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Friday, April 29, 2011

Zweimal geht's noch? Günter Struve wird "Gutachten" zur "Überprüfung" des ORF-Qualitätssicherungssystems 2010 und 2011 erstellen

Wer einen Gutachter als "Gutachter" bezeichnet, begeht fast eine Beleidigung: die Anführungsstriche zeigen eine Distanzierung von der eigentlichen Wortbedeutung, genausogut könnte man vom sogenannten Gutachter sprechen. Ähliches gilt, wenn ein Qualitätssicherungssystem nicht einfach überprüft, oder - im Amtsdeutschen - einer Überprüfung unterzogen, sondern "überprüft" bzw einer "Überprüfung" unterzogen wird.

Wenn ich im Titel dieses Blogposts in diesem Sinn ein wenig großzügig mit den Anführungszeichen war, dann soll das keine persönliche Kritik an Günter Struve sein, der auch für 2010 und 2011 wieder Sachverständiger für das ORF-Qualitätssicherungssystem sein soll; vielmehr greife ich einfach auf, was in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage der letzten ORF-Gesetz-Novelle dazu geschrieben wurde. Wie im Blog schon berichtet, wurden mit dieser Novelle neue Bestimmungen über die Qualitässsicherung eingeführt, insbesondere heißt es in § 4a ORF-G unter anderem:
Zur Beurteilung der Gesamtleistungen des Qualitätssicherungssystems auf Basis des vorgelegten Jahresberichts, insbesondere ob den Qualitätskriterien in den wesentlichen Belangen entsprochen wurde, ist ein vom Generaldirektor mit Zustimmung des Stiftungsrates beauftragter Sachverständiger heranzuziehen. Der Sachverständige hat eine außerhalb des Unternehmens stehende Person zu sein, muss über die entsprechende berufliche Qualifikation und Erfahrung verfügen und ist in Ausübung der Funktion an keine Weisungen und Aufträge gebunden.
In den Erläuterungen steht (unter anderem):
Zusätzlich sollen Eignung und Leistungen des Qualitätssicherungssystems auch einer externen „Überprüfung“ durch einen unabhängigen Gutachter unterzogen werden. (Seite 6)
Abs. 7 normiert im Sinne der Transparenz des Entscheidungsprozesses die Veröffentlichung der Grundlagen des Qualitätssicherungssystems und sämtlicher dazu ergangenen begründeten Entscheidungen der Organe des ORF aber auch der externen „Gutachten“. (Seite 30)
Allzu viel Vertrauen scheint da von den Autoren der Regierungsvorlage (wir Juristen sehen die Erläuterungen, wenn es zu einem gleichlautenden Gesetzesbeschluss kommt, gern als Willen des Gesetzgebers!) nicht in die "Überprüfung" und die "Gutachten" gelegt worden zu sein. Ob sie dabei vielleicht an den schon für 2008 und 2009 bestellten Sachverständigen (oder: "Sachverständigen"?) gedacht haben?

Meine einschlägigen Beiträge kann man jedenfalls im Blog hier, hier, hier, hier und hier nachlesen, vielleicht sollte ich aber nochmals wiederholen, was mich schon länger interessiert: Was hat Günter Struve bis jetzt konkret für den ORF gemacht? Was hat das gekostet? Wo kann man das Ergebnis nachlesen?

Zumindest für den Zeitraum ab dem 1. Oktober 2010 ist nach § 4 Abs 7 ORF-G immerhin das "Qualitätssicherungssystem sowie die dazu erstellten Studien und Teilnehmerbefragungen und die diesbezüglichen Beschlüsse des Stiftungsrates und des Publikumsrates [...] auf der Website des Österreichischen Rundfunks leicht, unmittelbar und ständig zugänglich zu machen, soweit dies rechtlich möglich ist und damit nicht berechtigte Unternehmensinteressen des Österreichischen Rundfunks beeinträchtigt werden."

Damit wäre freilich nicht ausgeschlossen, auch die "Gutachten" zu den Jahren 2008 und 2009 zu veröffentlichen. Auf der Website des ORF habe ich bislang aber weder eine freiwillige Veröffentlichung der alten "Gutachten" noch die seit 1. Oktober des Vorjahres vorgeschriebene Veröffentlichung des Qualitätssicherungssystems gefunden - dabei wird wohl nicht schon das System an sich die "berechtigten Unternehmensinteressen" des ORF beeinträchtigen können. Gespannt bin ich jedenfalls, ob die Beschreibung des aktuellen Systems mehr als die berühmten 3 Seiten umfasst, für die im Jahr 2002 immerhin Bonifikationen von rund  € 63.600 ausgezahlt wurden.

PS: ein älteres Post mit ORF-Bezug habe ich aus aktuellem Anlass mit kleinem update versehen: Die Welt ist ein D-ORF, oder: Erinnerungen an Meischberger

Update (04.04.2012): Durch Zufall habe ich in den Untiefen der ORF-Website nun das "Gutachten" von Günter Struve zum Qualitätssicherungssystem 2009 gefunden; zu 2010 ist noch immer nichts zu finden; für 2011 wird das Gutachten bsi Ende Juni 2012 vorgelegt (und dann veröffentlicht) werden. Das "Qualitätssicherungssystem" selbst ist hier zu finden.

