Zugang zu Dokumenten nach Unionsrecht
Seit dem Vertrag von Amsterdam ist das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane primärrechtlich gesichert: zunächst in Art 255 EG-Vertrag, nun in Art 15 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Sekundärrechtlich ist der Zugang zu Dokumenten der Europäischen Zentralbank durch ihren Beschluss vom 4.3.2004 (2004/258/EG) geregelt. Dieser Beschluss folgt im Wesentlichen der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, zu der auch schon umfassende Rechtsprechung der Unionsgerichte vorliegt (siehe zB EuGH 01.07.2008, C-39/05 und C-52/05 P, Schweden und Turco gegen den Rat der Europäischen Union; dazu im Blog hier).
Seit dem Wirksamwerden der Grundrechte-Charta (GRC) ist das Recht auf Dokumentenzugang zudem auch ein Unionsgrundrecht: Art 42 GRC ("Recht auf Zugang zu Dokumenten") lautet:
Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger sowie jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder satzungsmäßigem Sitz in einem Mitgliedstaat haben das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, unabhängig von der Form der für diese Dokumente verwendeten Träger.*)Im konkreten Fall stützte sich die EZB für die Verweigerung des Dokumentenzugangs im Wesentlichen auf den Ausnahmegrund des Art 4 Abs 1 lit a (zweiter Spiegelstrich) des Beschlusses vom 4.3.2004. Nach dieser Bestimmung verweigert die EZB den Zugang zu einem Dokument dann, wenn durch dessen Verbreitung die Finanz-, Währungs- oder Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft oder eines Mitgliedstaats gefährdet würde. Das EuG kommt in seinem Urteil zum Ergebnis, dass die Verweigerung unter Berufung auf diesen Ausnahmegrund berechtigt war. Ich will das hier nicht im Einzelnen kommentieren; interessant daran finde ich, dass das Gericht keine besonders hohe Meinung von den Teilnehmern an den Finanzmärkten haben dürfte: es geht nämlich davon aus, dass die die zum Zeitpunkt des Zugangsersuchen längst überholten Daten im EZB-Dokument von den Finanzmarkt-Teilnehmern nicht unbedingt als überholt erkannt würden (siehe näher in RNr 56 und 57 des Urteils).
Informationszugang nach Art 10 EMRK / Art 11 GRC?
Aus meiner Sicht interessant ist das Urteil des EuG weniger wegen der Entscheidung zu den konkreten Dokumenten als wegen der Aussagen zu Art 10 EMRK bzw Art 11 GRC. Die Journalistin hatte vorgebracht, dass die Verweigerung des Informationszugangs auch ihre Rechte nach Art 10 EMRK (verstanden als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts im Sinne des Art 6 Abs 3 EUV) verletze. Das brachte ihr zwar auch keinen Erfolg, aber das EuG hatte sich daher mit der Tragweite des Art 10 EMRK - und des "parallelen" Unionsgrundrechts in Art 11 GRC - näher zu befassen.
Das EuG legt zunächst einmal den Kerninhalt des Art 10 EMRK dar (RNr 68) und verweist darauf, dass nach Art 52 Abs 3 GRC die Charta-Rechte, soweit sie den EMRK-Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird (RNr 69). Nach den Erläuterungen zur GRC, die nach Art 52 Abs 7 GRC als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden und von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen sind, entspricht Art 11 GRC (wohl nur dessen Abs 1!) Art 10 EMRK (RNr 70-71).
In Verbindung mit Art 52 Abs 1 und 2 GRC sei - so das EuG in RNr 72 des Urteils - klar, dass Art 11 GRC Rechte enthalte, die den durch Art 10 EMRK garantierten Rechten entsprechen; diese Rechte müssten daher die selbe Bedeutung und den selben Umfang haben wie Art 10 EMRK in der Auslegung durch den EGMR (das EuG verweist dazu auf Rechtsprechung des EuGH, in der das für Art 7 GRC im Verhältnis zu Art 8 Abs 1 EMRK ausgesprochen wurde: EuGH 5.10.2010, C-400/10 PPU, McB, Abs 53, und EuGH 15.11.2011, C-256/11 Dereci, Abs. 70; für Art 10 EMRK/Art 11 GRC ist dies meines Wissens die - allerdings nicht überraschende - erste solche Aussage eines Unionsgerichts).
