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Monday, June 11, 2012

Medienvielfalt garantieren oder (bloß) achten? Noch eine Anmerkung zum Urteil Centro Europa 7 des EGMR

Zum Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 07.06.2012 im Fall Centro Europa 7 habe ich schon am Tag der Verkündung ausführlich geschrieben (hier). Der EGMR hat darin eine positive Verpflichtung der Konventionsstaaten angenommen, einen angemessenen Rechtsrahmen zur Gewährleistung effektiver Medienvielfalt zu schaffen. Einen Aspekt habe ich in meiner ersten Darstellung noch nicht angesprochen: die Frage nämlich, ob der EGMR in dieser Leitentscheidung zur Medienvielfalt über den Standard des Art 11 Abs 2 der  EU-Grundrechtecharta ("Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet") hinausgegangen ist.

Nicht dass ich missverstanden werde: der EGMR ist natürlich kein EU-Gericht und hat auch die Grundrechtecharta (GRC) nicht anzuwenden. Doch die GRC baut ganz wesentlich auf der EMRK auf, und soweit die GRC Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben sie "die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird" (Art 52 Abs 3 GRC). Art 11 GRC lautet:
Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.
(2) Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.
In den Erläuterungen, die gemäß Art 52 Abs 7 GRC  "von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen" sind, heißt es dazu: "Artikel 11 entspricht Artikel 10 EMRK". Zu Art 11 Abs 2 sagen die Erläuterungen darüber hinaus noch Folgendes (Verlinkung hinzugefügt):
"Absatz 2 dieses Artikels erläutert die Auswirkungen von Absatz 1 hinsichtlich der Freiheit der Medien. Er stützt sich insbesondere auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs bezüglich des Fernsehens, insbesondere in der Rechtssache C-288/89 (Urteil vom 25. Juli 1991, Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda u. a.; Slg. 1991, I-4007), und auf das Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten, das dem EGV und nunmehr den Verträgen beigefügt ist, sowie auf die Richtlinie 89/552/EWG des Rates (siehe insbesondere Erwägungsgrund 17)."
Eine Verpflichtung der Union oder - in Durchführung des Unionsrechts - der Mitgliedstaaten, Medienvielfalt tatsächlich zu garantieren, sollte demnach mit Art 11 Abs 2 GRC wohl kaum begründet werden. Immerhin war in einer Entwurfsfassung der Grundrechtecharta auch noch ausdrücklich davon die Rede, dass Freiheit und Pluralitä der Medien "gewährleistet" werden sollte, was dann auf mitgliedstaatlichen Druck hin auf "geachtet" abgeschwächt wurde (dafür gibt's auch eine juristisch argumentierende Begründung, nämlich dass die Union mangels einschlägiger Kompetenzgrundlagen die Vielfalt gar nicht garantieren könnte, dies sei Sache der Mitgliedstaaten; siehe zur Diskussion zB hier).

Dass sich eine positive Verpflichtung zur Gewährleistung - nicht bloß zur "Achtung" - von Medienvielfalt schon aus Art 11 Abs 1 GRC ergeben würde, dürfte man zum Zeitpunkt der Schaffung der GRC auch nicht angenommen haben, zumal sie sich damals auch noch nicht aus der Rechtsprechung des EGMR zu Art 10 EMRK ergab. Erst im Urteil Manole vom 17.09.2009 (im Blog dazu hier) hat der EGMR - allerdings fallbezogen nur im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks - ausdrücklich eine positive Pflicht des Staates angenommen, einen pluralistischen audiovisuellen Dienst zu garantieren: "Where the State decides to create a public broadcasting system, the domestic law and practice must guarantee that the system provides a pluralistic audiovisual service."

Und nun hat die Große Kammer des EGMR im Centro Europa 7-Urteil erstmals auch abseits des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems eine positive Verpflichtung des Staates im Hinblick auf Pluralismus in den Medien angenommen. Diese "Gewährleistungsverpflichtung" wird in den Absätzen 130 und 134 des Urteils formuliert; in Abs 156 wird darauf zusammenfassend verwiesen. Das Urteil betrifft audiovisuelle Medien, ob sich daraus die Verpflichtung zur Gewährleistung von Medienvielfalt auch für Printmedien ableiten lässt, scheint aus meiner Sicht offen; der Rückverweis in Abs. 156 enthält die Einschränkung auf audiovisuelle Medien nicht). Die relevanten Passagen des Urteils gebe ich unten in den vorliegenden englischen und französischen Sprachfassungen wörtlich wieder (der entscheidende Begriff ist "pluralism" bzw "pluralisme"; diese Begriffe werden auch in den englischen bzw französischen Sprachfassungen der GRC in deren Art 11 Abs 2 verwendet).