Thursday, April 21, 2011

Schweizer Bundesgericht: Mobilterminierungsentgelte der Swisscom kein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung

Rund 333 Mio Schweizer Franken betrug die im Jahr 2007 von der Schweizer Wettbewerbskommission über die Swisscom verhängte Buße nach dem Schweizer Kartellgesetz wegen Erzwingung unangemessener Terminierungsgebühren von anderen Fernmeldediensteanbietern. Die Swisscom wehrte sich vor Gericht und hatte schon vor dem Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Buße Erfolg (siehe dazu im Blog hier, am Ende); mit dem gestern verkündeten Urteil des Schweizer Bundesgerichts ist nun der Sieg der Swisscom im gerichtlichen Verfahren komplett (Urteil, Pressemitteilung des Gerichts, Reaktion der Swisscom, Reaktion der Wettbewerbskommission). Das Bundesgericht kam nämlich zum Ergebnis, dass der Swisscom schon deshalb nicht der Vorwruf des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung zu machen war, weil sich die Nachfrager nach den Terminierungsleistungen in Anwendung fernmelderchtlicher Bestimmungen an die Kommunikationskommission zur behördlichen Festsetzung der Terminierungsbedingungen hätten wenden können; wörtlich heißt es weiter (Hervorhebung hinzugefügt):
"Diese Rahmenordnung schliesst die einseitige Erzwingung der Geschäftsbedingungen der Marktgegenseite aus, weil dadurch eine Ausweichmöglichkeit geschaffen wird. Zwar hätte das Interkonnektionsverfahren für das betroffene Unternehmen zweifellos einen gewissen Aufwand mit sich gebracht. Sowohl bei Orange als auch bei Sunrise handelt es sich aber um Unternehmungen, die einen solchen Aufwand ohne weiteres hätten leisten können. Das zeigt nicht zuletzt das spätere Interkonnektionsverfahren für die Mobilterminierungspreise zwischen denselben Konkurrentinnen, das im Januar 2007 mit einer Vereinbarung endete. Im Übrigen bietet das Interkonnektionsverfahren selbst in komplexeren Fällen die Möglichkeit entsprechender prozessualer Massnahmen wie insbesondere einstweiligen Rechtsschutz (vgl. Art. 11 Abs. 3 aFMG) oder rückwirkende Anordnung der korrigierten Preise inklusive Verzinsung derselben. Dass ein Interkonnektionsverfahren im vorliegenden Zusammenhang wirkungslos gewesen wäre, wie das Volkswirtschaftsdepartement behauptet, ist weder erhärtet noch ersichtlich und würde im Übrigen die fernmelderechtliche Gesetzesordnung mehr als in Frage stellen, wofür es keine zwingenden Anhaltspunkte gibt."
Dass die kartell- und die fernmelderechtlichen Bestimmungen und Verfahren nebeneinander zur Anwendung gelangen, war auch vor dem Bundesgericht nicht strittig; das Gericht hilet auch fest, dass das Zusammenschaltungsregime "lediglich eine besondere sektorielle Regelung [darstellt], die zur übrigen preis- und wettbewerbsrechtlichen Ordnung hinzutritt und diese nicht ausschliesst". Allerdings betont das Gericht auch, dass das hier anwendbare Schweizer Kartellgesetz gerade nicht vollständig mit EU-Wettbewerbsrecht harmonisiert ist.

Veranstaltungshinweise: Redaktionsgeheimnis (und anderes)

5. Mai 2011: Das Forschungsinstitut für das Recht der elektronischen Massenmedien (REM)* veranstaltet - neben dem traditionell im September stattfindenden Österreichischen Rundfunkforum - auch jedes Jahr einen Workshop zu eher rechtspolitisch aktuellen Themen. Im Workshop am 5. Mai 2011 ab 14.30 Uhr (nähere Information hier) wird es um das Redaktionsgeheimnis gehen; Statements dazu kommen vom Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs, Hon.-Prof. Dr. Eckart Ratz (er war auch Vorsitzender des Senats, der in der "Am Schauplatz-Causa" entschieden hat), von Dr. Franz Zeller (Schweizerisches Bundesamt für Kommunikation, Lektor an der Uni Bern und Kommentator der einschlägigen Schweizer Rechtsvorschriften) und von mir (der ich in diesem Blog auch gelegentlich dazu geschrieben habe).

5. Mai 2011: Am selben Tag, aber zeitlich nicht kollidierend (weil von 9.30 bis 13.30 Uhr) findet in Wien auch der "Tag des Qualitätsjournalismus" statt (mehr dazu hier), mit einer Keynote von Michael Moss (NYT) und Diskussionen (moderiert von Andreas Koller und Armin Wolf), unter anderem mit Stephan Russ-Mohl, Reinhard Christl, Eva Dichand, Frido Hütter und Armin Thurnher.

5. Mai 2011: und damit der Tag wirklich voll wird, gibt es ab 18.30 Uhr dann auch noch auf der WU Wien vom Rechtsforum Infolaw ein Veranstaltung zur urheberrechtlichen Verantwortung von Access-Providern.

11. und 18. Mai 2011: Spannend (aber terminlich mit meinem Beruf leider nicht vereinbar) sind sicher auch die weiteren Vorlesungen von Heribert Prantl im Rahmen der Theodor-Herzl-Dozentur für Poetik des Journalismus an der Uni Wien, am Mittwoch, 11. Mai 2011 ("Die Leitartikler und Kommentatoren als verkappte Politiker: Wozu und zu welchem Ende gibt es Meinungsjournalismus?") und insbesondere am Mittwoch, 18. Mai 2011 ("Pressefreiheit: Ein Grundrecht zur bequemeren Berufsausübung?"), jeweils von 10-12 Uhr (nähere Informationen hier)

26. und 27. Mai 2011: 5. Österreichischer IT-Rechtstag, nähere Informationen hier

27. Mai 2011: Am Freitag, 27. Mai 2011, um 15.30 Uhr gibt es an der Wirtschaftsuniversität Wien schließlich die IT-Talks 2011, diesmal unter dem Titel "Vom Mythos Internet und dem Ende der klassischen Medien – Wie die Ökonomie der Aufmerksamkeit uns überrollt und die Medien der Demokratie in Frage stellt"; es sprechen Rop Gonggrijp, Franz Manola (ORF) - er meint, dass "das Internet einer Desillusion unterliegt" -, Georg Franck und Joachim Riedl (nähere Informationen hier).