Das EuG verweist dann darauf, dass die GRC im Hinblick auf den Zugang zu Dokumenten ein eigenes Grundrecht (Art 42 GRC) vorsehe. Eine Verletzung dieses Grundrechts habe die Journalistin aber gar nicht behauptet, sondern nur eine Verletzung des Art 10 EMRK und Art 11 GRC, ohne allerdings zu erklären, weshalb das Verhalten der EZB eine Verletzung des Art 10 EMRK bzw des Art 11 GRC darstellen solle (RNr 73).
Da sich die Journalistin ausdrücklich auf die EGMR-Urteile Társaság a Szabadságjogokért gegen Ungarn (dazu im Blog hier), Kenedi gegen Ungarn und Gillberg gegen Schweden (im Blog dazu hier) bezogen hatte, verglich das EuG den vorliegenden Fall mit diesen Urteilen und kam dabei zum Ergebnis, dass die EZB den Umfang des Rechtes auf Dokumentenzugang auch im Lichte der Art 11 und 52 GRC und des Art 10 EMRK nicht falsch beurteilt hatte. Im Einzelnen hielt das EuG zu den EGMR-Urteilen Folgendes fest:
76 In Kenedi v. Hungary [...] the European Court of Human Rights found that there had been an infringement of Article 10 of the ECHR on the ground that the measure in question in that case was not prescribed by law (see paragraph 45 of that judgment). In the present case, the refusal to grant access to the documents at issue was based on the second indent of Article 4(1)(a) of Decision 2004/258. [...] That refusal sought to achieve the legitimate aim of protecting the public interest so far as concerns the economic policy of the Union and the Hellenic Republic.
77 Moreover, although it is true that, in Gillberg v. Sweden, [...] the European Court of Human Rights found that the applicant in that case did not, under Article 10 of the ECHR, have a negative right to refuse to make available the documents concerned (paragraph 94 of that judgment), that case can be distinguished from the present one. Whilst the documents concerned in Gillberg v. Sweden [...] were not the property of the person who refused to grant access to them (paragraphs 92 and 93 of that judgment), in the present case, the documents at issue requested by the applicants were the property of the ECB. Moreover, unlike in Gillberg v. Sweden (paragraph 93 of that judgment), the ECB’s refusal to grant access to those documents was not contrary to a court decision ordering the ECB to grant access to them.
78 As regards Társaság a Szabadságjogokért v. Hungary, [...] it is true that that judgment deals with the need to limit the right of access to information. However, the facts in that case are not similar to those of the present case, and that judgment cannot therefore be usefully relied upon in the present case. Társaság a Szabadságjogokért v. Hungary [...] concerned the refusal to communicate information relating to a constitutional complaint brought by a public figure on the ground of the personality rights of the latter. In that complaint, it was alleged that the opinions of public figures on public matters are related to their person and therefore constitute private data which cannot be disclosed without their consent (see paragraph 37 of that judgment). By contrast, this case does not concern alleged private data of a public figure.
79 Moreover, the Court notes that the contested decision does not contain a general prohibition on receiving ECB information relating to the government deficit and the government debt of the Hellenic Republic. In this respect, it should also be observed that, in applying the exceptions to the right of access provided for in Article 4 of Decision 2004/258, the ECB did not limit that right solely to documents falling within the exercise of its administrative tasks, as referred to in the fourth subparagraph of Article 15(3) TFEU (see paragraph 39 above).
[...]
81 In those circumstances, the applicants’ arguments relating to the judgments in Társaság a Szabadságjogokért v. Hungary [...], Kenedi v. Hungary [...], and Gillberg v. Sweden [...] must be rejected.
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*) Dieses Recht ist nicht unbeschränkt - wie bei allen anderen Rechten nach der GRC gilt, dass (nach Art 52 Abs 1 GRC) jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
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