Wie schon in meinem ersten Blogpost zu diesem Urteil angemerkt, hat der EGMR sehr ausführlich "internationales Material" zitiert (darunter auch die ausdrücklich schon in ihrem Titel auf Art 11 Abs 2 GRC abstellende Entschließung des Europäischen Parlaments zu Gefahren des Rechts auf freie Meinungsäußerung, vor allem in Italien); Art 11 Abs 2 GRC erwähnt er aber in seinem Urteil nicht. Ein zusätzliches Argument für eine staatliche Pflicht, ein pluralistisches Mediensystem zu garantieren, ließe sich angesichts der vorsichtigen Formulierung in Art 11 Abs 2 GRC ("werden geachtet") daraus auch kaum ableiten.

Geht man nun aber davon aus, dass schon Art 11 Abs 1 GRC - der ja Art 10 EMRK entsprechen soll - die positive Verpflichtung beinhaltet, einen geeigneten Rahmen zur Gewährleistung effektiver Medienvielfalt zu schaffen (wenn man die Auslegung des Art 10 EMRK durch den EGMR zugrundelegt), dann scheint für den "vorsichtigeren" Art 11 Abs 2 GRC insofern kein Anwendungsbereich mehr zu bleiben.

Natürlich hätte die Union damit weiterhin nicht mehr Kompetenzen, als ihr in den Verträgen eingeräumt werden; ihre Möglichkeiten, im Bereich der Medienvielfalt tätig zu werden, bleiben also weiter beschränkt. Aber überall dort, wo sich ihre legislative und administrative Tätigkeit - etwa im Bereich der Dienstleistungsfreiheit, der Regulierung audiovisueller Medien und/oder elektronischer Kommunikationsnetze im Rahmen der Binnenmarktkompetenz, oder in der Wettbewerbspolitik - auf Medien auswirkt, wären sowohl Union als auch - in Durchführung von Unionsrecht - die Mitgliedstaaten verpflichtet, auch das Ziel der Schaffung und Wahrung von Medienvielfalt zu beachten.

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Hier nochmals zum Nachlesen die relevanten Passagen aus dem englischen Urteilstext sowie danach aus dem französischen Urteilstext:
130. In this connection, the Court observes that to ensure true pluralism in the audiovisual sector in a democratic society, it is not sufficient to provide for the existence of several channels or the theoretical possibility for potential operators to access the audiovisual market. It is necessary in addition to allow effective access to the market so as to guarantee diversity of overall programme content, reflecting as far as possible the variety of opinions encountered in the society at which the programmes are aimed.[...]
134. The Court observes that in such a sensitive sector as the audiovisual media, in addition to its negative duty of non-interference the State has a positive obligation to put in place an appropriate legislative and administrative framework to guarantee effective pluralism (see paragraph 130 above). [...]
156 [...] positive obligation to put in place an appropriate legislative and administrative framework to guarantee effective media pluralism (see paragraph 134 above).

130. A cet égard, la Cour observe que dans une société démocratique, il ne suffit pas, pour assurer un véritable pluralisme dans le secteur de l’audiovisuel, de prévoir l’existence de plusieurs chaînes ou la possibilité théorique pour des opérateurs potentiels d’accéder au marché de l’audiovisuel. Encore faut-il permettre un accès effectif à ce marché, de façon à assurer dans le contenu des programmes considérés dans leur ensemble une diversité qui reflète autant que possible la variété des courants d’opinion qui traversent la société à laquelle s’adressent ces programmes. [...]
134. La Cour souligne que, dans un secteur aussi sensible que celui des médias audiovisuels, au devoir négatif de non-ingérence s’ajoute pour l’Etat l’obligation positive de mettre en place un cadre législatif et administratif approprié pour garantir un pluralisme effectif (paragraphe 130 ci-dessus). [...]
156 [...] obligation positive de mettre en place un cadre législatif et administratif approprié pour garantir un pluralisme effectif dans les médias (paragraphe 134 ci-dessus).

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