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*) disclosure: ich bin Mitglied im Vorstand dieses Vereins

Wednesday, April 20, 2011

Wie die Telekom Austria (unabsichtlich) die Regierungsumbildung angestoßen hat (laut profil)

Auf den ersten Blick gibt es bei der aktuellen Regierungsumbildung keinen besonderen Bezug zu den Hauptthemen dieses Blogs, zumal sich an der Verantwortung für Telekom- und Rundfunkagenden in der Regierung nichts ändert. Interessant fand ich aber den Artikel zum Rücktritt von Vizekanzler Pröll im letzten profil, in dem die Vorgeschichte der Akuterkrankung des Vizekanzlers, die ihn schließlich zum Rücktritt bewogen hat, so geschildert wird (Hervorhebung von mir):
"Pröll war innerhalb von drei Tagen nach Peking und zurück nach Wien gejettet, hatte Wäsche gewechselt, um nach Brüssel zu fliegen, und war von Belgien am 16. März ins Tiroler Hochzillertal gereist. Dort hatte die Telekom Austria zu einem Hüttenzauber geladen. Im hochalpinen Nobelquartier auf 2100 Meter Seehöhe fanden sich neben Josef Pröll, Außenminister Michael Spindelegger und Landwirtschaftsminister Nikolaus Berlakovich Wirtschaftsgrößen wie [...] ein. Am Morgen nach einem ausgelassenen Hüttenabend habe man Josef Pröll sehr mitgenommen angetroffen: Der 42-jährige Vizekanzler litt an schwerer Atemnot und Schmerzen in der Brust. Im Rettungshubschrauber sagte ihm der Arzt: 'Sie stehen an der Kippe.'"
Ohne diese Telekom-Einladung zum Hüttenzauber (Jagdeinladungen der Telekom, etwa ins schottische Hochland, gibt es ja seit etwa einem Jahr nicht mehr) gäbe es also morgen wohl keine Angelobung neuer Regierungsmitglieder und Staatssekretäre.*

Allerdings: das Anreisedatum des Vizekanzlers scheint - wie auch die Seehöhe der Hütte - umstritten; in einem format-Artikel heißt es:
"18. März 2011, 11.30 Uhr, Kristallhütte im Hochzillertal auf 2.500 Meter Seehöhe. Josef Pröll trifft sich mit einer hochkarätigen, 15-köpfigen Managerrunde zum Skifahren. Mit dabei: Casinos-Boss Karl Stoss, Telekom-Chef Hannes Ametsreiter, die Minister Niki Berlakovich, Michael Spindelegger und Prölls rechte Hand Daniel Kapp. Der Vizekanzler war am Vorabend spätabends im luxuriösen Alpendomizil eingetroffen. Es hätte der erholsame Ausklang einer anstrengenden Woche sein sollen.
Vor den Augen von Mitarbeiter Kapp bricht Pröll dann am Morgen um 11.30 Uhr nach wenigen Schwüngen auf der Piste zusammen."
*) Zur Politik äußere ich mich nicht - aber weil in den Medien vielfach vom "jüngsten Regierungsmitglied aller Zeiten" zu lesen und zu hören war hier ein kleiner rechtlicher Hinweis: ein Staatssekretär ist nach dem österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz kein Mitglied der Bundesregierung! Die Bundesregierung besteht nach Art 69 Abs 1 B-VG aus dem Bundeskanzler, dem Vizekanzler und den übrigen Bundesministern, nach Art 78 Abs 2 B-VG können den Bundesministern "zur Unterstützung in der Geschäftsführung und zur parlamentarischen Vertretung Staatssekretäre beigegeben werden, die in gleicher Weise wie die Bundesminister bestellt werden und aus dem Amt scheiden." Nach Art 78 Abs 3 B-VG kann der Bundesminister "den Staatssekretär mit dessen Zustimmung auch mit der Besorgung bestimmter Aufgaben betrauen. Der Staatssekretär ist dem Bundesminister auch bei Erfüllung dieser Aufgaben unterstellt und an seine Weisungen gebunden."

Thursday, April 14, 2011

EuGH-Generalanwalt: Internetsperren unzulässiger Eingriff in Informationsfreiheit

