die Gesundheit einer Person in einer "offiziellen Funktion" von den Medien veröffentlicht werden, sofern nur die Information nicht auf illegalem Weg erhalten worden sei. Das habe der EGMR in anderen Fällen nicht so mild beurteilt (verwiesen wird auf Z. gegen Finnland und Armonienė, in denen es um HIV-Infektionen ging - nichts in diesen Urteilen könne so gelesen werden, als würden die dortigen Rechtssätze nur auf Personen anzuwenden sein, die nicht "in offizieller Funktion" tätig würden).

Die Argumentation der Mehrheit erlaube die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Problemen. Der Gerichtshof bringe damit den Glauben zum Ausdruck, dass psychische Probleme, welcher Art auch immer, ewig fortbestünden und unheilbar seien. Das Urteil begünstige Vorurteile ("The judgment panders to prejudice").

Ungewöhnlich scharf ist auch die Auseinandersetzung mit der Vorgangsweise der Mehrheit bei der Darstellung des Sachverhalts. Hier wird der Mehrheit ausdrücklich Unwahrheit vorgeworfen:
Turning to the misrepresentation and misinterpretation of facts in this case, one cannot but note that the Government argued that the '[i]nformation about the mental state of health of a court-certified expert who worked in sensitive proceedings in custody issues was a contribution to a debate of general and public interest' (see paragraph 34). The Chamber went further: it concluded that 'as can be seen from the persons quoted in the article at issue and their respective statements ..., the authors of the article reported that the medical report had already provoked political reactions and thus participated in an ongoing public debate' and that 'a serious debate on the mental-health status of a psychological expert, evoked by reasoned suspicions, has to be seen as a debate of general interest' (see paragraphs 43 and 45 respectively).
This is not true. It is as plain and simple as that. At the time of publication there was no public debate on the issue. The article did not contribute to an “ongoing” debate, because nothing of the sort was 'ongoing' at the relevant time. On the contrary, it was intended to initiate a debate – not on the topic of 'general and public interest' but, as will be shown, on the applicant’s personality.
Das Minderheitsvotum führt das noch näher aus und verweist auch darauf, dass es keinen Beleg gibt, dass die Beschwerdeführerin in irgendeiner Weise die Aufmerksamkeit der Medien provoziert oder sonst angezogen hätte. Obwohl sie über 3000 Paare in Sorgerechtsstreitigkeiten untersucht habe, sei dem Gericht keine Information vorgelegt worden, dass irgendeines ihrer Gutachten Anlass zu einer öffentlichen Debatte gegeben habe. Auch wenn einige Leute über ihre Gutachten diskutiert oder Meinungen ausgetauscht hätten, sei dies keine laufende öffentliche Debatte. 

Es sei auch bezeichnend, dass weder das Gericht noch die Beschwerdeführerin anonymisiert worden seien. Eine allgémeine Debatte über Gerichtssachverständige für Psychologie, die früher Probleme mit ihrer psychischen Gesundheit hatten, hätte auch ohne Namensnennung geführt werden können. 

Schließlich wird auch die Ansicht der Mehrheit, wonach die Tatsachen ohne negativen Kommentar des Autors veröffentlicht worden seien, nachdrücklich abgelehnt. 
Further, direct negative comments [...] were not required in order to do damage to the applicant’s reputation, because all of the information provided in the article about the applicant was negative. Nothing positive was written about her. The 'catchy' headline invited the reader to a totality of information which depicted the applicant exclusively in negative terms. Had the 'author' of the publication been guided by a more humane aim than stigmatising the applicant, an objective article would have included at least faint consideration of the possibility that the mental condition of a court-certified expert whose professional performance and integrity had not been 'debated upon for more than a decade' may be not the same as it was fifteen years previously, when she was going through a difficult period in her life. Equally, the argument that the facts 'were set out without any negative comment by the author' proves nothing: such comments were indeed there, uttered not 'by the author' but by the other persons who had been asked to comment on the matter. Thus, the 'member of the Green Party' rhetorically ratiocinated (this comment too has been omitted in paragraph 8): 'In what country do we live, where people with a clearly dubious personality structure can decide the fate of thousands of parents and children' (In welchem Land leben wir, wenn Menschen mit einem offenbar zweifelhaftem Persönlichkeitsbild über die Schicksale von zigtausend Eltern und Kinder entscheiden können). It makes no difference that this comment was not provided 'by the author'.
Der Mehrheit werden in diesem Zusammenhang auch "Halbwahrheiten" vorgeworfen. So werde die Strafanzeige erwähnt, nicht aber das Ergebnis (offensichtlich keines, die Beschwerdeführerin ist nach wie vor als Gerichtssachverständige tätig). Ebenso das Verfahren zur Überprüfung, ob die Beschwerdeführerin noch als Sachverständige geeignet sei - auch hier sei nicht erwähnt worden, dass dabei nichts herausgekommen sei. Und schließlich die öffentliche Debatte? Der "Beitrag" der Medien zur angeblichen ernsthaften Debatte sei null ("zilch"!) gewesen.

Angesichts dieser Umstände könne der Artikel nicht als Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem öffentlichen Interesse, sondern als grundloser Angriff auf den guten Ruf der Beschwerdeführerin anzusehen. Eine dringende soziale Notwendigkeit, die Frage der Eignung der Beschwerdeführerin zu thematisieren, sei nicht zu sehen, wie das Fehlen einer laufenden öffentlichen Debatte und das Fehlen jeglicher Beschwerden gegen die Beschwerdeführerin zeige. 