In der beim EuGH anhängigen Rechtssache C-70/10 Scarlet Extended hat Generalanwalt Cruz Villalón heute die Schlussanträge erstattet (siehe auch die Presseaussendung; die Schlussanträge sind derzeit nur in französischer Sprache zugänglich). Hintergrund der Vorlagefragen des Brüsseler Appellationsgerichtshof ist ein Rechtsstreit zwischen der belgischen Urheberrechtsgesellschaft SABAM. Dabei wurde festgestellt, dass durch Kunden von Scarlet Extended Urheberrechtsverletzungen begangen worden waren; in der Folge wurde der ISP dazu verurteilt, unter Androhung eines Zwangsgelds innerhalb einer Frist von sechs Monaten diese Urheberrechtsverletzungen abzustellen, indem er es seinen Kunden unmöglich macht, in irgendeiner Form u. a. mit Hilfe eines Peer-to-Peer-Programms Dateien zu senden oder zu empfangen, die ein Musikwerk aus dem Repertoire von Sabam enthalten. Das Berufungsgericht legte (u.a.) folgende Vorlagefrage vor:
"Können die Mitgliedstaaten aufgrund der RL 2001/29 und 2004/48 in Verbindung mit den RL 95/46, 2000/31 und 2002/58, ausgelegt im Lichte der Art. 8 und 10 der EMRK, dem nationalen Richter erlauben, in einem Verfahren zur Hauptsache allein aufgrund der Vorschrift: 'Sie [die nationalen Gerichte] können ebenfalls eine Unterlassungsanordnung gegen Vermittler erlassen, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung eines Urheberrechts oder verwandter Rechte genutzt werden' gegen einen Anbieter von Internetzugangsdiensten die Anordnung zu erlassen, auf eigene Kosten ohne zeitliche Beschränkung für sämtliche Kunden generell und präventiv ein Filtersystem für alle eingehenden und ausgehenden elektronischen Nachrichten, die mittels seiner Dienste insbesondere unter Verwendung von Peer-to-Peer-Programmen durchgeleitet werden, einzurichten, um in seinem Netz den Austausch von Dateien zu identifizieren, die ein Werk der Musik, ein Filmwerk oder audiovisuelles Werk enthalten, an denen der Kläger Rechte zu haben behauptet, und dann die Übertragung dieser Werke entweder auf der Ebene des Abrufs oder bei der Übermittlung zu sperren?"
Generalanwalt Cruz Villalón, der sich vor kurzem auch in seinen Schlussanträgen in der (Asyl-)Sache Samba Diouf eingehend mit Rechtsschutzfragen im Lichte der Grundrechtecharta (und der EMRK) auseinandergesetzt hat, legt dar, dass die Anordnung die Form einer allgemeinen Verpflichtung hat, die im Lauf der Zeit dauerhaft auf alle Anbieter von Internetzugangsdiensten erstreckt werden kann, und die dauerhaft eine unbestimmte Zahl von juristischen und natürlichen Personen betrifft, ohne ihr vertragliches Verhältnis zum ISP oder ihren Wohnsitzstaat zu berücksichtigen. Die Maßnahme würde außerdem allgemein und präventiv angewandt, d. h. ohne vorherige Feststellung einer tatsächlichen Verletzung oder der Gefahr einer unmittelbaren Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums. Durch die Maßnahme wird dem ISP eine Erfolgsverpflichtung in Bezug auf den Schutz der von Sabam vertretenen Urheberrechte auferlegt. Da dem ISP auch die Kosten der Einrichtung des Filter- und Sperrsystems auferlegt werden, wird so die rechtliche und wirtschaftliche Verantwortlichkeit für den Kampf gegen das illegale Herunterladen von raubkopierten Werken im Internet mit Hilfe des einzurichtenden Systems weitgehend auf die Anbieter von Internetzugangsdiensten übertragen.

Generalanwalt Cruz Villalón sieht darin sowohl eine Einschränkung des Rechts auf Beachtung des Kommunikationsgeheimnisses und des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, als auch der Informationsfreiheit, die jeweils durch die Grundrechtecharta geschützt werden. Eine Beschränkung der Ausübung der in der Grundrechtecharta garantierten Rechte und Freiheiten muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, die zugänglich, klar und vorhersehbar ist. Das sei jedenfalls im Ausgangsfall nicht gegeben. Die Verpflichtung ist "nämlich zum einen sehr ungewöhnlich und zum anderen 'neu' und sogar unerwartet." [RNr. 105: "Ainsi que nous l’avons vu ci-dessus, dans la perspective de Scarlet et des FAI, l’obligation de mettre en place, à leurs seuls frais, un système de filtrage et de blocage tel que celui en cause est si caractérisée voire singulière, d’une part, et «nouvelle» voire inattendue, d’autre part, qu’elle ne saurait être admise qu’à la condition d’être prévue de façon expresse, préalable, claire et précise, dans une «loi» au sens de la charte."*] Außerdem sind weder das Filtersystem, das systematisch und umfassend, dauerhaft und beständig gelten soll, noch der Sperrmechanismus, der einsetzen kann, ohne dass die Möglichkeit vorgesehen ist, dass die betroffenen Personen dies anfechten oder sich dem widersetzen, mit hinreichenden Garantien ausgestattet.

Bemerkenswert sind aus meiner Sicht insbesondere die Ausführungen zur Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit nach Art 11 der Grundrechtecharta (RNr. 84 bis 86). Cruz Villalón betont unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR (Mouvement Raelien Suisse [Update 13.7.2011: die Angelegenheit wurde mittlerweile an die Große Kammer verwiesen], Akdas, Willem), dass Art 11 "evidemment" auf das Internet anwendbar ist und Internetseiten wegen ihrer Zugänglichkeit und ihrer Fähigkeit, Informationen in großem Umfang zu bewahren und zu verteilen, in großem Ausmaß den Zugang der Öffentlichkeit zu Nachrichten verbessern und ganz allgemein Kommunikation und Information erleichtern können (Hinweis auf EGMR, Times Newspapers 1 und 2). Wie auch immer das Filter- und Sperrsystem ausgestaltet sein mag, es könne jedenfalls wenig Zweifel daran geben, dass es einen Eingriff in die Informationsfreiheit darstellt. So weit man dies beurteilen könne, so der Generalanwalt, scheine kein System von Internetfiltern und Internetsperren in einer den Anforderungen der Art. 11 und 52 Abs 1 der Grundrechtecharta gerecht werdenden Weise garantieren zu können, dass ausschließlich spezifisch unzulässige Inhalte blockiert werden ("Pour autant que l’on puisse en juger, aucun système de filtrage et de blocage ne semble en mesure de garantir, d’une manière qui soit compatible avec les exigences des articles 11 et 52, paragraphe 1, de la charte, le blocage des seuls échanges spécifiquement identifiables comme illicites."**)

PS: Das Thema "kino.to & Co - Die urheberrechtliche Verantwortlichkeit von Access-Providern" kann man übrigens bei einer Veranstaltung des Rechtsforums Infolaw an der Wirtschaftuniversität Wien am 5. Mai 2011 um 18:30 u.a. mit Andreas Manak, Anwalt des "Vereins für Anti-Piraterie der Film- und Videobranche diskutieren.

*)  Update 23.11.2011: in der mittlerweile verfügbaren deutschen Sprachfassung heißt es: "Wie wir gesehen haben, ist aus dem Blickwinkel von Scarlet und der Provider die Verpflichtung, auf eigene Kosten ein Filter- und Sperrsystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende einzurichten, zum einen so eigen-, ja einzigartig, zum anderen 'neu', ja unerwartet, dass sie nur zulässig sein kann, wenn sie im Voraus ausdrücklich, klar und genau in einem 'Gesetz' im Sinne der Charta vorgesehen gewesen ist."
**) deutsch nunmehr: "Soweit ersichtlich, ist offenbar kein Filter- und Sperrsystem imstande, auf eine den Anforderungen von Art. 11 und Art. 52 Abs. 1 der Charta entsprechende Weise zu gewährleisten, dass nur diejenigen Datenaustauschvorgänge gesperrt werden, bei denen konkret festgestellt werden kann, dass sie unzulässig sind."

EGMR: Politiker, der sich in Widersprüche verstrickt, kann als Marktschreier bezeichnet werden

Der vom EGMR mit Urteil vom 12. April 2011 entschiedene Fall Conceição Letria gegen Portugal (Appl. no. 4049/08) nimmt seinen Ausgang bei einem tragischen Ereignis: Beim Einsturz einer Brücke bei Castelo de Paiva in Portugal kommen am 6. März 2001 59 Menschen ums Leben. Bei der Erforschung der Ursachen für den Einsturz prüft eine parlamentarische Kommission auch die - möglicherweise illegale - Sandgewinnung durch mehrere Gesellschaften in der Nähe der Brücke. Befragt zu Genehmigungen für diese Sandgewinnung gibt der Präfekt der Region und frühere Bürgermeister von Castelo de Paiva an, sich nicht an solche erinnern zu können. In der Folge werden ihm von einigen Abgeordneten jedoch von ihm unterschriebene Dokumente vorgehalten, die - wie es der EGMR vorsichtig ausdrückt - widerprüchlich zu den Aussagen vor der Untersuchungskommission erscheinen könnten.

Der bekannte Journalist Joaquim Letria veröffentlicht daraufhin in der Tageszeitung 24 Horas einen Artikel mit der Überschrift "Risiko und aldrabão"; das Wort aldrabão hat laut EGMR keine Entsprechung im Französischen (der Urteilssprache), es bezeichnet aber jemanden, der lügt oder Dinge erfindet, um seinen Gesprächspartner zu täuschen, und kann am ehesten als "bonimenteur" (Marktschreier) übersetzt werden. Im Artikel wird der Präfekt ausdrücklich als aldrabão bezeichnet; am Ende des Artikels heißt es (grob übersetezt): "Wie leicht ist es in diesem Land, das Parlament anzulügen, mit welcher Dreistigkeit kann man das Land täuschen."

Der so angegriffene Präfekt stellte Strafantrag und der Journalist wurde wegen schwerer Verleumdung zu einer Geldstrafe von 310 Tagessätzen (4.650 €) sowie zum Schadenersatz (6.500 €) verurteilt.

Vor dem - vom verurteilten Journalisten angerufenen - EGMR war nicht strittig, dass ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung vorlag, dass dieser Eingriff eine gesetzliche Grundlage hatte und ein legitimes Ziel - den Schutz des guten Rufs anderer - verfolgte. Unter Hinweis insbesondere auf das Grundsatzurteil Oberschlick gegen Österreich (Nr. 2), dem der vorliegende Fall ähnlich sei, hält der EGMR wiederum fest, dass die Grenzen zulässiger Kritik an einem Politiker in dessen öffentlicher Funktion weiter sind als bei einer Privatperson. Der Begriff aldrabão ist, so der EGMR, als Werturteil zu beurteilen, das auf Zeitungsberichten beruhte, in denen Widersprüche in den Aussagen des Präfekten aufgezeigt worden waren. Auch wenn die Kritik schwerwiegend war, musste sie der Präfekt im Interesse einer Debatte von Fragen des öffentlichen Interesses hinnehmen. Schließlich sei auch die verhängte Strafe unangemessen. Der EGMR stellte daher einstimmig eine Verletzung des Art 10 EMRK durch Portugal fest.