Dann begibt sich die abweichende Meinung noch auf das Gebiet von Verschwörungstheorien, die nicht von vornherein ausgeschlossen werden könnten: 
Judges should not speculate as to what really prompted the media to delve into the archives for materials on a civil case about a matter which occurred fifteen years previously and was not destined to be reopened. Still, given that the Austrian courts did not look into this matter, there remain grounds for conspiracy theories (professional market competition? personal revenge? creating a basis for re-examining one of the 3,000 cases? etc.) which cannot be rejected outright.
Und zum Abschluss kommt das Bild vom "public watchdog" ins Spiel:
In the Court’s case-law the media is often described as a 'public watchdog'. This judgment blurs the difference between a watchdog and a hound dog.
For a court of human rights, the prey should also matter.
- Abweichende Meinung der Richterin Motoc
Die abweichende Meinung der rumänischen Richterin Motoc ist knapper gehalten und auch nicht so tiefschürfend und anklagend wie jene der Richter Wojtyczek und Kūris. Sie schreibt in der Wir-Form; angesichts dessen kann man auch spekulieren, ob zunächst eine gemeinsame dissenting opinion geplant war und sich die beiden anderen Richter der Minderheit dann vielleicht doch noch deutlicher äußern wollten, als es im Votum der Richterin Motoc zum Ausdruck kommt. Motoc merkt an, dass es sehr schwer zu verstehen sei, wie die Offenlegung eines Gesundheitszustands, der vor 15 Jahren beurteilt worden war, zu irgendeiner öffentlichen Debatte beitragen könne, zumal die Berufsausübung der Beschwerdeführerin bis zur Veröffentlichung ohne Tadel gewesen sei. Außerdem kritisiert sie, dass der EGMR eine Gelegenheit versäumt habe, das Recht auf Schutz des guten Rufs zu präzisiseren; im Wesentlichen meint sie, dass nach der Rechtsprechung (sie verweist dazu auf das auch von der Mehrheit herangezogene Urteil  Karakó, insbesondere aber auf das Urteil Polanco Torres) der Schutz des guten Rufs erst ab einer gewissen Schwelle zu greifen beginnt, nämlich wenn die Anschuldigungen ausreichend schwerwiegend sind und die Veröffentlichung auf das Privatleben der betroffenen Person direkte Auswirkungen hat. Es gehe dabei um eine Kompromittierung der persönlichen Integrität. Mit einer genaueren Analyse des Falles hält sich Motoc dann nicht mehr auf, sondern schreibt lediglich:
In our opinion, it is clear that even by the lower criteria of personal integrity, the applicant’s right of reputation was not respected. In an era when the shift of medical records from paper to electronic formats has increased the potential for individuals to access, use, and disclose sensitive personal health data, it is important that the Court establish safeguards regarding the right to privacy. In this particular case it is clear to us that there was a disproportionate interference with the applicant’s right to privacy and, therefore, a violation of Article 8.
Auch hier, ähnlich wie im zustimmenden Separatvotum von Zupančič ("undeniably clear"), fragt man sich allerdings, woraus sich denn diese Gewissheit konkret argumentativ ableitet: denn allein - hier gleich zweimal - "it is clear" zu sagen, macht es für den Leser nicht notwendigerweise wirklich klar.

Fazit
Ich gehe davon aus, dass die Beschwerdeführerin versuchen wird, den Fall an die Große Kammer heranzutragen; ob das angenommen wird, lässt sich natürlich nicht sagen. Die abweichende Meinung der Richter Wojtyczek und Kūris ist zweifellos mit Blick auf eine mögliche Befassung der Großen Kammer geschrieben und arbeitet sich dementsprechend intensiv an der bemerkenswert knappen und an der Oberfläche bleibenden Mehrheitsmeinung ab; ihre Kritik nicht nur an Methodik und Auslegung, sondern auch an der etwas schlampigen Falldarstellung im Mehrheitsvotum ist schwer von der Hand zu weisen.

Man kann den Fall aber letztlich unter zwei Gesichtspunkten sehen: entweder - im Sinne der Mehrheitsentscheidung - als einen typischen Fall, in dem der EGMR gerade nicht (was ihm ja vielfach vorgeworfen wird) die konkrete Abwägung anstelle der nationalen Gerichte treffen wollte, sondern sich darauf zurückzog, dass die österreichischen Obergerichte eine formal schlüssige Abwägung im Wesentlichen unter Verwendung der vom EGMR aufgestellten Kriterien getroffen haben. Der EGMR hätte sich damit gewissermaßen auf eine "Grobprüfung" beschränkt, sodass auch nicht zu sagen ist, ob das in Österreich gefundene Ergebnis tatsächlich "richtig" war (und das gegenteilige Ergebnis, zu dem die erstinstanzlichen Gerichte gekommen waren, nicht genauso gut vor dem EGMR - unter Artikel 10 EMRK - hätte "halten" können).

Oder aber man sieht diesen Fall eher grundsätzlich, im Hinblick auf das Konzept des "responsible journalism", das auch nach den Auswirkungen der journalistischen Tätigkeit fragt, und vielleicht auch nach den Motiven, die hinter derartigen "leaks" stecken. Damit ist eben auch - wie dies die Minderheitsmeinung anreißt - eine Art "Recht auf Vergessenwerden" angesprochen, zu dem im weiteren Sinne auch zählen kann, dass veraltete medizinische Befunde nicht anlasslos zur Stigmatisierung einer öffentlich tätigen Person veröffentlicht werden dürfen - jedenfalls dann nicht, wenn die Bedeutung für die aktuell ausgeübte Funktion nicht sorgfältig (und damit wohl: sorgfältiger als im vorliegenden Fall) geprüft wurde.

PS (19.06.2016): siehe nun auch den Beitrag von Stijn Smet auf Strasbourg Observers,