Und so lernt man bei der Lektüre von EGMR-Urteilen immer wieder neue Wörter kennen, durch die sich irgendwo in Europa jemand beleidigt fühlt: Nicht-Deutschsprachige erfuhren im zitierten Fall Oberschlick Nr. 2 ("Ich werde Jörg Haider erstens keinen Nazi nennen, sondern zweitens einen Trottel"), dass das österreichische "Trottel" als (englisch) "idiot" oder (französisch) "imbecile" zu übersetzen und manchmal von Politikern hinzunehmen ist, im Fall Katrami habe ich das schöne griechische Wort "karagiozis" kennen gelernt, und nun weiß ich auch, was man zu portugiesischen Politikern jedenfalls nur dann sagen sollte, wenn man ihnen gewisse Widersprüche vorhalten kann: aldrabão.

Saturday, April 09, 2011

Vermischte Lesehinweise (29): Vorratsdaten, Netzneutralität und vieles mehr

Vorratsdatenspeicherung und Datenschutz:
Netzneutralität
Breitband:
Sonstiges - Telekom
Medien
Grundrechte, insbesondere Informationsfreiheit

Thursday, April 07, 2011

Zweiter Anlauf zum EuGH: Ist Eigenwerbung Werbung im Sinne der FernsehRL?

Die "Einblendung eines nicht zum Film gehörenden Tanzpärchens mit einem Programmhinweis auf 'Dancing Stars' in dem Spielfilm 'Der Teufel trägt Prada' am 1.3.2009 um 20.15 Uhr in ORF 1" wird den EuGH beschäftigen: der Bundeskommunikationssenat hat nämlich am 31.03.2011 beschlossen, eine damit zusammenhängende Frage zur Auslegung der FernsehRL dem EuGH vorzulegen (update: beim EuGH als Rechtssache C-162/11 Publikumsrat des Österreichischen Rundfunks gegen Österreichischer Rundfunk). Konkret lautet die Frage:
"Sind die Art. 1 lit. c, 10, 11 und 18 Abs. 3 der [RL 89/552/EWG idF der RL 97/36/EG] so auszulegen, dass Hinweise jeder Art eines Fernsehveranstalters in seinen Programmen und Sendungen auf eigene (frei empfangbare) Programme und Sendungen unter den Begriff der 'Fernsehwerbung' (Art. 1 lit. c) fallen und auch für derartige Hinweise folglich ua. die Bestimmungen über die Trennung und Erkennbarkeit in Art. 10 und das Einfügen der Werbung in Art. 11 zur Anwendung gelangen?"
Eine vergleichbare Frage hatte schon der italienische Staatsrat im Verfahren C-390/09 R.T.I. - Reti Televisive Italiane s.p.a. / AGCOM dem EuGH vorgelegt - allerdings wurde diese Rechtssache mit Beschluss vom 11.02.2011 aus dem Register gestrichen, da das Ausgangsverfahren gegenstandslos geworden war. Der Bundeskommunikationssenat, der das bei ihm anhängige Verfahren im Hinblick auf das anhängige EuGH-Verfahren unterbrochen hatte, war damit praktisch gezwungen, selbst einen Vorlagebeschluss zu fassen. Der Vorlagebeschluss selbst ist nicht veröffentlicht, wohl aber der am selben Tag getroffene Beschluss, das beim BKS anhängige Verfahren (neuerlich) auszusetzen.

Immerhin wird die Marke "Prada" damit wohl auch in einem EuGH-Urteil zu einer Rundfunksache erwähnt werden, nachdem sie ja bereits in einem US Supreme Court-Rundfunkurteil prominent vorkommt (siehe dazu hier und hier). Update 12.09.2011: es wird wohl doch nichts mit einem "Der EuGH trägt Prada"-Urteil, da der Anlassfall beim BKS offenbar gegenstandslos geworden ist (noch hat der EuGH jedoch noich keinen Beschluss zur Streichung der Rechtssache aus dem Register veröffentlicht); Update 22.09.2011: nun ist der Beschluss veröffentlicht, dass die Rechtssache gestrichen wurde, siehe dazu auch hier.

EuGH-Generalwalt Bot: Infomercials, Telepromotions, Sponsoring-Werbespots und Mikro-Werbespots sind - Überraschung! - Werbespots

Eigentlich sollte die Dauer der pro Stunde zulässigen Fernsehwerbung EU-weit harmonisiert sein - wer aber gelegentlich spanische kommerzielle Programme verfolgt, sieht dort oft deutlich mehr Werbung als etwa in österreichischen oder deutschen Programmen. Die Europäische Kommission hat daher eine Vertragsverletzungsklage gegen Spanien eingebracht, weil dieser Mitgliedstaat "offenkundige, wiederholte und schwere Verstöße gegen Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie geduldet" und dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 3 Abs. 2 der Fernsehrichtlinie (in der Fassung der RL 97/36/EG) in Verbindung mit Art. 10 EG verstoßen hat. Heute hat Generalanwalt Bot in diesem Verfahren C-281/09 Kommission / Spanien seine Schlussanträge erstattet.

Nach Art 18 Abs 1 der RL durfte der Anteil an Sendezeit für Teleshopping-Spots, Werbespots und andere Formen der Werbung mit Ausnahme von Teleshopping-Fenstern im Sinne des Artikels 18a 20 v. H. der täglichen Sendezeit nicht überschreiten. Die Sendezeit für Werbespots durfte 15 v. H. der täglichen Sendezeit nicht überschreiten. Nach Art 18 Abs 2 der RL durfte der Anteil an Sendezeit für Werbespots und Teleshopping-Spots innerhalb einer Stunde, gerechnet ab einer vollen Stunde, 20 v. H. nicht überschreiten.

(In der nun geltenden Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, 2010/13/EG, wurde die tägliche Begrenzung fallen gelassen, es gilt nun nur mehr eine einheitliche Begrenzung für den Anteil von Fernsehwerbespots und Teleshopping- Spots an der Sendezeit von maximal 20% innerhalb einer vollen Stunde).

In Spanien wurden "neue Formen der Fernsehwerbung mit der Bezeichnung Infomercials, Telepromotions, Sponsoring-Werbespots und Mikro-Werbespots" zusätzlich zu klassischen Werbespots erlaubt (was darunter im Detail zu verstehen sein könnte, kann man in den RNr 36 bis 40 der Schlussanträge nachlesen). Im Rechtsstreit vor dem EuGH geht es daher, wie der Generalanwalt ausführt, "um das Recht der Fernsehveranstalter, diese neuen Werbeformen zu den Hauptsendezeiten zusätzlich zu den zwölf Minuten zu senden, die in Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie für die Ausstrahlung von Werbespots und Teleshopping-Spots vorgesehen sind."

Nun ist die Definition der Begriffe "Werbespot" und "andere Formen der Werbung" nicht einfach, was Generalanwalt Bot auch ausdrücklich so festhält (RNr 59). Nicht zuletzt im Hinblick auf das Art. 18 Abs. 2 der RL "zugrunde liegende Ziel, die Verbraucher gegen übermäßige Werbung zu den Hauptsendezeiten zu schützen," kommt er schließlich zum Ergebnis, dass letztlich nur Sponsorenhinweise außerhalb der stündlichen Begrenzung gesendet werden können (und diese dürften nach der RL nicht zum Kauf der Erzeugnisse oder zur Inanspruchnahme von Dienstleistungen des Sponsors anregen). Jede andere Auslegung würde es den Fernsehveranstaltern und den Werbetreibenden erlauben, die Begrenzung von 12 Minuten zu umgehen.

Sollte der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwälten folgen, dürfte die spanische Kreativität bei der Erfindung (und Bezeichnung) neuer Werbeformen jedenfalls nicht dazu führen, mehr als 12 Minuten von Werbung, wie immer sie auch hieße, in eine Fernsehstunde zu packen.

Wednesday, April 06, 2011

EGMR: Bestrafung eines türkischen Verlegers wegen kritischer Buchveröffentlichung - Verstoß gegen Art 10 EMRK

Mit Urteil vom 5. April 2011 im Fall Fatih Taş gegen Türkei (Appl. no. 36635/08) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wieder einmal eine Verletzung des Art 10 EMRK durch die Türkei wegen einer Buchveröffentlichung festgestellt (vergleiche zB aus der letzten Zeit die Urteile vom 08.06.2010, Sapan und vom 15.02.2011, Çamyar und Berktaş;
im Blog siehe dazu hier). Wieder einmal spielt die Angelegenheit vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen dem Sicherheitsapparat und der PKK, konkret ging es um ein Buch, das von einem jungen Verleger (und damals Journalismusstudent an der Universität Istanbul) veröffentlicht wurde. Ein unter Pseudonym schreibendes Ex-Mitglied der PKK berichtete darin über seine Anwerbung durch staatliche Agenten und den nachfolgenden Kampf gegen den Terrorismus, wobei Namen und Funktionen von (ex-)PKK-Mitgliedern, Spitzeln, Offizieren und Soldaten genannt wurden, insbesondere auch von X und Y, einem Kommandanten und einem Mitglied einer geheimdienstlichen Einheit. Der Verleger wurde wegen dieser Veröffentlichung, insbesondere der Veröffentlichung der Namen von X und Y, zu einer Geldstrafe von rund 250 € verurteilt. Die Veröffentlichung der Namen würde die betroffenen Personen zur Zielscheibe von Terroristen machen; außerdem wurde das gesamte Buch als Aufruf zur Gewalt beurteilt.

Der EGMR stellte fest, dass die Identität von X schon aufgrund eines anderen Berichts bekannt war; Y war bereits 1993 verstorben. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren die im Buch geäußerten Vorwürfe schon öffentlich bekannt. Schließlich waren die Sprache zwar heftig, aber nicht als Aufruf zu Hass oder Gewalt zu beurteilen. Vor diesem Hintergrund stellte der EGMR daher einstimmig eine Verletzung des Art 10 EMRK fest.

Es wird wohl nicht der letzte solche Fall sein: gerade heute wurde bekannt, dass ein Gericht in Istanbul die Beschlagnahme eines noch unfertigen Werks des Journalisten Ahmet Şık angeordnet hat, das sich kritisch mit dem Einfluss einer islamischen Gruppe innerhalb der Polizei auseinandersetzt (mehr dazu hier und hier).

Der General steht nicht zur Wahl (und andere kleinliche Anmerkungen in Sachen ORF)

Gestern kündigte ORF-Generaldirektor Wrabetz an, sich wiederum um die Funktion des ORF-Generaldirektors zu bewerben. Wirft man einen Blick auf die Reaktionen in den Presseaussendungen im OTS-Portal der APA, so könnte man meinen, eine politische Richtungswahl stehe an: innerhalb kurzer Zeit gab es Aussendungen der ÖVP-Bundesparteileitung, der FPÖ-Wien, des freiheitlichen Parlamentsklubs, des BZÖ-Parlamentsklubs, des SPÖ-Parlamentsklubs, des burgenländischen Landeshauptmanns und noch einmal des SPÖ-Parlamentsklubs. Durchgängig war von der "Wahl" zum ORF-Generaldirektor und/oder von der (Wieder-)Kandidatur Wrabetz' die Rede. Der Eindruck, es würde sich um eine politische "Wahl" handeln, verstärkt sich noch, wenn man die Berichterstattung auf orf.at verfolgt - siehe Screenshot:
Ich habe schon vor einigen Monaten (hier) dargelegt, weshalb ich den "Wahl"-Begriff im Zusammenhang mit der Bestellung des Generaldirektors - oder anderer Führungsfunktionen im ORF - für unzutreffend halte, und will das angesichts der aktuellen Diskussion neuerlich bekräftigen: so wie ORF-Informationsdirektor Oberhauser nicht "abgewählt" wurde (sondern gemäß § 21 Abs 1 Z 5 ORF-G vom Stiftungsrat auf Vorschlag des Generaldirektors abberufen), so wird auch der/die nächste ORF-Generaldirektor/in nicht gewählt werden, sondern (gemäß § 21 Abs 1 Z 2 ORF-G) vom Stiftungsrat bestellt. Es geht, wie ich schon geschrieben habe, nicht um eine Wahl im Sinne einer "interessengeleiteten Auswahl unter mehreren grundsätzlich gleichrangigen Bewerbern, sondern um die Bestellung der für die Exekutivfunktion am besten geeigneten Person" (zum Bestellungskriterium der fachlichen Eignung siehe § 27 Abs 2 ORF-G).

Zurückkommend auf die Berichterstattung auf ORF.at: die ÖVP stellt natürlich nicht zwölf Stiftungsratsmitglieder, sondern eines (Ing. Mag. Peter Koren, Ex-Ministersekretär und stv. Generalsekretär der Industriellenvereinigung), die SPÖ stellt zwei Mitglieder (Mag. Werner Muhm, Direktor der AK Wien, und Nikolaus Pelinka, MSc, ex-Ministersekretär und derzeit irgendwo in der ÖBB beschäftigt). Alle Stiftungsratsmitglieder - einschließlich der drei genannten, gemäß § 20 Abs 1 Z 1 ORF-G von der Bundesregierung auf Parteivorschlag hin bestellten - "sind bei der Ausübung ihrer Funktion im Österreichischen Rundfunk an keine Weisungen und Aufträge gebunden; sie haben ausschließlich die sich aus den Gesetzen und der Geschäftsordnung ergebenden Pflichten zu erfüllen" (§ 19 Abs 2 ORF-G) - und sie sind auch zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 19 Abs 3 ORF-G). Wenn dem Stiftungsrat nach der Ausschreibung im Sommer dann die Bewerbungen für die Funktion des Generaldirektos (der Generaldirektorin) vorliegen werden, dürfen die Stiftungsratsmitglieder daher mit niemandem außerhalb des Stiftungsrates über die Bewerbungen sprechen - auch nicht mit Klubobleuten, Mediensprechern, Ministern, Interessenvertretern etc. Natürlich gehe ich davon aus, dass sich die Stiftungsratsmitglieder an das Gesetz halten werden ... 

Verhaltenskodex
Nach Zeitungsberichten hat sich ORF-Generaldirektor Wrabetz mit dem Redakteursrat auf einen Verhaltenskodex für journalistische Tätigkeit geeinigt, wie er in § 4 Abs 8 ORF-G vorgesehen ist (auf derstandard.at im Wortlaut zu lesen). Noch immer nicht gibt es aber den seit nun schon fünf Jahren diskutierten Corporate Governance Kodex des ORF, der Verhaltensregeln für die Organmitglieder aufstellen sollte. Ein solcher Kodex war auch im Regierungsprogramm vorgesehen; dort hieß es: "Es soll ein Corporate Governance Kodex gelten, differenziert nach Organmitgliedern und MitarbeiterInnen." Nur der Verhaltenskodex für journalistische Tätigkeit hat den Weg in das ORF-Gesetz gefunden, aber das würde den Stiftungsrat nicht hindern, sich selbst einen Verhaltenskodex zumindest als Empfehlung für die eigenen Mitglieder zu geben.  

Jahresbericht
Letzte Woche hat der ORF auch den Jahresbericht für das Jahr 2010 (gemäß § 7 ORF-G, früher § 8) online gestellt. Wer will, kann dort nachlesen, wie der ORF die Erfüllung seiner Aufträge nachweist; auffällig ist die doch bedeutende Anzahl von Sendungen, die nur mit Beiträgen von dritter Seite zustandekommen (zB "Mei liabste Weis" oder verschiedene Dokus). Aber das Location Placement zieht sich ohnehin durchs Programm, und Deals mit Niederösterreich ermöglichen es auch, dass in einer Serie zu einem steirischen Pferdegestüt Niederösterreich "sehr prominent als zweiter Standort" vorkommt, "weil[!] wir auch da eine entsprechende Förderung bekommen haben", wie ORF-Generaldirektor Wrabetz kürzlich betont hat.

Im Jahresbericht des ORF ist nach dem Gesetz übrigens auch "eine Darstellung über die Anwendung und Einhaltung der durch das Qualitätssicherungssystem (§ 4a) vorgegebenen Kriterien und Verfahren bei der Gestaltung des Inhaltsangebots anzuschließen"; mir gefällt dabei besonders der letzte Absatz des Jahresberichts: "Kontinuierliche Adaptionen des Qualitätssicherungssystems reagieren auf neue und zusätzliche Anforderungen, die sich aus dem wissenschaftlichen Diskurs, vergleichbaren Qualitätskontrollmechanismen und den Forderungen von Publikum, Öffentlichkeit und ORF-Gremien ergeben." Alles klar?